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Die Mutter – Im entscheidenden Augenblick Leben retten

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Meine Mutter – sie ist jetzt 88 Jahre alt – stammte aus einer katholischen Saarbrücker Familie. Ihr Vater war, wie gesagt, Arzt. Meine Großmutter mütterlicherseits war eine gute Pianistin. Eine Erfahrung mit meiner Mutter war prägend: Einmal spazierten wir, in der Pariser Zeit, durch den Bois de Boulogne. Da fiel meine Schwester in den See. Meine Mutter ist, ohne zu zögern, in ihren Kleidern ins Wasser gesprungen und hat sie gerettet. Das ist ein unauslöschliches Bild der Erinnerung: dass sie im entscheidenden Augenblick Leben rettet.

Meine Mutter ist eine Frau, die sich nicht gerne in der Öffentlichkeit zeigt. Positiv gesagt: Sie ist nicht eitel. Sie ist zurückhaltend. Sie hat immer Wert darauf gelegt, dass wir Kinder „normal“ bleiben, dass wir uns nicht als die scheinbar tolle Familie inszenieren, nicht protzig auftreten. Darauf achtete sie. Es war ihr eher unangenehm, wenn mein Vater voller Stolz seine Kinder in jeder Kirche, in die wir reinkamen, präsentierte, und sagte: „Wir können auch gerne gregorianische Choräle während des Gottesdienstes singen.“ Da war sie zurückhaltend, ja scheu.

Sie brachte die Themen in die Familie ein, die meinem Vater fremd waren. Nachdem mein Vater in die Politik gegangen war, machte sie eine Ausbildung in der Telefonseelsorge und hat dann dort auch praktisch gearbeitet. Dabei ist sie natürlich auf Lebensthemen gekommen, die in unserer Familie zuvor gar nicht groß debattiert wurden. Zuvor ging es um Außenpolitik, Philosophie, Thomas von Aquin*, Guardini, Luther und „renouveau catholique“*. Für Fragen wie Sexualität, Homosexualität, voreheliche Beziehungen, zerbrochene Ehen hatte meine Mutter ein Ohr. Deswegen wurde sie für mich über Jahre hinweg eine sehr wichtige Gesprächspartnerin. Ich konnte mit ihr Fragen besprechen, die meinen Vater – so sehe ich es im Nachhinein – überfordert hätten.

Wenn mein Vater einmal eine Illustrierte, eine „Quick“ oder einen „Stern“ kaufen musste, weil dort ein wichtiger politischer Artikel stand, dann hat er diesen Artikel ausgeschnitten und den Rest wegen der Bikini- und Nacktbilder gleich in den Müll geworfen. Manchmal lagen wir Geschwister abends vor dem Fernseher und guckten uns irgendeinen Film an. Dummerweise kam mein Vater immer bei den Stellen rein, wo sich Mann und Frau knutschten, und sagte: „Müsst ihr euch so etwas angucken?“ Er lebte in den Diskretions- und Schamgrenzen seiner Zeit, die immer mehr zu schwinden begannen.

1985 ist mein Vater ganz plötzlich, drei Tage nach einem Schlaganfall, gestorben. Selbstverständlich war das für uns alle ein Einschnitt. Was der Tod eines Vaters bedeutet, begreift man erst langsam, im Laufe von Jahren. Direkt danach beschäftigten uns viele Fragen. Die ganze Ernte dieses Lebens wurde für uns angesichts seines Todes auf einmal sichtbar: Die vielen Kondolenzschreiben, die Besuche, das Bemühen, das Erbe meines Vaters zu sichern. Wir haben das Requiem gemeinsam vorbereitet. Die Sprache des Glaubens der katholischen Kirche hat uns dabei die Vorlage gegeben.

Meine Mutter ist dann relativ bald aus dem großen Familienhaus in Wachtberg-Pech bei Bonn ausgezogen in eine Wohnung in Bad Godesberg. Das empfand ich immer als einen starken Ausdruck für ihre Auffassung, dass das Leben weitergeht. Sie trauerte, aber sie haderte nicht. Sie konnte mit Dankbarkeit auf alles Gute zurückblicken, das sie im gemeinsamen Leben mit meinem Vater erfahren hatte.

Die Religiosität meiner Mutter ist, wie die des es Vaters war, ganz tief. Sie ist aber zugleich angefochtener. Und darin ist sie mir dann auch wieder näher.

Die Religiosität meines Vaters hatte bei allem intellektuellen Problembewusstsein doch eine ganz tiefe Unangefochtenheit. Sie wurde aber in den Siebziger-, Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts auch bedroht. Es war für ihn, den Verteidiger der Nachrüstung, eine bittere Erfahrung, mit dieser Position auf Kirchentagen auftretend, dafür beschimpft zu werden. Das – und anderes in jener Zeit – hat ihn in tiefe, innere Krisen geführt. Kirche war für ihn nicht mehr nur Heimaterfahrung, sondern wurde nun auch ein Ort, an dem er infrage gestellt wurde. Das hat ihn emotional verunsichert.

Grenzgänger

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