Читать книгу Wie im Paradies - Klaus Melcher - Страница 8
6. Alles ist weg
ОглавлениеStolz wie ein Spanier betrat er den Kiosk, gerade rechtzeitig, dass die grässlichen Weiber von gestern noch dort waren.
Ihre hervorquellenden Putenaugen konnten kaum verbergen, wie sie sich auf seinen neuerlichen Misserfolg freuten, wie sie seine Blamage herbeisehnten. Wispernd und hechelnd wuselten sie durch die Regale. Unerträglich lang schien ihnen die Zeit des Wartens.
Fromm ließ sich Zeit beim Betrachten der Auslage.
Das war natürlich Quatsch, denn er wusste genau, was er wollte und wo es stand. Schließlich hatte er es gestern schon ausgewählt und nur wieder zurückgestellt, als er es nicht bezahlen konnte. Er brauchte es nur zu greifen, doch er wog jede Flasche in der Hand, betrachtete das Etikett, als hätte er es zum ersten Mal gesehen, nahm die Brille ab, als wäre er weitsichtig – oder kurzsichtig? - zögerte noch einen Augenblick und nahm die Flasche schließlich doch.
Die Weiber verharrten in ihrer Ecke, beobachteten ihn, tuschelten.
Ekelhaft!
Betont langsam, wie es eigentlich gar nicht seine Art war, zog er seine Karte hervor.
„Die richtige kommt in den nächsten Tagen. Ich denke, die tut es im Augenblick auch.“
„Natürlich, selbstverständlich“, beeilte sich die Kioske zu versichern.
Gerne hätte er seinen Triumph voll ausgekostet, doch das hätte zu viel Aufmerksamkeit für die Schnepfen bedeutet.
Sie konnte man nur übergehen. Mit so einem nachlässigen Blick voller Verachtung streifen, wie er ihn fast perfekt beherrschte.
Seitdem er seine Notfallkarte hatte - nicht früher, denn da war er noch sehr, sehr klein und fühlte sich entsetzlich elend, so ohne Geld -, hatte er diesen Gesichtsausdruck geübt. Schon auf der Rückfahrt im Taxi.
Der Fahrer beobachtete ihn im Rückspiegel, konnte sich kaum auf die Straße konzentrieren. Aber das kümmerte Fromm nicht. Sollte er sich doch denken, was er wollte! Er musste jedenfalls mit seinem Programm fertig sein bis zu seinem Einkauf.
Als er, beladen mit der Einkaufstüte, auf seinen Flur trat, hörte er schon von weitem weibliches Gejammer.
Inmitten einer Gruppe von etwa drei oder vier Frauen stand Frau Evers, eine achtzigjährige ehemalige Lehrerin, die ihr Zimmer auf der gegenüber liegenden Seite des Ganges hatte.
Fromm hatte sich bisher wenig um sie gekümmert, „guten Tag“ war eigentlich alles, was er zu ihr in all der Zeit gesagt hatte.
Warum er sie nicht mochte, konnte er nicht sagen, sie war ihm einfach unangenehm mit ihrer weichen, fast schleimigen Art zu sprechen und sich zu bewegen.
Heute war sie anders. Alles Weiche und Weinerliche war verschwunden.
Emma Evers war böse.
Wie eine Furie zeterte sie, rief nach der Hausleitung, schimpfte, weil sie nicht sofort kam, versperrte dem Pfleger den Weg in ihr Zimmer, als er sie beruhigen und wieder hineinbringen wollte.
Fromms Bedarf an Aufregungen war für heute gedeckt, und er verließ die Ansammlung, die sich immer noch nicht beruhigt hatte, und verschwand in seinem Zimmer.
Endlich!
Endlich Ruhe!
Zwar drang die eine oder andere Stimme immer noch zu ihm, doch sie war weit entfernt, wie in Watte eingepackt.
Ein wenig Beschäftigung, das Knistern der Tüte, und er nahm sie nicht einmal mehr wahr.
Umso erstaunter war er, als er wieder auf den Flur trat, um zum Speisesaal zu gehen.
Jetzt stand Frau Evers nicht mehr inmitten ihrer Freundinnen, lamentierte auch nicht mehr, sie saß, an die Wand gelehnt, auf einem Hocker. Ihr zur Seite stand Anneliese Hohenstedt, die noch um einiges unangenehmer war als die Evers, und tupfte deren Gesicht mit einem feuchten Tuch ab und redete beruhigend auf sie ein.
