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1. Gefangen

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Die erste Nacht in diesem Gefängnis!

Als er über den nachtdunklen Flur schlurfte, der nur von einem grässlichen grünlichen fluoreszierenden Licht erleuchtet wurde, befiel ihn wieder die Beklemmung, die er schon einmal verspürt hatte, vor ein paar Tagen oder Wochen, so genau wusste er es nicht mehr, als er in einem ihm unbekannten Zimmer aufwachte. In den Betten neben seinem lagen fremde Menschen, ordentlich aneinander gereiht.

Nachdem er sich so weit zurechtgefunden hatte, dass er vermuten konnte, er befände sich wohl in einem Krankenhaus oder wenigstens einer Krankenstation, zermarterte er sich sein Hirn darüber, wie er wohl hierher gekommen war, was der Grund seines Aufenthaltes war und – nicht weniger wichtig – in welchem Krankenhaus er sich überhaupt befand.

Er fischte nach der Klingel, die, wie er sehr wohl wusste, an jedem Krankenbett entweder von dem Galgen über dem Bett herunter baumelt oder an dem eisernen Nachtisch befestigt ist. Und während er mit seinem Arm vergeblich herumruderte, den ganzen Luftraum über und neben seinem Bett erkundete, ohne eine Klingel zu entdecken, befiel ihn eine ihm bisher unbekannte Beklemmung.

Er wollte aufstehen, fliehen aus diesem Käfig mit schnarchenden, röchelnden, rülpsenden und stinkenden Leibern, die aufgedunsen unter ihren Decken lagen oder zusammengekrümmt vor sich hin wimmerten.

Er wollte - wen auch immer - fragen, wie man dazu käme, diese Menschen, die sich nicht kannten, wie Vieh zusammenzupferchen, aber er hatte nicht die Kraft und wusste nicht, an wen er sich wenden konnte.

Er ließ noch einmal seinen Blick über seine Nachbarn gleiten, und ihm dämmerte,

man hatte ganz sicher gedacht, für die kurze Zeit des ihnen noch verbleibenden Lebens lohnte sich nicht ein besseres Zimmer. Vielleicht hätten sie auch nichts Besseres verdient oder bekämen nicht mit, was um sie herum geschah.

Vielleicht brauchte man auch die anderen Zimmer für Patienten, die den Luxus eines Zweibettzimmers noch zu schätzen wussten. Schließlich muss ein Krankenhaus auch scharf kalkulieren.

Und bei ihnen wurde eben scharf kalkuliert.

Noch bevor sich das Fenster in ein schwarzes Loch verwandelte, kam eine Schwester, warf einen sehr genauen Blick auf einen der Patienten, fühlte seinen Puls, checkte die Monitore, an die er angeschlossen war, schien noch nicht ganz zu glauben, dass die weiße Kurve auf dem grünen Hintergrund zu einer durchgezogenen Linie geschrumpft war, betätigte irgendeinen Schalter und kapitulierte.

Die gerade Linie hatte alle ihre Bemühungen überstanden, sie wieder in eine ausgefranste Kurve zu verwandeln.

Wohl auf ein geheimes Zeichen betraten zwei Ärzte das Krankenzimmer, fühlten ebenfalls den Puls, als hätten sie die Hoffnung, ein zweites Mal würde zu einem anderen Ergebnis führen.

Ein dezentes Nicken. Die Schwester wusste, was sie tun hatte, sie befreite den Patienten von den Apparaten und zog ihm das Laken über den Kopf.

Zwei kräftige Krankenpfleger schoben den Patienten auf den Flur, und während er irgendwo im Keller des Krankenhauses verschwand, wurde sein Bettstellplatz bereits wieder belegt.

Es sprach wenig dafür, dass er lange bleiben würde.

Nun war er weiß Gott niemand, auf dessen medizinische Kenntnisse man etwas geben konnte, aber jeder hier im Zimmer spürten diesen eigenartigen Geruch, den Todgeweihte ausströmen.

Die beiden Ärzte, die eben den Abtransport ihres Zimmergenossen veranlasst hatten, kehrten nach angemessener Zeit in das Zimmer zurück, traten an die Betten, sorgenvoll blickend, aber doch vorsichtig optimistisch: „Das wird schon wieder!“

Was er hatte, und warum er hier lag, wusste er immer noch nicht. Als er den Oberarzt, er vermutete, das war der bedeutender Aussehende von den beiden, fragen wollte, hatte der sich schon zur Tür gewandt und verließ das Zimmer mit wehendem Arztkittel, seinen Kollegen, die Schwester und eine Schwesternschülerin im Schlepp.

Es war schon merkwürdig.

Da liegt man in einem Zimmer zusammen mit jemandem, der gerade stirbt oder gestorben ist. Man bekommt es gar nicht mit, bemerkt nicht einmal, dass er vielleicht schon länger nicht stört, dass er nicht die gewohnten Geräusche von sich gibt, dass er anders riecht.

