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Die Entscheidung war gefallen – Eintritt in den Jesuitenorden

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Ich habe das Studium mit dem Vordiplom abgebrochen und bin 1977 im Alter von dreiundzwanzig Jahren in den Jesuitenorden eingetreten.

Meine Eltern haben mich nach Münster ins Noviziat gefahren. Meine Mutter war sehr gefasst. Ich sah die Tränen der Rührung bei meinem Vater. Er konnte manchmal Tränen nicht zurückhalten. Dem Novizenmeister sagte er: „Pater Werner, ich übergebe ihnen meinen Sohn!“ Da ist insgeheim vielleicht ein eigenes Lebensthema bei ihm angeklungen. Der ältere Bruder meines Vaters, Johannes, mein Patenonkel, war Priester der Diözese Trier gewesen. Und ich bin ganz sicher, dass mein Vater lange mit sich gerungen hat, Priester zu werden. Warum er es nicht geworden ist? Sicher auch, weil er meine Mutter kennengelernt hat. Aber vor allem wohl, weil er schon vorher für sich zu dem Schluss gekommen war, dass Ehelosigkeit nicht sein Weg war. Aber er hatte ebenso wie meine Mutter eine tiefe Achtung vor dem Priesterberuf. Immer waren Priester zu Gast in unserer Familie. Johannes starb plötzlich und sehr früh, mit nur 53 Jahren. Die Mertes-Männer, scheint es, sterben früh. Das war bei meinem Vater auch der Fall. Er wurde nur 63. Nachträglich könnte ich sagen: Mein Drängen zum Priesterberuf war, familiensystemisch gesehen, etwas, das im Familiensystem meines Vaters grundgelegt war.

Aber auch im Familiensystem meiner Mutter. Ein Großonkel von ihr, den ich allerdings nie persönlich kennengelernt habe, war auch Jesuit gewesen. Meine Mutter stand ebenfalls positiv zu meiner Entscheidung und hat sie von Anfang an gestützt und begleitet. Sie ist dann auch – zumal mein Vater immer weiter weg in der Politik war – zur wichtigeren Gesprächspartnerin für mich geworden. Sie war auch als Telefonseelsorgerin in den pastoralen und kirchlichen Fragen stärker „drin“. Ich konnte mich auch mit kritischen Fragen an sie wenden.

Mein Vater schätzte die jesuitische Theologie. Er bewunderte Pater de Lubac*. Aus der Nachkriegszeit in der deutsch-französischen Studentenbewegung war Pater de Rivau* eine wichtige, beinahe väterliche Persönlichkeit für ihn. Auf der anderen Seite waren die Entwicklungen im Jesuitenorden in den Siebziger- und Achtzigerjahren so, dass sie nicht im Mainstream der damaligen CDU-Politik lagen. Ich erinnere mich, als ich an Weihnachten 1977 für drei Tage aus dem Noviziat nach Hause kam, an ein Gespräch, bei dem ein Professor und Freund meines Vaters dabei war. Dieser Freund war allerdings besonders konservativ, sodass es auch meinem Vater oft zu weit ging. Wie auch immer: Wir saßen am Tisch, und der Freund fing an, über die Jesuiten zu schimpfen, und sagte: „Die Jesuiten von heute sind alle Marxisten!“ Ich erinnere mich auch, dass mein Vater nicht besonders erbaut war, dass Jesuiten zum Beispiel vor Mutlangen gegen Pershing-Raketen* protestierten. Oder dass lateinamerikanische Mitbrüder, die in der Befreiungstheologie* aktiv waren, in einer Weise mit marxistischem Vokabular umgingen, die seinen ideologiekritischen Maßstäben widersprach. Er hatte zudem noch 1968/69 ein Sabbatical in Harvard absolviert und dort im Seminar bei Henry Kissinger* geforscht und gelehrt. Dass die lateinamerikanische Theologie und die dortige Kirche die USA für die Lage in Lateinamerika verantwortlich machten und Kissinger umgekehrt die Jesuiten für gefährlich hielt, brachte ihn in Loyalitätskonflikte – so meinte ich es jedenfalls manchmal zu spüren.

Mein Vater rief mich gelegentlich an, und wir sprachen dann auch über solche Spannungen. Ich hatte dabei das Gefühl, dass er mir sein theologisches Vermächtnis übergeben wollte. Das bestand im Kern darin, mir die Relativität von Politik und die Relativität dessen, was Politik leisten kann, vor Augen zu führen. Ein wichtiger Gedanke, den er letztlich von Augustinus und Luther geerbt hatte, war, dass es gar keine Möglichkeit gibt, als Politiker „ohne Sünde“ zu entscheiden, weil die Dilemmata der Politik so sind, dass man am Ende nur noch die Hände falten und auf die Barmherzigkeit Gottes hoffen kann – aber trotzdem entscheiden muss. Das war ein „Schlüssel“, den er mir immer wieder in die Hand gegeben hat und den ich bis heute mit mir trage. Das stimmt ja auch.

Ich habe von meinem Vater auch das Wissen geerbt, dass es wirklich schwierige ethische Dilemmata gibt, ausweglose Situationen, insbesondere dann, wenn man selbst in verantwortlichen Positionen steckt. Und dass alle, die meinen, man kann sie auf eine einfache Formel bringen, danebenliegen.

Aber in der radikalisierten Sprache der Achtzigerjahre war eine Eindeutigkeit drin, die ihm Sorgen machte.

Grenzgänger

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