Читать книгу KAISERSCHMARRN, RÖSCHTI UND ANDERE SCHMANKERL - Klaus Hübner - Страница 9
ОглавлениеUnerhörte Begebenheiten im Land der Pharaonen. Christoph Braendles Novelle über den Unterschied zwischen einem Engel
Christoph Braendle, 1953 geboren, ist der relativ seltene Fall eines dichtenden Schweizers aus Wien – beziehungsweise eines bemerkenswerten Wiener Schriftstellers Schweizer Herkunft. Seit 1987 lebt er an der Donau und schreibt Theaterstücke, Prosa, Essays, Reportagen und Artikel vielerlei Art, und weil er nicht nur einen genauen und eigentümlichen, sondern auch immer noch einen fremden Blick auf die österreichische Metropole hat, war er genau der Richtige, um zu der ungewöhnlich liebevoll gestalteten Buchreihe Picus Lesereisen den Wien-Band beizusteuern. Er heißt Liebe, Freud und schöner Tod und ist für poetisch gestimmte Wienliebhaber und Wienreisende ein sogenanntes Muss. Die Grenzen zwischen Tatsachen und Literatengarn allerdings muss der Leser schon selbst entdecken. Das gilt noch weit mehr für Braendles neuesten Lesereisen-Band mit dem literarisch ambitionierten Titel Der Unterschied zwischen einem Engel – Ägyptische Novelle. Wenn Engel reisen – nun gut; wenn sie aber, wie man hier schon nach den ersten Sätzen bemerkt, auch noch schreiben können, dann freut sich der Leser. Zu Recht. In diesem Falle erfährt er erst einmal viel über das Ägypten von heute – über seine faszinierende Millionenmetropole Kairo, über den Sinai, über Suez, Luxor und Alexandria, über den Nil, über die großen Wüsten und ihre geheimnisvollen Oasen. Aber auch über unerträgliche Abgaswolken über den Staus der Hauptstadt und eine nicht zu kontrollierende Bevölkerungsexplosion, über die reale Armut der meisten Ägypter und die vagen Zukunftshoffnungen junger Leute, über die Versprechungen und die Absurditäten des trotz mancher Risiken seit Jahren anhaltenden Touristenbooms. Und über unergründliche interkulturelle Begebenheiten auf Nilschiffen und Kamelrücken. Haben wir also einen nützlichen schmalen Reiseführer vor uns? Auch – und eben gerade nicht.
Womit wir beim Kern der Sache wären, nämlich bei der Literatur, die jüngst ein anderer Schweizer Autor, Markus Werner, um den Roman Der ägyptische Heinrich bereichert hat, eine schöne, aber streckenweise auch ein wenig zähe Ägyptenlektüre. »Zäh« oder »harzig« aber sind Attribute, die auf Christoph Braendles kurzweilige, partienweise sogar durchaus komische Novelle am allerwenigsten zutreffen. Sein Unterschied zwischen einem Engel ist ein erstaunlicher Prosatext, ein sprachlich geschliffenes, vor (Selbst-) Ironie berstendes, mit Zitaten und literarischen Anspielungen gespicktes und dabei entspannt und unangestrengt daherkommendes kleines Meisterstück aus der Werkstatt eines der Welt mit Liebe zugewandten Literaten der stilistischen Extraklasse. Das heißt für den Leser: Ein gewisses Interesse für Ägypten wäre keine ganz schlechte Voraussetzung für die Braendle-Lektüre, und dennoch darf man sich auch ohne engere Beziehung zu Eseln, Kamelen und Wüstensand auf diese Novelle freuen. Aber der Reihe nach.
Der Protagonist heißt Paul und ist ein Esel, in gewisser Hinsicht jedenfalls. Weil das so ist, wird er von seinem Chef, dem Doktor Renner, zu einem Kongress nach Kairo geschickt – dort sollen sich die Eselsforscher treffen, die berühmtesten Asinologen der Welt. Und er, der Nicht-Akademiker Paul, er darf dabei sein. »Kairo. Wie das klingt. Und wie es nachklingt, lockt und verführt … Ich hab’ eine Arbeit, sagt er, eine gute, liebe Frau. Obwohl, denkt er, die Sehnsucht, denkt Paul … Zum Kollegen Simatovic sagt er, man kann in Wien leben und trotzdem Wünsche haben.« Zehn Tage soll die Reise währen, für Unterkunft ist gesorgt, und der flugscheue Paul wird mächtig nervös. Aber kaum ist er auf ägyptischem Boden, kommt er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Kairo nimmt ihn gefangen. Seine Gastgeber erklären ihm die Stadt, in der ungefähr dreimal so viele Menschen leben wie in der gesamten Schweiz und in der der Wahnsinn das einzige Ordnungsmuster zu sein scheint, auf das Verlass ist. Und immer wieder taucht irgendein Esel auf, als schlecht behandeltes Alltagslasttier und zugleich als spätestens seit Bileam aus dem Buche Moses literarisch belastetes Dingsymbol. Prächtige Gebäude sind zu bestaunen, bemerkenswerte Kaffeehäuser ganz ohne Wiener Flair tun sich auf, Kamele kreuzen Pauls Wege, und dann die kleinen Hausboote auf dem imposanten Fluss – kurzum: Paul verliebt sich in seine neue Umgebung, der Rückflug wird auf unbestimmte Zeit verschoben, und Braendles romantisch gestimmter und dennoch ganz unsentimentaler Held zieht ins Gelobte Land, unterquert den Suezkanal, besucht das Katharinenkloster und besteigt den Berg Sinai. »Ich muss nur wissen, was der Unterschied zwischen einem Engel ist, denkt er im Traum, ich muss nur wissen, was der Unterschied zwischen einem Engel ist. Aber er kann sich beim besten Willen nicht erinnern.«
