Читать книгу Wie im Paradies - Klaus Melcher - Страница 6
4. Das Chamäleon
ОглавлениеEr wusste, es würde wiederkommen, dieses Gefühl des Abgeschobenseins, des Überflüssigen, des Wertlosen. Fast wie Müll kam er sich auf einmal vor, als er in seinem Zimmer war und sich bettfertig machte.
Zwar schaffte er das alles allein, brauchte keine Hilfe, weder beim Ausziehen noch bei den anderen Verrichtungen, aber plötzlich stand das alles wie ein Berg vor ihm.
Hier brauchte er sich keine Sorgen zu machen, ein kurzes Ziehen an einer der vielen Strippen reichte, und eine Schwester oder ein Pfleger würde sofort kommen und ihm helfen. Aber er wollte keine Hilfe!
Sein Sohn hätte darauf sehr großen Wert gelegt, antwortete das graue Kostüm, als Fromm nachfragte, warum sein Sohn dieses Haus gewählt hätte.
„Hat er es Ihnen nicht gesagt?“, fragte sie erstaunt, „fast alle Angehörigen wählen unser Haus wegen der vorbildlichen Betreuung. Wir sind mehrfach zertifiziert.“
Ob er – etwa – etwas auszusetzen hätte, fügte sie hinzu, und ihre Stimme klang leicht feindselig.
Wenn Fromm ehrlich war, er hätte in seiner Wohnung nicht mehr bleiben können. Zwar hätte er sich das Leben erleichtern können, hätte eine Schwester von einem sozialen Dienst kommen lassen können, die nach ihm sah, ihn mit dem Nötigsten versorgte, könnte sich das Essen kommen lassen, könnte einen Schüler damit beauftragen, für ihn einzukaufen, wenn er die wenigen Schritte nicht mehr selbst laufen konnte. Er könnte sich auch einen Pieper um den Hals hängen, mit dem er jederzeit den Notdienst erreichen würde.
Aber war er damit nicht noch abhängiger?
Er lag auf dem Bett, halb ausgezogen, zu mehr hatte die Kraft plötzlich nicht gereicht. Er hätte die Strippe ausprobieren können, die auch an der Wand seines Bettes herunterhing, doch er tat es nicht.
Warum sollte er läuten?
Um sich und dem Personal zu zeigen: Da ist wieder ein Gebrechlicher, der Hilfe braucht?
Das wenigstens wollte er sich noch möglichst lange bewahren, das Gefühl, sich noch selbst steuern zu können.
Zwar konnte er sich nicht an seinen Aufenthalt im Krankenhaus erinnern, doch dass er total auf fremde Hilfe angewiesen war, das war ihm schon klar. Und dieses Bewusstsein war fürchterlich.
Gustav Preuss hatte es geschafft.
Zwar konnte auch er nicht mehr alles leisten, was er wollte, war auch er auf Hilfe angewiesen, vielleicht nicht so sehr wie Fromm oder andere es waren, aber er hatte eine Möglichkeit gefunden, sich über die anderen zu erheben, ihnen zu zeigen, ich bin nicht auf euch angewiesen, ich packe euch!
Dieser simple Kuchentrick, an jedem Nachmittag exakt um 15.33 Uhr vorgeführt, hatte ihn aus seiner Abhängigkeit befreit. Nicht nur, dass er das größte Kuchenstück ergatterte!
Das war nicht der Hauptgrund, auch dass er sein Reaktionsvermögen schulte, sicher nicht, selbst wenn er es behauptete.
Nein, er triumphierte über all die anderen, wenn seine Hand vorschoss und ein bestimmtes Stück Kuchen griff und auf seinen Teller legte.
Dann wusste jeder: Ihm war keiner gewachsen.
Später gewann Fromm allerdings den Eindruck, die Küche gab auf ihren Teller immer ein etwas größeres Kuchenstück, nur um seine Reaktion zu testen oder zu schulen.
Aber das konnte natürlich Einbildung sein, vielleicht auch ein wenig Neid, weil Preuss bevorzugt wurde.
Einmal nur hatte er sich verschätzt und ein falsches Stück gegriffen.
Seine Hand schnellte nicht langsamer vor als gewöhnlich, griff zielsicher wie immer das angepeilte Kuchenstück, ähnlich einem Chamäleon, das mit seiner klebrigen Zunge seine Beute fängt, aber es war ein dünneres Stück als all die anderen. Irgendjemand hatte es manipuliert, und dafür kam eigentlich nur jemand in der Küche in Frage.
Unter dem Kuchen lag, exakt in seiner Größe, ein Stück Karton, vielleicht nur fünf Millimeter stark. Aber das reichte.
Preuss brauchte Wochen, um die Schmach zu verwinden, erst nur die Ungewissheit, wer ihm diesen teuflischen Streich gespielt hatte, dann die vor Schadenfreude blitzenden Augen vieler seiner Mitbewohner, das leise Getuschel, wenn er die Platte fixierte, und schließlich der Applaus, der in der ersten Zeit losbrandete, wenn er seinen Kuchen gegriffen hatte.
