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8. Hennings Geschichten
ОглавлениеNatürlich war Fromm gespannt auf das Erscheinen der beiden Freundinnen am nächsten Morgen.
Hatten sie sich zusammengerauft? Ließen sie sich noch die Verstimmung vom letzten Abend anmerken?
Albern war das?
Mag sein, doch so viel passierte hier nicht, dass man die kleine Abwechslung nicht dankbar wahrgenommen hätte.
Er ging sogar fast eine halbe Stunde früher als gewöhnlich in den Speisesaal. Weil er heute besonders großen Hunger hätte, machte er sich vor.
Er nahm sogar in Kauf, auf das Frühstücksbuffet warten zu müssen, denn es war natürlich noch nicht aufgebaut.
Die Tür zur Küche öffnete sich, und der Küchenwagen, beladen mit Müslis, Milch, Marmeladen und Wurst, Brötchen und Brot wurde herein geschoben, hielt vor der langen Tafel, und dann begannen die Köchinnen damit, das Frühstücksbuffet herzurichten. Das geschah in ungeheurer Professionalität. Ruhig und präzis, wie nach einem unsichtbaren, aber sorgfältigen Plan.
Von beiden Seiten der Tafel konnte man sich vorarbeiten.
Ganz außen standen die Teller mit den Backwaren, drei Sorten Brötchen, leckeren weißen und gesunden hässlich gekörnten, die von ihm natürlich verschmäht wurden, Brot und Kuchenscheiben. Es folgten Butter und Margarine, Marmeladen und Honig. Fromms Betätigungsfeld waren die Aufschnittplatten mit verschiedenen Wurst- und Schinkensorten und mit Käse. Obst, Gemüse und Müslis bildeten den Abschluss, auf den er allerdings verzichtete.
Und wenn er dann die Armen betrachtete, die sich zum Buffet schleppten, dann konnte er ohne Schwierigkeit vorhersagen, was sie wählen würden: ein Vollkornbrötchen, ein Schächtelchen Margarine, eine Tomate, zwei Gurkenscheiben, ein Schälchen Müsli mit etwas Magermilch und zum Abschluss eine Banane, vielleicht auch eine Clementine. Aber die war schon schwer verdaulich. Sie würde einem den halben Tag schwer im Magen liegen.
Was hatten die Armen verbrochen, dass sie im Angesicht dieses Buffets sich so kasteiten?
Gerade dachte er darüber nach, da öffnete sich die Tür, und die ersten Hungrigen betraten den Speisesaal. Der Oberst mit seinem Gefolge, das er immer um sich scharte, steuerte zielstrebig die Tafel an, machte wohl gerade einen Scherz, worauf die Damen dankbar lachten.
Es folgten einige Eigenbrödler, die jede Form von Gesellschaft ablehnten und wie verbissen ihr Müsli selbst zusammenstellten, jede einzelne Rosine, jede Nuss genau abzählten und die Flocken genau dosierten, und die, die eigentlich nie auffielen, die Unscheinbaren, die grauen Mäuse, die, die froh waren, wenn man sie nicht beachtete und in Ruhe ließ.
Und dann kamen sie.
Aschgrau im Gesicht, betrat Emma Evers den Raum, schien ungeheure Mühe zu haben, ihre Füße über das Parkett zu heben, wurde von Anneliese Hohenstedt mehr geschoben, die sie wie am Abend zuvor am Arm hielt und sie zu ihrem Stuhl zu dirigieren versuchte.
Sie war ein Bild des Jammers, das über das Parkett schlurfte und, sich auf der Tischkante vorsichtig abstützend, auf ihrem Stuhl zusammensank. Dort blieb sie reglos sitzen, hielt ihre Hände gefaltet und sah vor sich auf den Tisch.
Nichts schien an sie heran zu dringen, nicht das leichte Geklapper, das einsetzte, als die ersten Bewohner sich am Buffet bedienten, nicht das Rücken der Stühle, auch nicht dass die Hohenstedt ihr den Teller, den sie für sie gefüllt hatte, fast auf die Hände knallte. Sie sah nicht einmal auf.
Die Hohenstedt schob ihn weiter, gegen ihre Hände. Mechanisch nahm sie sie vom Tisch, sah unendlich müde ihre Freundin an, bevor sie wieder in ihre reglose Starre versank.
Was war aus dieser Frau geworden?