Der Erfinder dieses ungewöhnlichen Ägyptentouristen lässt kaum einen Topos der klassischen Reiseliteratur aus – aber er macht aus allen Topoi etwas, was Neues und Überraschendes zumeist. Etwa aus der schönen Vorstellung von der Wüste als einem Ort göttlicher Offenbarung zur Läuterung und Reinigung des inneren Menschen, die Uwe Lindemann kürzlich in einer umfangreichen Untersuchung näher erläutert hat (Die Wüste. Terra incognita – Erlebnis – Symbol. Eine Genealogie der abendländischen Wüstenvorstellungen in der Literatur von der Antike bis zur Gegenwart). Paul begegnet in der Wüste sowohl Tod und Ewigkeit – und, damit einhergehend, der von den Ägyptern auch konkret vorgelebten Relativität von Zeit – als auch dem blühenden Leben, das in seinem Fall Anna heißt, voll Liebreiz ist und den rasch verliebten Reisenden unter anderem christliche Demut lehrt. Dass es in der Oase Baharyya ein Hotel Alpenblick geben soll und einen merkwürdigen Schweizer Geschäftsmann mit dem Lieblingsspruch »S’Glück isch es Vögeli« – das sind zwei kleine Beispiele für Braendles bisweilen skurrile Prosaversatzstücke, die immer ihren unabweisbaren Sinn für das Textganze haben und bei aller Komik niemals als lediglich witzige Dichtergags daherkommen.
Paul schließt sich einer deutschen Reisegruppe an, die eine Kamelreise ins mehrere Hundert Kilometer entfernte und nahe der libyschen Grenze liegende Siwa plant, und wie er sowohl seinem Kamel als auch der holden Anna näherkommt, das erzählt Braendle derart gekonnt, witzig, bezaubernd und ergreifend, dass es manchem Leser durchaus Tränen in die Augen treiben könnte: »Der Rücken eines Kamels ist großartig für die Seele, sagt er, und ganz grässlich für den Arsch. Hirschtalg hilft, rät Anna und meint, sie habe genug.« Die Zeit verliert langsam ihr Gesicht, Pauls allerwerteste Schmerzen werden allmählich unerträglich, und seine Glückserlebnisse an Annas Seite werden es in gewissem Sinne ebenfalls.
Von ganz unaufgeregt erzählten unerhörten Begebenheiten ist die Rede, krude Touristenwirklichkeit, religiös-spirituelle Erfahrungen und eine überbordende dichterische Fantasie vermischen und verweben sich, bis die Kamele schließlich den Jeeps weichen müssen. »Die Wüste hat uns hergegeben, sagt Paul, aber wer weiß, ob wir noch die Gleichen sind?« Ohne Anna in El-Alamein und Alexandria, übers Fernsehen konfrontiert mit dem balkanischen Kriegsgeschehen des letzten Jahres, und ohne Anna in Luxor und auf dem Nil: Paul, dem Zauber dieses einzigartigen Ägypten längst erlegen, bleibt ein Liebender, und um Frieden, Liebe und Glück kreisen die Gedanken und Empfindungen, die ihn umtreiben. Am Ende steht eine Vision, die Paul in einem Brief an Doktor Renner so formuliert: »Man muss mit dem Herzen denken, dachte ich, oder mit der Leber, dem Magen, mit der Milz … Und dann dachte ich mit dem Herzen; und ich begriff« – das Weltbild der Pharaonen nämlich. Der Brief – und damit fast die ganze Novelle – endet mit der schlüssigen, wenn auch vielleicht größenwahnsinnigen Frage: »Wird mir ewiges Wissen beschieden sein, während Sie, Renner, nicht einmal den Unterschied zwischen einem Engel erkennen?«
Was immer man von Engeln hält – Braendles Novelle ist keineswegs nur ein schmales Ägyptenbuch, das für eine Handvoll Orientfans von Interesse wäre und ins übliche Reiseliteraturregal gehörte. Hier ist kein eifrig protokollierender Reisereporter am Werk, und für die wohlfeilen Insidertipps und Freizeitinfos sind andere Bücher zuständig. Dass Christoph Braendle seine nüchtern romantische Liebeserklärung an Ägypten – und weit darüber hinaus: an den fragilen Zauber irdischen Daseins überhaupt – in der genannten Buchreihe veröffentlicht, ist für die Picus Lesereisen ein unschätzbarer Gewinn. Für den Autor mag darin auch eine Gefahr liegen – die nämlich, als eminenter Prosadichter und Stilist von hohen Graden weiterhin zu wenig bekannt zu sein und zu wenig geschätzt zu werden. Und das hat dieser Schweizer aus Wien nicht verdient, gerade nach diesem eindrucksvollen kleinen Buch nicht. Man sollte es lesen. Oder wenigstens verschenken. Oder beides.
Christoph Braendle: Liebe, Freud und schöner Tod. Wiener Sonaten. Wien 1998: Picus Verlag. 131 S.
Christoph Braendle: Der Unterschied zwischen einem Engel – Ägyptische Novelle. Wien 2000: Picus Verlag. 129 S.