„Bist du denn ganz sicher, dass was fehlt?“, fragte sie, und schon wieder bekam die Evers einen hysterischen Anfall. Ihr Gesicht verkrampfte sich zu einer Maske, wie man sie von der Hexe im Kasperletheater kennt, dick traten die Adern hervor, die Falten auf ihrer Stirn wurden so weit zusammen gezogen, dass schon zu befürchten stand, sie würden erstarren.
„Was denkst du denn? Meinst du ich bin verrückt?“, zeterte die Evers wieder los.
Es musste etwas wirklich Ernsthaftes passiert sein.
Oder dieser Weiberhaufen war tatsächlich verrückt geworden. Die klebten sowieso ständig zusammen, die Hohenstedt und die Evers, betüddelten und umsorgten sich ohne Unterlass, horchten, ob der anderen irgendetwas fehlen könnte, schleppten Tabletten und Wässerchen herbei, wuchsen über sich hinaus in ihrer aufopfernden Pflege.
Plötzlich, wie auf ein geheimes Kommando, drehten sich die Köpfe der Frauen um. Ganz hinten, am Ende des Ganges, direkt vor dem großen Fenster, erschien ein dunkler Punkt, der rasch größer wurde.
Tackernd kam das graue Kostüm näher, blieb vor der Gruppe stehen.
„Was ist hier los?“, fragte sie und schien selbst über ihre brüske Stimme erschrocken.
Sie, die immer um Sanftheit bemüht war, die jedem Heimbewohner das Gefühl geben wollte, ein besonders geliebtes Familienmitglied zu sein, hatte sich einen Augenblick vergessen. Da half auch nicht, dass sie gleich wieder ein honigsüßes Lächeln aufsetzte und geradezu säuselte: „Ich hoffe doch, es ist nichts Ernstes.“
Der ständig gepflegte und polierte Lack der Milde hatte einen Kratzer bekommen, einen hässlichen, nicht übersehbaren Kratzer.
Noch hatte niemand ihr geantwortet, doch sie erkannte sofort, das Problem war Frau Evers – und natürlich ihre Busenfreundin, die Frau Hohenstedt.
Obgleich ihr durchaus nicht danach zumute war, bezwang sie sich und beugte sich zu der Evers hinab, legte ihr besänftigend, fast liebevoll die Hand auf die Schulter und versuchte ihr beim Aufstehen zu helfen und sie in ihr Zimmer zu führen.
„Nein! Da bekommen mich keine zehn Pferde hinein!“, protestierte Frau Evers und klammerte sich an ihrem Hocker fest.
„Bitte, Frau Evers.“
Die Stimme des grauen Kostüms war wieder gewohnt sanft.
„Man hat bei ihr eingebrochen“, erklärte eine der versammelten Frauen.
„Um Gottes Willen, nein!“
Das Kostüm konnte es nicht fassen und stieß die angelehnte Tür auf.
Nach Einbruch sah das Appartement nicht aus. Der schmale Flur mit der Kitchenette war identisch mit allen anderen, vielleicht ein klein wenig ordentlicher, die Schubladen und Türen der Schränke waren allesamt geschlossen.
Die Frauen folgten dem grauen Kostüm.
Auch im Wohnzimmer deutete nichts auf einen Einbruch hin. Nichts war durchwühlt, alles lag, wie es schien, an seinem Platz.
Frau Evers arbeitete sich durch die Frauentraube.
„Das ganze Geld ist weg“, jammerte sie, „alles ist weg!“
Wo sie es denn aufbewahrt hätte, wollte das Kostüm wissen.
„Na hier im Zimmer, wo sonst?“
Frau Evers beschrieb mit ihrem Arm einen großen Bogen, der das ganze Zimmer einschloss.
„Und wo genauer? In einem Schrank oder wo?“
Frau Evers sah das Kostüm erstaunt an. Natürlich hätte sie ihr Geld in einer Kassette verwahrt, und die hatte immer hier gestanden, und jetzt wäre sie nicht mehr da.
Fromm war die Sache langweilig geworden, und er schob sich langsam rückwärts durch die Mitbewohner, die inzwischen den ganzen Raum füllten.
Er glaubte nicht an einen Diebstahl, schon gar nicht an einen Einbruch. Die Tür war unversehrt, das sah man auf den ersten Blick, und sicher war das auch nicht dem Kostüm entgangen.
Nichts im Zimmer deutete darauf hin, dass es durchsucht worden war. Blieb nur die Möglichkeit, dass der Dieb die offen herumstehende Kassette mitgenommen hatte, doch was sollte er damit?
Hier besaß kaum jemand Bargeld. Man brauchte es nur außerhalb des Hauses, wenn man mal ins Café im Dorf oder nach Hameln fuhr.
Noch bei und nach dem Abendessen beschäftigte der angebliche Diebstahl die Gemüter.
