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Unterwegssein ist mein Wesen geworden

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Das viele Unterwegssein in der Kindheit hatte etwas Nomadisches an sich. Es hat sich wieder erneuert, als ich in den Jesuitenorden eingetreten bin. Als ich zuletzt wieder vom Canisius-Kolleg hierher nach St. Blasien im Schwarzwald versetzt worden bin, fiel mir der Satz zu: „Wir Jesuiten leben in Zelten, nicht in Klöstern.“ Das ist auch so. Überall, wo ich lebe, lebe ich in dem Bewusstsein, dass dort nicht mein endgültiger Ort sein wird. Zwischendurch habe ich mich immer wieder sehr nach Heimat gesehnt.

Eine tiefe Heimaterfahrung ist für mich verbunden mit der Eifel, mit Gerolstein. Mein Vater stammt von dort. Die Ferienfahrten in der Kindheit hatten immer Gerolstein zum Ziel, die Heimatstadt meines Vaters.

Die Gerolsteiner Welt erlebte ich als eine „heile Welt“ – das meine ich gar nicht abschätzig –, und ich glaube, dass sie das in gewisser Weise auch für meinen Vater war und blieb, obwohl er sich von dieser Welt löste und sicherlich auch manche ihrer Schattenseiten sah. Es war eine Welt von Bauern, Handwerkern und Kommunalbeamten, die in vergleichsweise einfachen Verhältnissen lebten, aber ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl hatten. Es war auch eine kultivierte Welt, wobei neben der Schule die Kirche eine wesentliche Rolle als Kulturträgerin und -vermittlerin spielte. Eifeler sind Grenzlandbewohner. Man blickt nach Westen, nach Luxemburg, nach Belgien, nach Frankreich. Hier gibt es übrigens eine wichtige Gemeinsamkeit zur Herkunft meiner Mutter. Sie stammt aus dem Saarland, also ebenfalls aus einer Grenzregion. Ihre Familie gehörte einem anderen, einem urbanen und kaufmännischen Milieu an. Ihr Vater war Internist und Chefarzt. Er hatte als Katholik in einer Zeit studiert, als in den Fakultäten die Ansicht verbreitet war, dass katholischer Glaube und modernes Weltbild miteinander unvereinbar seien. Mit diesen Fragen hatte er sich intensiv beschäftigt. Meine Mutter ist davon geprägt worden, und ich erinnere mich, dass mein Vater mir ein paarmal gesagt hat, dass sie ihm dadurch neue Horizonte eröffnet habe.

Als ich 1966 als Elfjähriger wieder zurück nach Deutschland kam und wir uns in Bonn ansiedelten, war dann Bonn wieder eine Heimat für mich. So kann ich heute sagen: Ich bin ein Rheinländer.

Noch einmal zurück zum Nomadischen. Es besteht ein entscheidender Unterschied zwischen Zelten und Wohnen. Zwischen Nomadentum und Sesshaftigkeit. Unsere Religion hat nomadische Ursprünge. Sie kommt aus der Wüste, wo Hirtenstämme von Weidegrund zu Weidegrund und von Wasserstelle zu Wasserstelle ziehen, wo kein Raum ist für große Hierarchien, dafür aber die tägliche Erfahrung des Angewiesenseins auf den eigenen Clan in einer oft lebensfeindlichen Umgebung gemacht wird.

Mich hat auch an der Person Jesu immer fasziniert, dass er auf der Straße gelebt hat. Den Satz von ihm: „Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann“ (Lukas 9) habe ich nicht einfach als einen Klagesatz verstanden, sondern als eine Selbstbeschreibung seines Lebensstils. Er ist eben gewandert. Und die ersten Jesuiten haben ihr Ideal auch über das Wanderapostolat verwirklicht. Das Weitergehen, das Leben in Zelten ist mir wichtig geworden. Ich bin selbst viel gewandert. Durch Frankreich bis nach Santiago de Compostela. Diese Wanderung habe ich im Zeitraum von vier Jahren mit Freunden zusammen unternommen.

Zelten, Unterwegssein, das ist jesuitischer Lebensstil. Ich habe mich daran gewöhnt. Es ist mein Wesen geworden. Deswegen was es auch 2011 okay für mich, Berlin zu verlassen und nach St. Blasien zu gehen.

Über die Prägungen, die ich im Elternhaus erfahren habe, gäbe es viel zu sagen. Es ist schwer zu sagen, wie viel Anteil daran mein Vater hatte, wie viel Anteil meine Mutter. Beide waren sehr unterschiedlich, beide ergänzten einander auch. Mein Vater war in der Öffentlichkeit sichtbar, meine Mutter nicht. Das verleitete manche dazu zu glauben, der Einfluss meines Vaters sei größer gewesen. Aber so ist das nicht. Der Glaube war eine starke gemeinsame Basis. Beide hatten ein sehr reflektiertes Verhältnis zum eigenen Glauben. Bei meinem Vater war es eher geprägt durch den Blickwinkel klassischer Philosophie und Theologie, wobei er sich eine urtümliche Lust am Glauben bewahrte. Bei meiner Mutter war es eine sehr große Feinfühligkeit, psychologische Reflexion und Sinn für moderne Kunst und Naturwissenschaft.

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