Und plötzlich erfährt man, er ist gerade gestorben.

Und da fällt es einem auf. Irgendetwas ist anders geworden. Man weiß nur nicht, was.

Und noch etwas wird einem plötzlich bewusst: Vielleicht ist man der Nächste.

Gerade in diesem Moment, in dem sich Alexander Fromm in seine Decke rollen wollte, alles um sich herum vergessen wollte, klopfte es, und sein Sohn trat ein. Müde sah er aus, müde, weil er sich Tag und Nacht Sorgen um ihn gemacht hätte, wie er fast vorwurfsvoll verkündete.

Was er inzwischen alles unternommen hätte, um seinem Vater das Leben zu erleichtern, von Pontius zu Pilatus wäre er gelaufen, hätte all seine Beziehungen spielen lassen, denn so könnte es mit ihm nicht weitergehen, das müsste er doch einsehen.

Alexander Fromm konnte sich nicht daran erinnern, seinen Sohn darum gebeten zu haben. Er hatte sich nie sonderlich um ihn gekümmert, allenfalls mal ein Anruf zu Weihnachten und zu Ostern. Seinen Geburtstag schien er ganz vergessen zu haben, jedenfalls hatte er von diesem Ereignis seit mehr als zwanzig Jahren keine Notiz genommen.

Jetzt also stand er da. Die Hände in den Manteltaschen, den Kragen hochgeschlagen, den Schal lässig um den Hals geschlungen, wie das im Augenblick Mode zu sein schien. Die Augenbrauen zusammengezogen, seine Lieblingszornesfalte auf der Stirn.

Der ganze Mann war ein einziger Vorwurf!

Alexander Fromm wollte seinen Sohn ignorieren. Es gab keinen Grund für seinen Besuch. Bisher war er ohne ihn ausgekommen. Eigentlich kannte er ihn überhaupt nicht.

Als seine Frau weggelaufen war, Monate vor seiner Geburt, und er irgendwann durch das Amtsgericht von seiner Existenz erfuhr, da hätte er ihn gerne als seinen Sohn begrüßt, obgleich er sich seiner Vaterschaft durchaus nicht sicher war. Trotz aller Zweifel hatte er nicht auf einem Vaterschaftstest bestanden, sondern hatte alle Verpflichtungen übernommen.

Dass er mit seinem Sohn nie richtig warm geworden war, lag ganz sicher nicht an ihm. Seine Ex hatte erfolgreich alles daran gesetzt, dass ihm das Sorgerecht entzogen wurde. Zweimal im Jahr durfte er Kontakt zu seinem Sohn aufnehmen, mehr nicht. Und entsprechend steif verliefen die Treffen, bis sie schließlich ganz unterblieben.

Später, als er nicht mehr unter der Fuchtel seiner Mutter stand, spätestens da hätte er sich ab und zu um seinen Vater kümmern können, es gab schließlich viel nachzuholen. Wenigstens mal eine Karte, einen Urlaubsgruß, ein Telefonat.

Aber nein!

Nicht einmal zu dessen Hochzeit war er geladen.

Trotzdem hatte er in dem besten Antiquitätengeschäft der Stadt ein Paar wunderschöne Girandolen erstanden, sie eigenhändig sorgfältig eingepackt und mit den besten Wünschen dem jungen Paar zugeschickt.

Nach ungefähr einem Monat erhielt er die Danksagung: eine unpersönliche gedruckte Karte, die auch als Dank für einen Kochtopf passend gewesen wäre.

All die folgenden Jahre hatte Fromm kaum etwas von seinem Sohn gehört.

Er war mit sich selbst beschäftigt. Seine verkorkste Ehe, die Scheidung, die berufliche und gesellschaftliche Karriere, schließlich der Umzug nach Berlin, das war alles viel wichtiger als sein Vater.

Fromm hatte sich damit arrangiert.

Was wollte er jetzt hier?

Was hatte Fromm getan, dass er ihn jetzt belästigte?

Er schloss die Augen.

„Du kannst hier nicht bleiben!“

Die Stimme seines Sohnes klang rau und kalt.

Unwillkürlich musste Fromm schmunzeln über so viel Dummheit.

Wer sagte ihm, dass er hier bleiben wollte?

Er hatte eine schöne Wohnung, alle Geschäfte, Ärzte und was man in seinem Alter sonst noch so braucht, in unmittelbarer Nähe.

Warum sollte er wohl hier bleiben wollen?

„Hör zu, ich habe mit Dr. Freise gesprochen. Am Samstag kannst du wahrscheinlich das Krankenhaus verlassen.“

Er war also im Krankenhaus! Hatte er sich irgendwie schon gedacht.

Gerade wollte er fragen, in welchem Krankenhaus er war und warum, da unterbrach sein Sohn seine Gedanken.

