Читать книгу Unter Waffen schweigen die Gesetze - Klaus Pollmann - Страница 9

Aquileia

Оглавление

„Tata, erzähl mir die Geschichte vom Tag von Eleusis!“, forderte der kleine Nero. Drusus streichelte seinem Sohn über das blonde Haar.

„Die Geschichte gefällt dir?“

Nero nickte heftig. „Das ist meine Lieblingsgeschichte. Deine auch?“

Er sah seinen gleichaltrigen Cousin an.

„Ich kenn‘ sie nicht!“, krähte der kleine Drusus. „Mein Tata hat sie mir nie erzählt!“

Drusus sah seinen Bruder an und sagte lächelnd: „Aber Tiberius, du hast meinem Neffen nie die glorreiche Geschichte von Gaius Popilius Laenas erzählt?“

Tiberius erwiderte das Lächeln nicht, sondern schüttelte nur verdrossen den Kopf.

„Erzähl die Geschichte!“, wiederholte der kleine Drusus jetzt, und streckte seine kurzen Ärmchen in die Höhe.

„In den alten Tagen, als Rom noch eine Republik war und noch nicht über das ganze Mittelmeer herrschte, gab es einen Römer namens Gaius Popilius Laenas. Er war, wie so viele Römer seiner Zeit, ein Diener von Senat und Volk. Rom hatte einige Jahre zuvor den bösen Karthager Hannibal besiegt und die griechischen Städte vom Joch der Makedonier befreit. Das hatte der Seleukidenherrscher Antiochos, der sich anmaßend König der Könige nannte, versucht zu verhindern − und war gescheitert. Als nun die Makedonen versuchten, die armen Griechen zu versklaven, wandten sich diese an Rom, baten um Hilfe und wir befreiten sie endgültig von den Makedonen.

Unterdessen dachte der Sohn des alten Antiochos, er könnte die Gunst der Stunde nutzen, und fiel mit seinem Heer in Ägypten ein, um das Land in seine Gewalt zu bringen. Die Ägypter wurden besiegt und flehten nun ebenfalls Rom um Hilfe und Schutz an. Da die Römer gerade Krieg gegen Makedonien führten, konnten sie keine Truppen stellen, aber sie schickten den tapferen Gaius Popilius Laenas als Gesandten nach Ägypten.

Laenas traf den König und sprach zu ihm: ‚Höre König, du hast in diesem Lande nichts verloren und dir stehen auch keine ägyptischen Gebiete zu. Verlasse dieses Land, und der Frieden zwischen unseren Völkern wird gewahrt bleiben.‘

Der König wurde durch dieses beherzte Auftreten unsicher und versuchte, Zeit zu gewinnen: ‚Ich muss mich erst mit meinen Beratern treffen und werde dir beizeiten eine Antwort zukommen lassen‘, antwortete er. Gaius Popilius Laenas aber, zog mit einem Stock einen Kreis um den König und sagte: ‚Wenn du diesen Kreis verlässt, betrachtet das Rom als Kriegserklärung, außer du versprichst mir jetzt sofort, das Land zu verlassen und alle Truppen wegzuführen.‘

Da wurde der König, der die Macht der Legionen kannte, verzagt und versprach, abzuziehen. Und so hatte Gaius Popilius Laenas die Ägypter gerettet!“

Nero klatschte begeistert in die Hände und sah seinen Onkel an.

„Kennst du auch so eine schöne Geschichte, Onkel Tiberius?“

„Ja, Tata. Erzähl uns eine Geschichte!“, bettelte auch der kleine Drusus.

Tiberius starrte düster vor sich hin, dann räusperte er sich und begann zu erzählen:

„Damals in der Zeit der Republik, bedrohten die Samniten Rom. Immer wieder griff dieses wilde Bergvolk römisches Gebiet an, und der Senat wusste sich nicht zu helfen. Daher berief er Lucius Papirius Cursor zum Diktator und Quintus Fabius Maximus wurde der magister equitum, der Reiterführer. Er befehligte einen Teil des Heeres und hatte vom Diktator den ausdrücklichen Befehl, keine Schlacht zu schlagen. Eines Tages sah er aber eine Möglichkeit für einen Sieg. Er griff die Samniten an und besiegte sie. Rom war gerettet.

Der Diktator Lucius Papirius Cursor aber war erzürnt. Fabius Maximus hatte gegen einen Befehl verstoßen. Gegen einen Befehl, den er als Diktator gegeben hatte. Dies war ein Verstoß gegen die heiligen Gesetze Roms und damit ein Verbrechen, ja, ein Frevel! Und um die Götter nicht zu erzürnen, verurteilte er seinen magister equitum zum Tode!“

Nero schrie erschrocken auf und der kleine Drusus schlug die Hände vors Gesicht.