Inzwischen haben sich alle beruhigt.
Darauf, den Betrüger zu ermitteln, verzichtete man. Es war niemand ernsthaft geschädigt, und selbst Preuss bestand nach längerem Überlegen nicht darauf, auch nicht darauf, dass sich der Schuldige bei ihm entschuldigte.
Trotzdem blieb ein leichter Schatten zurück.
Zwar spielte Preuss sein Spiel nach wie vor, doch mit weniger Freude. Es fehlte das Blitzen in seinen Augen, und manchem schien sogar, dass er seine Hand nur mit einiger Verzögerung vorschnellen ließ, als misstraute er seinem ersten Eindruck.
Es gab Tage, an denen ließ er sich zur Kaffeezeit gar nicht im Speisesaal blicken.
Als der Platz neben seinem das erste Mal nicht besetzt war, dachte Fromm sich nichts dabei. Warum sollte Preuss nicht auch mal fehlen? Vielleicht war er vom Mittagessen noch zu satt, obgleich er heute nicht besonders viel gegessen hatte. Oder er hatte einfach verschlafen.
Fromm wusste ja nicht, dass er in den annähernd drei Jahren, die Preuss schon hier war, noch nicht einmal die Kaffeetafel versäumt hatte.
Als er ein paar Tage später wieder nicht zum Kaffeetrinken erschien, wunderte sich, Fromm, unternahm aber nichts. Zum Abendessen war Preuss ja wieder da.
Am dritten Tag machte Fromm sich ernsthafte Sorgen. Was lässt jemanden mit einem Brauch brechen, der wichtiger Bestandteil seines Lebens ist?
Er suchte ihn in seinem Appartement auf.
Als er auf sein Klopfen nur ein leises Gemurmel hörte, interpretierte er es als „Herein!“ und öffnete die Tür.
Preuss saß in einer Art Liegesessel, der vor seinem laufenden Fernsehapparat stand, und schlief. Den Ton hatte er abgeschaltet, sein Kopf war etwas vornüber geneigt, der Mund war albern geöffnet, und ihm entströmten regelmäßige, tiefe Schnarchtöne.
Obgleich Fromm es kaum für möglich hielt, musste er ihn geweckt haben, denn Preuss schreckte hoch, riss die Augen auf, und sein Schnarchen brach augenblicklich ab.
„Entschuldigung“, stotterte Fromm, „ich hatte angeklopft und hatte gemeint, Sie hätten ‚Herein!’ gerufen.“
Er wollte sich möglichst schnell und diskret zurückziehen, aber Preuss rief ihn zurück.
„Ich habe mir Sorgen gemacht“, sagte Fromm und nahm den angebotenen Platz auf dem kleinen Sofa gerne an. Es befand sich an der Stelle, an der in seinem Zimmer die Kommode stand, und man hatte von hier einen wirklich schönen Blick in den winterlichen Park und über die angrenzenden Felder mit ihren weiß gepuderten Wegen.
„Sie haben es schön hier“, sagte Fromm und sah sich erst jetzt in Preuss’ Appartement um.
Es hatte den gleichen Zuschnitt wie Fromms, auch die hauseigene Möblierung unterschied sich nicht von seiner. Der einzige Unterschied waren die Sitzecke und der doppelt so große Tisch an Stelle seines Sekretärs.
„Entschuldigen Sie die Unordnung, aber ich war auf Besuch nicht vorbereitet“, sagte Preuss und zeigte auf die rechte Tischhälfte, auf der tatsächlich ein wildes Durcheinander von Notebook, Büchern, Zetteln und Schreibstiften herrschte. Und zwischen allem stand eine leere Tasse mit altem Kaffeerand und dicker Zuckerkruste. Sie stammte nicht von heute, das sah man auf einen Blick.
„Sie sind heute nicht zum Kaffee gekommen. Geht es Ihnen nicht gut?“, begründete Fromm seinen Besuch.
„Doch, doch. Aber ich habe keine rechte Freude mehr daran.“
Er schien traurig.
„Wissen Sie, das klingt albern, das weiß ich, aber dieser Vorfall damals - Sie wissen? – hat mir den Spaß verdorben.“
Er machte eine Pause, als überlegte er, wie weit er seinen Besucher einweihen sollte.
Er stand auf, nahm die Kaffeetasse vom Tisch und ging mit ihr in die Kitchenette.
Einen Augenblick hantierte er dort. Klapperte mit Geschirr, setzte Wasser zum Kochen auf, und als es blubberte, goss er es in eine French Press, die er schon vorbereitet zu haben schien.
„Trinken Sie ihn mit Milch und Zucker?“ fragte er, als er die beiden Tassen auf den Tisch stellte.
Die Frage erübrigte sich eigentlich, lange genug waren sie schon Tischnachbarn. Er stellte trotzdem beides auf den Tisch.
Nachdem er den Kaffee durchgedrückt hatte, so dass der feste Kaffeesatz am Boden klebte, schenkte er ein.
Der Kaffee war köstlich! Nicht zu vergleichen mit der Brühe, die sie hier bekamen.
