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Ein total bunter Haufen – Befremdliche Erfahrungen

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Ich bin aus traditionsbejahenden Gründen Jesuit geworden. Und trat dann in einen Jesuitenorden ein, der gerade dabei war, die Traditionen, eine nach der anderen, abzuräumen. Mir sind im Noviziat Typen begegnet, denen ich bisher noch nie begegnet war oder die für mich der Inbegriff des Schreckens waren. Zum Beispiel langhaarige, gitarrespielende Wilhelm-Wilms-Lieder singende Freaks. Seufz! Ich war ja eher hochkirchlich geprägt, auch von der Orthodoxie her. Für mich war schon, wie auch für meinen Vater, die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils auch mit Abschiedsschmerzen verbunden gewesen. Mir war das conferenciérartige Auftreten von Priestern, die „da vorne“ Traditionen abschafften, ein Gräuel. Da fielen Traditionen, die meine Eltern und mich geprägt hatten, einfach weg. Auch musikalisch. Ich war ja eher noch bei Mozart und Heinrich Schütz. Die Melodien der neuen geistlichen Lieder und oft mehr noch die Texte waren mir sehr fremd, vor allem im Kontext von Gottesdienst. Befremdend war für mich auch das Erlebnis von charismatischen Gottesdiensten, waren Mitbrüder, die in der Charismatischen Bewegung* engagiert waren und mit großer Überzeugung behaupteten, dass sie den Heiligen Geist erfahren hätten. Für meine intellektuell geprägte Frömmigkeit war es irritierend, wenn Gottesdienstteilnehmer plötzlich anfingen, in Zungen zu reden. Mit anderen Mitbrüdern, die das ähnlich empfanden, bin ich abends zusammengesessen, und wir haben darüber abgelästert, um überhaupt mit dieser Fremdheit zurechtzukommen. Inzwischen habe ich oft für dieses hochmütige Lästern nachträglich um Verzeihung gebeten.

Der Orden war zu jener Zeit ein total bunter Haufen. Der Noviziats-Jahrgang, der vor mir eingetreten war, war bis auf zwei Mitbrüder komplett ausgetreten. Die traten dann auch noch eine Woche vor der Ablegung der Gelübde aus, sodass vor uns plötzlich alles leer, niemand mehr da war. Ich spürte: Da ist eine tiefe, tiefe Verunsicherung.

Ich hatte mich eher auf einen monastisch gegliederten Tagesablauf gefreut. Das Gegenteil war der Fall! Es gab natürlich eine Ordnung: Tägliche Messe, Instruktionen und so. Aber ansonsten war das eine bunte Truppe. Das große Thema, das unser Novizenmeister immer wieder aufbrachte, hieß „Eigenverantwortung“, oder Freiheit, Sich-nicht-Unterwerfen unter eine sakralisierte Lebensordnung. Er gehörte der Generation der Reformer nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil an und ließ alle Debatten zu. Ganz schnell bekam ich ein Autoritätsproblem. Ich forderte ihn auf: „Jetzt sag’ doch mal, wie wir’s machen sollen, und dann machen wir es so!“ „Nee“, sagte er. Wir mussten uns täglich zusammenraufen, mussten über Fragestellungen sprechen, die ich einfach ärgerlich fand. Stundenlang haben wir beim Abendessen zum Beispiel darüber diskutiert, ob in der Fastenzeit Bier getrunken werden darf oder nicht. – Es war im Grunde eine WG-Situation, in der man das Rad des Zusammenlebens mehr oder weniger neu erfinden musste. Heute bin ich meinem Novizenmeister für seinen Widerstand gegen mein Drängen nach autoritären Klärungen sehr dankbar.

Sehr schön war im Noviziat, dass direkt nebenan das Altersheim war. Da schlurften die ganz alten Mitbrüder rosenkranzbetend durch den Park. Die kamen dann manchmal zu uns Jungen und sagten, dass sie sich Sorgen machten über den liberalen Kurs, den der Orden nun eingeschlagen hatte. Ich konnte denen innerlich schon Zuneigung und Zustimmung entgegenbringen.