Auch wenn niemand ernsthaft daran glaubte, der Verdacht war erst einmal da, und er betraf jeden. Jeder der Bewohner und vom Personal konnte in das Appartement eingedrungen sein und die Kassette an sich genommen haben.
Auch wenn sie nur wenige Euros enthielt, Diebstahl blieb Diebstahl, und es war nicht angenehm, mit einem Dieb unter demselben Dach zu leben.
Überall wurde getuschelt. Selbst die, die sich immer zurückhielten, die verächtlich auf die Klatschtanten und Stammtischredner herabsahen, einen unsichtbaren, aber umso spürbaren und unüberwindlichen Wall um sie zogen, wurden von dem Virus infiziert.
Nicht, dass die bisherigen Grenzen zwischen den verschiedenen Gruppen aufgehoben worden waren und sie sich plötzlich an dem allgemeinen Getratsche beteiligten. Man blieb auch weiterhin unter sich, aber man diskutierte auf höherem Niveau, riet zur Besonnenheit, auch wenn man das Problem sehr ernst nahm.
Wenn jemand sich näherte, der nicht dazu gehörte, sprach man – man könnte fast sagen - schulmeisterlich deutlich und belehrend, so als wollte man dem Eindringling eine Extralektion erteilen, ohne sich allerdings an ihn zu richten. Und der hatte das Empfinden, durch einen außergewöhnlichen Glücksfall Gesprächsbrocken oder mehr noch, wichtige Gedanken der ‚Weisen’ aufgeschnappt zu haben, die er dann auch gleich weiter trug.
So bildeten sich durch diesen dummen Vorfall vier Gruppen, die sich argwöhnisch beobachteten und um einander herumstrichen.
Da waren zum einen die Klatschtanten, eine Gruppe von etwa sieben bis zehn Frauen, die sich um Frau Evers scharten, immer wieder deren fürchterliche Erlebnisse durchhechelten und überlegten, wer alles für den inzwischen brutalen Überfall infrage kam.
Natürlich hatte man bald die ersten Verdächtigen gefunden, wagte aber nicht offen die Namen auszusprechen, sondern beschränkte sich auf Andeutungen. Ein Wort hier, ein weiteres dort hingeworfen, eine scheinbar harmlose Frage gestellt, reichten. Wer es hörte, würde sich seinen Reim darauf machen können.
Und dann gab es die Stammtischredner, allesamt überzeugte Anhänger der „Aktionsgemeinschaft für Deutschland“, die für jedes Problem die einfachsten Lösungen gefunden hatten. Sie würden den Staat retten, wenn man sie nur ließe oder wenigstens auf sie hören würde. Sie schlugen mit der Faust auf den Tisch, dass der Schaum aus dem Bierglas schwappte, steckten die Köpfe wie Verschworene zusammen, und ab und zu hörte man ein „Richtig!“ oder „Sage ich doch!“ und „Früher hätte man ganz anders durchgegriffen!“
Meistens war man sich einig und begoss die Zustimmung mit einem kräftigen Schluck Bier.
Dann waren da die, die sich aus allem heraushielten.
Sie wollten nur ihre Ruhe haben, hielten nichts von Klatsch und Tratsch, auch nichts von den Biertischgesprächen. Sie zogen sich nach dem Essen in ihre Zimmer zurück oder gingen im Park spazieren. Weg, weit weg war wohl ihr vordringlicher Wunsch.
Sie hielten sich zurück, äußerten keine Vermutung zur Täterschaft.
Auch wenn sie diese ganze Angelegenheit für reichlich viel heiße Luft hielten und eigentlich meinten, darüber nur lachen zu können, hüteten sie sich doch, es öffentlich zu sagen. Womöglich hätte man sie gar selbst der Täterschaft verdächtigt.
Und das wollten sie schließlich nicht riskieren.
Die letzte Gruppe waren die so genannten ‚Weisen’. Sie war so heterogen, wie eine Gruppe es nur sein konnte, um noch als Gruppe bezeichnet zu werden. In ihr trafen die Bewohner der unterschiedlichsten Bildung und ehemaligen Berufe zusammen.
Normalerweise waren sie Individualisten, die sich spontan in immer wieder wechselnden Gruppen zusammenfanden, wenn es besonderen Gesprächsstoff gab.
Sie diskutierten kontrovers bis tief in die Nacht, auch konnte mal ein Teilnehmer der Runde ärgerlich das Lesezimmer verlassen, aber man machte es sich nicht einfach, seinen Standpunkt zu finden.
Das Einzige, was sie grundsätzlich einte, war die Ablehnung von Vorurteilen und Verallgemeinerung.