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3. Der Sinn des Lebens

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Als Fromm in sein Zimmer zurückkehrte, erwartete ihn eine Überraschung. Auf dem Tisch standen eine Schale mit etwas Obst, eine Flasche Wasser und vor allem eine reich bebilderte Broschüre mit dem Titel ‚Weserresidenz – Das Paradies im Weserbogen’.

Er setzte sich in seinen Lehnstuhl und schlug das Heft auf. Hübsche farbige Bilder vom Haus, einem ehemaligen Schloss, mit einigen ansehnlichen Nebengebäuden, die wie um einen kleinen Dorfplatz gruppiert waren, und dem Schlosspark sollten Lust auf Entdeckungen wecken.

Gerade hatte er das Heft zur Seite gelegt und wollte ein wenig die Augen schließen, da klopfte es, und die nette Pflegerin betrat das Zimmer.

„Darf ich Ihnen beim Aufhängen der Bilder helfen?“

Sie bemerkte, dass sie offensichtlich störte, hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund, stammelte eine Entschuldigung und wollte schon wieder gehen, als Fromm sie – gerade noch rechtzeitig – bat, doch zu bleiben.

Natürlich wäre er ihr dankbar, wenn sie ihm helfen würde, versicherte er ihr. Er hätte zwei linke Hände, hätte noch nie einen Nagel gerade in die Wand bekommen, ohne dass die halbe Wand anschließend gespachtelt und übergestrichen werden musste, und was man dergleichen für Albernheiten sagt, maßlose Übertreibungen, die niemand ernst nimmt und die deshalb vom eigenen Unvermögen ablenken sollen.

Sie machte ihre Arbeit gut, viel besser als er es geschafft hätte.

Hatte sie einmal einen Nagel angesetzt, fixierte sie ihn mit einem doppelten vorsichtigen Pinkern und trieb ihn anschließend mit drei weiteren Schlägen tiefer in die Wand, ohne dass ein Krater rund um ihn heraus brach.

Es war eine Freude, ihr zuzusehen.

„Sie sollten mal das Haus erkunden“, schlug sie vor, als sie auch noch die Bilder aufgehängt hatte, „wenn Sie sich wieder stark genug fühlen.“

Stark genug! Als ob er etwa erschöpft wäre! Sah sie nicht, dass er topfit war?

„Lohnt es denn?“, fragte er und versuchte sich seine leichte Verärgerung nicht anmerken zu lassen.

Sie sah ihn von der Seite an, etwas spitzbübisch, wie ihm schien, aber das konnte er sich auch einbilden. So eine Tochter oder Enkeltochter hätte er sich gewünscht.

Praktisch, zupackend und doch sehr, sehr weiblich.

Und was hatte er?

Einen kaltherzigen Stiesel von Sohn, für den nichts zählte als der berufliche Erfolg, der auf der ständigen Jagd nach Erfolg alles Menschliche verloren hatte, wenn er es überhaupt jemals besessen hatte.

„Na, wie wär’s?“, unterbrach sie Fromms Gedanken.

Schlafen konnte er auch nachher. Die Chance, in netter Begleitung das Haus zu erkunden, kam vielleicht nie wieder.

Das Haus war weitläufiger als er vermutet hatte.

Der Seitenflügel, in dem sich auch sein Zimmer befand, erstreckte sich noch ein ganzes Stück weiter und ging am Ende im rechten Winkel in einen weiteren Flügel über, in dem sich andere Gästezimmer befanden.

Sie gingen nur bis zur Ecke und kehrten zurück in den Hauptflügel, den Fromm schon kannte.

„Treppe oder doch lieber Aufzug?“, fragte die Schwester.

Da er die Treppe kannte, wählte er jetzt den Aufzug, der ungeheuer sanft nach unten glitt.

„Der ist erst drei Jahre alt“, erläuterte die Schwester, als sie Fromms Erstaunen bemerkte.

Sie durchschritten die Halle, gingen vorbei an der Tür zum Speisesaal und betraten die Bibliothek. Hier fühlte sich Alexander Fromm schon beim Betreten wohl.

Schwere dunkelbraune Ledersessel, wie sie früher in jedem gutbürgerlichen Herrenzimmer standen, gruppierten sich – meistens zu viert – um runde Rauchtische, auf denen allerdings die Aschenbecher fehlten.