Sicher, Fromm kannte sie kaum, die wenigen Male, die er mit ihr gesprochen hatte, kann man nicht ‚kennen’ nennen. Und er hatte auch wenig Lust verspürt, sie kennen zu lernen. Beide, sie und ihre Freundin, hatten etwas an sich, das ihn störte.
Doch jetzt tat sie ihm nur leid.
Heimlich, damit sie es nicht merkte, beobachtete er sie, vergaß fast das Essen, beugte sich zu Gustav Preuss, um ihn auf das bedauernswerte Bild aufmerksam zu machen, aß nur mal einen Bissen, um seine Tarnung nicht aufzugeben.
In Wirklichkeit sah er nur sie.
Gut eine Viertelstunde saßen die beiden Frauen am Frühstückstisch, hatte sich die Hohenstedt dreimal nachgeholt. Sie hatte es aufgegeben, ihrer Freundin weiter zuzureden, es hatte ja doch keinen Sinn, und die Erfolglosigkeit ihrer Bemühungen schien sie schließlich ärgerlich zu machen.
Akkurat faltete sie ihre Serviette und legte sie in ihre Serviettentasche, Frau Evers’ lag immer noch ungebraucht neben ihrem Teller.
„Komm!“
„Komm schon!“, wiederholte sie, als ihre Freundin nicht reagierte.
„Mein Gott, bist du hier angewachsen?“ Jetzt war Frau Hohenstedt wirklich ärgerlich und fasste Frau Evers unsanft am Oberarm, so dass die zusammenzuckte, sich mühsam aufrichtete und ihren Stuhl so abrupt hinter sich schob, dass
er fast umgefallen wäre.
Einen Augenblick wandten sich aller Augen den beiden zu, erschrocken, ungläubig.
Wie eine Gefangene schob Frau Hohenstedt ihre Freundin vor sich her, ohne jeden Anflug von Erbarmen.
Erst als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, begannen zögernd wieder die Gespräche, klapperten wieder Geschirr und Bestecke.
Als schließlich Anne und die anderen Schwestern und Pfleger den Speisesaal betraten, von Tisch zu Tisch gingen, den Alten freundlich in die Augen blickten, während sie fragten, ob sie Kaffee nachschenken dürften, da war der unerfreuliche Vorfall schon wieder vergessen.
Zufrieden genoss Fromm sein zweites Croissant, stippte den kleinen Rest in seinen Kaffee, wartete einen Augenblick, bis er sich voll gesogen hatte und steckte ihn erst dann in den Mund. Dabei hielt er die Augen geschlossen, was ihm den Genuss verstärkte, wie er behauptete.
„Darf ich Ihnen noch etwas bringen?“
Annes Stimme klang von weit her.
Und doch stand sie ganz dicht bei ihm. Er spürte die Nähe ihres Körpers, den leichten Luftzug, als sie sich bewegte.
Durch die halb geschlossenen Lider betrachte er sie, speicherte jede ihrer Bewegungen.
Er kannte diese katzenhaft geschmeidigen Bewegungen. Nicht erst hier in der Seniorenresidenz hatten sie ihn immer wieder fasziniert.
Vor unendlich vielen Jahren hatten sie ihn schon einmal verrückt gemacht, das wusste er, nur erinnern konnte er sich nicht, wann und wo das geschehen war.
In seinem Zimmer würde er Zeit finden, in seinen Erinnerungen zu kramen, die einzelnen Schnipsel zusammenzufügen, und vielleicht würde ihm dort einfallen, wo er diese Frau oder eine, die ihr zum Verwechseln ähnlich sah, schon einmal gesehen hatte.
Doch bereits im Aufzug zermarterte er sich das Gehirn, noch auf dem langen Gang fand er keine Antwort, auch nicht als er den Schlüssel in das Schloss schob.
Erst als er ihn umdrehte, es dieses leise Klicken gab, sah er sie plötzlich.
Fast sechzig Jahre zuvor.
Natürlich war sie es nicht, aber sie hatte genauso ausgesehen. Oder wenigstens sehr ähnlich. Und er war ihr damals verfallen, nach ganz kurzer Zeit, nach so kurzer Zeit, wie er es auch im Nachhinein nicht begriff.
Er war sechzehn, aufgewachsen in einem prüden, eher sehr prüden Elternhaus, hatte keinerlei Erfahrung.