„Aber in deine Wohnung kannst du natürlich nicht wieder zurück!“

Da war er wieder, so ein Tiefschlag, wie er ihn von seinem Sohn eigentlich hätte erwarten müssen.

Er wollte lautstark protestieren, schließlich bestimmte er immer noch selbst, wo er wohnte, da unterbrach ihn sein Sohn und hörte nicht auf zu reden, bevor er ihm in seiner unbestechlichen Logik auseinandergesetzt hatte, dass er unmöglich in seine alte Wohnung zurückkehren könnte. Er könnte die Verantwortung nicht übernehmen.

Als ob er das je getan hätte und er ihn darum gebeten hätte!

So ein Schlaganfall könnte jederzeit wieder kommen, und dann läge er unter Umständen tagelang alleine in der Wohnung, bis …

Fromm hatte also einen Schlaganfall erlitten!

„Hörst du mir überhaupt zu?“

Sein Sohn schien ärgerlicher geworden zu sein.

Er stand von dem Bettrand auf, auf den er sich gesetzt hatte, da kein Stuhl frei war, wandte sich zum Fenster und sah einen Augenblick in die Dunkelheit, gerade kurz genug, um seinen Vater nicht wieder zu Worte kommen zu lassen.

„Ich habe dir ein Appartement in der“, er zog einen Zettel aus der Tasche, entfaltete ihn und warf einen Blick darauf, „in der ‚Weserresidenz’ besorgt. Du wirst von hier direkt dorthin entlassen.“

Fromm wollte etwas sagen, wollte protestieren, ihn fragen, wie er dazu käme, über seinen Kopf hinweg zu entscheiden, wollte ihm Unfreundlichkeiten an den Kopf werfen, ihn beschimpfen, doch er kam nicht dazu.

„Das ist alles besprochen“, fuhr er fort. „Einige Möbel, der Lehnstuhl, die Barockkommode und der kleine Sekretär, deine Wäsche, soweit sie noch anständig ist, und einige Erinnerungsstücke sind schon drüben. Bett und Schrank stellt das Haus. Die Bilder habe ich in einen großen Karton gepackt, sie stehen im Lager. Der Hausmeister wird dir beim Aufhängen helfen.“

Er holte Luft, und Fromm nutzte die unerwartete Pause.

„Ich denke nicht daran, in dieses … - wie heißt es noch mal? – ist ja auch egal, in dieses Altersheim zu ziehen!“

Endlich hatte er es geschafft, hatte ihm seinen Willen unmissverständlich mitgeteilt.

Ein für allemal, er bestimmte selbst über sein Leben! Und wenn er in der Wohnung verrottete, war das allein seine Angelegenheit!

Ein süffisantes Lächeln umspielte die Lippen seines Sohnes.

Er gab sich noch nicht geschlagen. Er hatte noch einen Trumpf.

„Willst du auf der Straße sitzen?“, fragte er, und nach einer Weile, während derer er seinen Vater von der Seite beobachtete, setzte er fort: „Deine Wohnung ist nämlich gekündigt und ausgeräumt.“

Alexander Fromm hatte schon von ähnlichen Fällen gehört, hatte sie aber nicht ganz ernst genommen, denn das konnte ja nicht passieren, und wenn doch, dann musste schon Gravierendes vorgefallen sein. Er jedenfalls – da war er sich sicher – würde sich mit Händen und Füßen dagegen wehren. Man würde gar nicht erst wagen, ihn zu bevormunden.

Und nun offenbarte sein Sohn ihm so ganz nebenbei, was er für ihn geplant hatte.

Alexander Fromm hatte das Gefühl, in einem Aufzug zu sitzen, der in rasender Geschwindigkeit abwärts fuhr. Seine Beine wurden ihm fortgezogen, im Kopf rauschte es, und obgleich er nichts gegessen hatte, meinte er sich übergeben zu müssen.

Er musste wohl recht entgeistert ausgesehen haben, denn sein Sohn lachte.

„Siehst du, du hast gar keine andere Wahl. Ich wusste, was das Beste für dich ist, und habe es getan.

Also, du ziehst von hier direkt in die Residenz.“

Er zog einen bunten Prospekt hervor und legte ihn achtlos auf die Bettdecke.

„Du kannst dich ja schon mal vertraut machen. Du wirst sehen, es ist wie im Paradies.“

Er knöpfte seinen Mantel zu, nickte seinem Vater knapp zu und ging zur Tür, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Es gab für ihn keinen Grund, Liebe oder auch nur Verbundenheit zu heucheln.

Dass er trotzdem dieses sündhaft teure Heim gewählt hatte, war nur seiner eigenen gesellschaftlichen Stellung geschuldet.

Was hätten seine Bekannten und Kollegen von ihm gedacht, hätte er seinen Vater in irgendeinem Heim untergebracht!

Nein, es musste schon ein besonderes sein!

Wie im Paradies

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