An den Wänden klebten halbhohe Bücherregale, einige Tageszeitungen hingen an einem Garderobenständer.

Es war erstaunlich, mit wie wenigen Mitteln man eine anheimelnde Atmosphäre, das Gefühl von Vertrautheit herstellen konnte.

Vielleicht würde er sich hier doch irgendwann eingewöhnen.

Gedankenverloren fuhr er mit der Hand über eine Sessellehne, spürte das alte, etwas vernarbte, leicht brüchige Leder, roch es, drückte mit Zeige- und Ringfinger eine Delle in das Polster, spürte den bockigen Widerstand.

Ja, so mussten Ledersessel sein!

Fromm betrachtete die Bücher, die wohl noch aus dem Bestand des Schlosses stammten. Lessing, Goethe und Schiller in Prachtausgaben hinter Glas und die deutschen Romantiker füllten den ersten Schrank, direkt neben der Eingangstür.

Daran schloss sich ein unverglastes Regal an mit Literatur der Jahrhundertwende und der Zeit zwischen den Kriegen. Einige Autoren waren Fromm bekannt, er hatte sie selbst besessen, von anderen hatte er nur gehört, sie aber nie gelesen, wieder andere kannte er nicht einmal dem Namen nach.

Und dann kamen die Regale mit der Nachkriegs- und zeitgenössischen Literatur.

Waren die Bücher anfangs noch nach einem bestimmten System geordnet, so machte man sich jetzt offensichtlich nicht mehr die Mühe. Sie wurden nur noch aneinander gereiht.

Gemein war allen Regalen, dass die Bücher nur so hoch gestapelt waren, dass man sie erreichen konnte, ohne eine Leiter benutzen oder auf einen Stuhl steigen zu müssen.

Und erst da fiel Fromm auf, dass es keinen einzigen Stuhl in diesem Raum gab.

Sicher keine schlechte Entscheidung! Niemand würde versucht sein, auf einen wackligen Stuhl zu klettern, um ein unerreichbares Buch aus dem Regal zu ziehen. Überhaupt, irgendwie begann sein neues Zuhause im zu gefallen.

Anne, so las er erst jetzt auf einem kleinen Schildchen an dem Kittel der netten Schwester, hatte unendlich viel Geduld, beobachtete, wie er diesen Raum ganz in sich aufsog, wie er die Titel der Bücher verschlang.

Nachdem er die Zeitungen flüchtig durchgeblättert und wieder aufgehängt hatte, räusperte sie sich, und sie traten durch die breite Glastür in den herbstlichen Garten.

„Im Sommer kann man hier wunderbar sitzen“, erläuterte sie, „und herrliche Spaziergänge durch den alten Park machen. Früher war er zwar größer, ein Teil ist verpachtet und wird von Bauern der Umgebung bewirtschaftet, aber ich finde, er reicht immer noch.“

„Und die Häuser dort drüben? Sind das die Bauern?“

Anne lachte.

Nein, diese Häuser gehörten zum Schloss. Das wären Wirtschaftsgebäude und vor allem wohnte dort das Personal. In der Scheune dort rechts würde gerade ein Schwimmbad gebaut. Im Sommer sollte es fertig werden. Das würde sicher den Bewohnern sehr gefallen. Dann könnte ihnen auch Wassergymnastik angeboten werden.

Plötzlich fröstelte es Fromm.

Die Sonne hatte sich hinter diffusen Wolken verborgen, und erst jetzt bemerkte er die feuchte Kühle aus dem Park aufsteigen.

Mit beiden Händen umfasste er seine Oberarme, um sie zu wärmen, und die beiden wandten sich eilig dem Haus zu, nahmen gleich den Haupteingang, der sie in die Halle führte.

„Das muss ich Ihnen noch zeigen. Haben Sie noch einen Augenblick Zeit?“

Als er nickte, führte Anne ihn den Gang entlang am Lesezimmer vorbei. An der dritten Tür stoppte sie, zauberte einen Schlüssel aus ihrem Kittel hervor und schloss auf.

„Unser Kiosk“, sagte sie und breitete ihre Arme aus, als wollte sie den ganzen Raum umfassen.

„Viel hat er nicht zu bieten, aber mehr bekommen Sie auch unten im Ort nicht.