Den Rosenkranz hatte ich als Kind und Jugendlicher auch gebetet. Wenn wir in Gerolstein waren und es ein Gewitter gab, dann haben wir die Rollläden zugemacht, eine Kerze angezündet und den Rosenkranz gebetet. Das war eben unsere Welt. Viele von meinen Mitbrüdern fanden es hingegen unverständlich, Rosenkranz zu beten. Es wurden Dinge abgeschafft, die ich gern hatte, die ich geliebt habe. Die waren einfach plötzlich weg. Da habe ich mich dann innerlich auch manchmal zu den älteren Mitbrüdern geflüchtet. Ich habe das Väterliche gesucht. Aber ich wusste auch: Das ist ja nicht die Zukunft! Das waren ja alte Männer, zum Teil auch pflegebedürftig, jedenfalls nicht meine künftigen Gefährten.

Im Noviziat wurde für mich einfach alles infrage gestellt. Unter den Novizen waren auch welche, die schon Theologie studiert hatten. Die redeten in einer Sprache, die ich überhaupt nicht verstand. Ich fühlte mich intellektuell nicht anschlussfähig. Dann schleppte mich plötzlich mal einer von ihnen mit zu einer Vorlesung von Johann Baptist Metz* in Münster. 1977 kam auch gerade sein Buch Zeit der Orden? heraus, in dem er die prophetische Funktion der Orden hervorhob. Propheten, das waren für mich bisher die großen Propheten der Bibel gewesen. Dass es heute Propheten gibt und dass wir es sogar sein sollten, das lag mir völlig fern.

Das Noviziat war für mich eine große Konfrontation mit einer mir bisher völlig fremden Welt. Aber ich verlor dennoch nie die Gewissheit, dass ich mit meiner Grundentscheidung richtig lag. Die Entscheidung war gefallen. Bis heute. Letztlich nie mehr grundlegend angefochten. Es hat Krisen gegeben. Ich war immer auf der Suche nach Beziehungen im Orden, nach Freundschaften, nach Nähe. Ich konnte ja nicht nur in Konflikten leben! Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte habe ich auch ganz viel geschenkt bekommen. Es sind Freundschaften auch im Orden und auch mit anderen Ordensleuten entstanden, auch mit Nichtordensleuten, mit Mitstudierenden, mit ehemaligen Schülerinnen und Schülern. Heute bin ich sehr dankbar für die vielen Menschen, die zu mir gehören und zu denen ich gehören darf.

Der Jesuitenorden hat auch meinen Blick auf die Religiosität, aus der ich stamme, verändert. Ich lebe nicht mehr einfach nur aus den Quellen meiner Kindheit. Ich bin jetzt 39 Jahre im Orden.

Der Orden sieht heute anders aus als in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Es wurden auch in den Achtziger- und Neunzigerjahren neue Formen gefunden, neue Verlässlichkeiten, auch neue Standards. Der Orden ist in seinem Selbstverständnis komplett erneuert worden. Vor allem in der Zeit des Generals Pedro Arrupe*. In seinem Verhältnis zur kirchlichen Hierarchie versteht sich der Orden heute anders als im 19. oder 20. Jahrhundert. Die langen Jahre unter den Päpsten Johannes Paul II. und Benedikt XVI., die ja dem Orden misstraut und das auch öffentlich gesagt haben, haben den Orden auch geprägt und die Erneuerung vertieft.

Der Orden ist heute, vor allem in der jungen Generation in Deutschland, in einem Rückzugsprozess. Während in anderen Ländern, insbesondere in Südostasien, inzwischen auch in Afrika, eine ganz andere Dynamik zu spüren ist. Wir haben Teil an der Verschiebung der kirchlichen Gewichte von Norden nach Süden.

Grenzgänger

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