Seine Freundin, die erste übrigens, war auch gerade sechzehn. Sie trafen sich am Nachmittag, nachdem sie ihre Schularbeiten gemacht hatten, gingen durch die Marsch, blieben auch mal stehen, nahmen sich in den Arm und küssten sich.
Aber das war es dann auch.
Spätestens zum Abendessen waren sie zu Hause.
Und dann kam Henning. Er erinnerte sich genau an seinen Namen.
Henning war ein Jahr älter als die anderen Klassenkameraden, hatte eine Ehrenrunde gedreht.
Und er hatte ungeheuer viel Erfahrung! Sagte er, und sie glaubten es ihm.
Es gab kein Mädchen in der Stadt, das er nicht klassifiziert hätte.
Die der Klasse eins und zwei hatte er alle flach gelegt.
Jedes Schamhaar konnte er beschreiben, jedes lustvolle Aufstöhnen konnte er so täuschend echt nachahmen, dass den anderen vor unerfüllter Lust fast der Atem wegblieb.
Für die blieben nur die Klassen drei und vier, die, die Henning nicht wollte, die er gerade noch als akzeptabel duldete.
Und die Abgelegten, deren Henning überdrüssig geworden war.
Wenn sich die Jungs im späten Frühjahr nach der Schule auf dem freien Platz an der ‚Hafenschänke’ am Ende der Hafenstraße trafen, um sich von einem der hier wartenden Bauern zum Rübenverziehen oder Kohlpflanzen zu seinen Feldern fahren zu lassen, dann warteten sie schon auf dem Anhänger vor Ungeduld auf seine Neuigkeiten.
Und bekamen riesengroße rote Ohren.
Was er erzählte, übertraf alles, was sie je gehört und gelesen hatten oder sich in ihren pubertierenden Gehirnen vorstellen konnten.
Das war Leben!
Das war die Wirklichkeit!
Das war die Erfüllung ihrer noch nicht einmal geahnten Wünsche!
Henning führte sie ein in das Leben der Erwachsenen, gab ihnen einen Einblick in die Libido der Frau – und des Mannes.
Und während sie Stunde um Stunde über die harte Ackerkrume krochen, links und rechts Büschel von Rübenpflänzchen packten und mit einem Ruck ausrissen, so dass nur eine einzige Pflanze, möglichst die stärkste von allen, stehen blieb, erzählte er.
Und sie klebten an seinem Mund.
Irgendwann hatten sie durchschaut, dass vieles erfunden war.
Aber was?
Und so glaubten sie schließlich doch alles. Es hätte ja wahr sein können.
Auch dass er in Hamburg eine Frau kannte, die er einmal in der Woche besuchte und die sich regelmäßig mit Cognac einrieb, bevor sie ihn empfing. Dass er den Cognac ablecken musste, bis sie nicht mehr roch und dass er fast betrunken davon geworden wäre, erzählte er.
Und dass es in Brunsbüttel eine Frau gab, die – wie man heute sagen würde – auf Jungen stand, glaubten sie und konnten sich nicht satt hören an Hennings Erzählungen, seinen Beschreibungen ihrer Vorlieben.
Nicht kleine Jungen mochte sie, ein bestimmtes Alter sollten sie schon haben, ihr Alter bevorzugte sie, sagte Henning, und sie wäre durchaus nicht kleinlich. Fünfzig D-Mark bezahlte sie für einen Nachmittag. Das war damals verdammt viel Geld. Fünfzig Stunden musste man dafür auf dem Acker rumrutschen.
Ob man sich auch mal daran beteiligen könnte, fragten sie ihn, mehr im Scherz.
Natürlich, antwortete er, ihm würde das sowieso langsam zu viel, die Hamburgerin und die Brunsbüttlerin, und dabei grinste er auf eine sehr eindeutige Art.
Zwei Tage später fuhr Alexander per Anhalter nach Brunsbüttel, ließ sich vor der Fähre absetzen und wartete.
Ein VW ‚L351 korallenrot’ würde vor dem kleinen Kiosk halten, einmal kurz hupen, und er sollte wie in Gedanken dorthin schlendern und einsteigen.
Sie kannten damals alle Modelle, auch die von Opel und Ford, aber natürlich am besten die von VW.
Und deshalb verwunderte ihn, dass er heute nicht mehr sagen konnte, ob dieser VW noch das ovale oder schon das eckige Heckfenster hatte. Er hätte es jetzt gerne gewusst, doch es fiel ihm beim besten Willen nicht ein.