„Der kommt aus Costa Rica“, sagte er leise, fast bescheiden, als er sah, wie sein Gast die ersten Schlucke genoss.
„Und woher bekommt man den?“
Preuss lachte.
„Nicht aus dem Supermarkt!
Früher, als ich noch selber Reisen machen konnte, ich meine, so richtige, weite, da habe ich ihn mitgebracht. Später meine Kinder, aber dann haben sie nur Länder ‚gemacht’. So nannten sie es tatsächlich. Sie reisten nicht mehr nach Costa Rica oder Venezuela, sie machten diese Länder. Und noch später lagen sie nur noch an den Stränden, Domrep, Malediven und wo man sonst in der Sonne unter Palmen für viel Geld braten kann. Da gab es natürlich nicht diesen Kaffee.
Jetzt bekommen ich ihn von einem Kaffeekontor in Hamburg.“
Er machte eine Pause, nahm wieder einen kleinen Schluck und schloss genießerisch die Augen.
„Ist der nicht himmlisch?“, fragte er noch ganz verzückt. „Das ist mein kleines Extra. Immer nur eine Tasse am Tag. Und dazu gibt es auch nie Kekse oder Kuchen. Den muss man so genießen.“
Zwar fand Fromm, dass Preuss etwas viel Theater um diesen Kaffee machte, schon die ganze Prozedur wäre ihm zu aufwändig, doch wenn er sie als Teil des Genusses betrachtete, war sie den Zeitaufwand sicher wert. Und Zeit hatten sie alle hier im Überfluss.
Heimlich sah Fromm auf die Uhr.
Er wollte nicht unhöflich sein. Er selbst hasste es, wenn Besuch, noch dazu ungeladener, kein Ende fand.
Preuss schien es nicht so zu empfinden. Er genoss wohl nicht nur seinen Kaffee, sondern auch den Besuch.
Nur einmal stand er auf, um den Kaffeesatz aus der Kanne zu kratzen und in den Mülleimer zu werfen, neues Kaffeepulver einzufüllen und kochendes Wasser aufzugießen.
Mit der Kanne in der Hand kehrte er zum Tisch zurück, ließ die braune Brühe eine Weile ziehen, bis er die metallene Filterscheibe ganz langsam auf den Kannenboden drückte.
„So“, sagte er, „dann wollen wir noch mal.“
Beinahe hätten sie das Abendessen verpasst, so angeregt unterhielten sie sich. Schließlich wusste Fromm von ihm, dass er fünfundachtzig Jahre alt und dass seine Frau vor fünf Jahren gestorben war und dass seine Kinder ihn in dieses Haus ‚gesteckt’ hätten.
Er gäbe ja zu, dass ihre zwei letzten Ehejahre sehr schwierig gewesen wären und ihn arg belastet hätten, aber verrückt wie seine Kinder ihn gerne gemacht hätten, wäre er nicht gewesen.
„Wenn du nicht willst, dass du ein richtiger Pflegefall wirst und wir dich schließlich nur noch in Wunstorf unterbringen können, weil dich in deinem Zustand niemand mehr nimmt, dann willige ein, in ein Heim zu gehen“, hätten sie gesagt und ein sehr besorgtes Gesicht gemacht.
Warum es unbedingt so ein Kaff an der Weser sein müsste, in Hannover gäbe es doch auch sehr gute Altenheime, und da hätte er wenigstens noch seine vertraute Umgebung, hatte er eingewandt.
„Genau das wollen wir vermeiden. Du musst in eine ganz neue Umgebung“, hätten sie wie aus einem Mund geantwortet.
Dagegen war er machtlos.
Aber er vermutete, sie wollten nur Geld sparen. Die Heime, an die er gedacht hätte, wären nun einmal sündhaft teuer.
„Leisten“, sagte er, „könnte ich mir die. Aber dann bleibt nicht so viel vom Erbe übrig.
Und damit ich nicht zu viel ausgebe, teilen sie mir mein Taschengeld zu.
Können Sie sich das vorstellen, Ihre Kinder gewähren Ihnen von Ihrem eigenen Geld ein Taschengeld? Ich finde das empörend.“
Wie sich die Bilder gleichen!
Aber er ahnte nicht, dass es ihm noch verhältnismäßig gut ging.
Fromm dachte an die entwürdigende Szene im Krankenhaus, als er praktisch ohne Übergang, direkt dem Bett entstiegen, hierher transportiert wurde, ohne über das Ziel auch nur informiert worden zu sein.
Preuss hatte wenigstens eine Enkelin, die ihn wohl liebte und regelmäßig besuchte.
Sie studierte in Hannover, wie er stolz erzählte, hätte ihm sogar ihren Freund vorgestellt, mit dem sie zusammen lebte, und obgleich sie wenig Geld hätte, brächte sie ihm immer ein Pfund von seinem Kaffe mit.
Er lächelte glücklich.
Fromm hatte keine Enkelin.
Er hatte nur einen Sohn, und der verdiente nicht, so genannt zu werden.