Wenn Sie etwas Spezielles haben möchten, müssen Sie es nur sagen, Janoš, unser Hausmeister, versucht es zu besorgen.“

Das Angebot war wirklich überschaubar, doch man gab sich nicht die verzweifelte Mühe, altersgerechte Diät oder Abstinenz durchzusetzen: Kartoffelchips und süßes Gebäck, zwei Sorten Schokolade, preiswerte Pralinen, saure Gurken, Wasser, Bier und Wein, rot und weiß, süß und trocken.

Es waren keine Spitzenweine, aber immerhin trinkbare.

„Die bekommen Sie auch im Speisesaal, aber die werden extra abgerechnet. Und wenn Sie nicht eine ganze Flasche trinken möchten, wird der Rest für Sie aufbewahrt und am nächsten Tag serviert. Sie können ihn aber auch mit auf ihr Zimmer nehmen oder im Lesezimmer trinken.“

Der Speisesaal füllte sich gerade, als sie an der Tür vorbeikamen.

Was suchten all die Alten hier? Sie hatten doch erst vor zwei Stunden ihr Mittagessen zu sich genommen.

Die ersten Kaffeekannen wurden aus der Küche getragen und auf den Tischen verteilt, gefolgt von Kuchenplatten.

Fromm wollte nicht, jetzt war er wirklich müde und wollte ein kleines Nickerchen halten, doch Schwester Anne munterte ihn auf: „Gehen Sie doch! Eine Tasse Kaffee und ein Stückchen Kuchen werden Ihnen gut tun, glauben Sie mir.“

Der Speisesaal war wirklich schon gut besucht, mehr als Fromm von außen gesehen hatte.

Es gab etwas umsonst, und das musste man mitnehmen!

Gustav Preuss saß schon auf seinem Platz, dick, behäbig, zufrieden. Seine Tasse war bereits gefüllt, nur sein Teller war noch leer. Gerade starrte er auf die Kuchenplatte, suchte im Geiste das größte Stück, verglich das eben ins Auge gefasste mit den anderen, konnte sich nicht entscheiden, bis sein Gegenüber ihm die Platte streitig machte.

Preuss hielt sie fest, zog energisch an ihr und griff ein anderes Stück.

Triumphierend sah er Fromm an. Er hatte einen Sieg errungen, und den kostete er jetzt aus.

Fromm setzte sich auf seinen Platz neben ihm. Der Kuchen reizte ihn nicht.

Preuss warf einen sehnsüchtigen Blick darauf, und als Fromm nickte, griff er blitzschnell zu.

Fromm hatte einen Fresser zum Nachbarn!

Schon am Abend, als sie noch im Lesezimmer beisammen saßen, vertraute Preuss ihm an, das machte er immer so, das wäre so eine Art tägliches Training, bei dem er seine Reaktionsgeschwindigkeit übte. Es wäre äußerst wichtig für ihn, um im Kopf fit zu bleiben. Seine größte Sorge wäre, irgendwann abzustumpfen und nur vor sich hin zu dämmern, eine leblose Puppe.

Nur beim Nachmittagskaffee hätte er die Möglichkeit zum Training.

Beim Frühstück und Abendessen bediente man sich am Buffet und mittags würde ein Tellergericht serviert. Hier wäre jede Konkurrenz ausgeschaltet. Wenn man mehr haben wollte, bediente man sich selbst oder bäte um einen Nachschlag.

Nur beim Kuchen gäbe es einen Wettkampf.

Die Kuchenstücke unterschieden sich nur geringfügig voneinander, wären mal so, mal so geschnitten, und deshalb gehörte sehr genaue Beobachtungsgabe dazu, das größte Stück unter den nahezu gleichen herauszufinden. Auch müsste man blitzschnell überschlagen können, ob das etwas dickere, aber schmalere Stück wirklich mehr wäre als das großflächige dünne.

Fromm muss wohl recht abwesend ausgesehen haben, denn plötzlich fragte Preuss: „Interessiert Sie überhaupt, was ich Ihnen erzähle?“

Mit einem Ruck fuhr er zusammen, so als würde er aus einem Sekundenschlaf geweckt.

„Doch, doch!“, beeilte er sich zu versichern.

Er ahnte ja nicht, wie sehr Fromm ihn beneidete. Er hatte einen Sinn in seinem Leben gefunden.

Wie im Paradies

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