„Ja“, fuhr Tiberius mit Nachdruck fort, „er verurteilte ihn zum Tode! Senat und Volk von Rom hielten Quintus Fabius Maximus für einen Helden, daher waren sie gegen die Todesstrafe, wagten aber nicht gegen das mos maiorum zu verstoßen und die Anordnung des Diktators infrage zu stellen. Damals achtete man noch auf das mos maiorum. Sie suchten einen Ausweg und bestürmten Lucius Papirius Cursor, Gnade walten zu lassen. Der Diktator wusste Recht und Gesetz auf seiner Seite und war nicht umzustimmen. Was sollte aus Rom werden, wenn seine höchsten Magistrate sich nicht mehr an die Gesetze hielten?

Unruhe erfasste Senat und Volk von Rom, hinter vorgehaltener Hand wurde die Kritik am Diktator immer lauter. Die concordia, die Eintracht des Staates, drohte zu zerbrechen. Da bewiesen Quintus Fabius Maximus und Lucius Papirius Cursor, dass sie große Römer sind. Quintus Fabius Maximus warf sich dem Diktator zu Füßen, bekannte seine Schuld und erflehte reumütig seine Verzeihung. Lucius Papirius Cursor war großmütig und begnadigte ihn. Die concordia war wieder hergestellt.“

Er verstummte abrupt und für einen Moment herrschte Schweigen.

„Warum hat er ihn zum Tode verurteilt? Das ist doch doof. Er hat doch gewonnen!“, sagte Nero.

„Du bist doof!“, sagte der kleine Drusus. „Weil er nicht gehorcht hat! Hast du nicht zugehört?“

„Aber er hat die Schlacht gewonnen!“

„Er hat aber nicht gehorcht!“

„Er hat aber gewonnen!“

Die Erwachsenen folgten belustigt dem Streitgespräch der beiden Vierjährigen. Schließlich mischte sich Antonia ein. Sie übergab die kleine Livilla an ihre Amme.

„Schluss jetzt. Es wird Zeit für euch ‚Gute Nacht‘ zu sagen.“

Sofort erhob sich lautstarker Protest, da beide Jungen selbstverständlich der Meinung waren, dass es noch viel zu früh war, um schlafen zu gehen. Antonia winkte der Kinderfrau, die sofort herbeieilte und die beiden ermahnte, sich anständig zu betragen und ihr zu folgen. Schmollend, aber gehorsam verabschiedeten sich die beiden Vettern und folgten dann der Kinderfrau aus dem Raum.

Die Brüder sahen ihren Söhnen nach, und für einen Augenblick wirkte Tiberius‘ Gesicht fast zärtlich. Dann blickte er wieder ernst vor sich nieder und griff nach seinem Weinbecher.

„Heißer Würzwein ist das einzige, was man in dieser feuchten, kalten Provinz zu sich nehmen kann. Es ist das einzige, was einen vor dem Erfrieren bewahrt“, brummte er, trank einen Schluck und sah Drusus an.

„Du hattest in deinem Brief von einer Germanisierung des Sugambrer-Problems gesprochen. Was stellst du dir darunter vor?“

„Ist mein großer Bruder deswegen aus Rom angereist, um mich über meine Absichten auszufragen?“

Tiberius machte eine unwillige Handbewegung.

Gerrae! Ich habe den Begriff nur nicht verstanden.“

„Mit Germanisierung meinte ich, den Germanen die Lösung des Problems selbst zu überlassen. Die Chatten im Süden stehen bereit, nach der Schneeschmelze gegen die Sugambrer zu Felde zu ziehen. Ich werde mit den Legionen im Norden die Usipeter unterwerfen. Diese sind Klienten des Sugambrerkönigs. Außerdem werde ich zu den Brukterern und Cheruskern ziehen, um ihnen zu sagen, dass sie sich tunlichst nicht mit Melon verbünden sollen. Im Gegenteil: Sie sollen den pagi der Sugambrer einen Besuch abstatten. Dadurch isoliere ich Melon von seinen Verbündeten. Es gibt zwei Familien, die auf unserer Seite stehen, die mächtigste davon nennt sich nach ihrem Kriegsgott. Diesen Marsern werde ich helfen, das Heiligtum der Sugambrer zu übernehmen, und so Melon weiter schwächen.“

„Du zielst auf seine dignitas und autocraticas!“, stellte Tiberius fest. „Ich würde aber die Kontrolle über das Heiligtum nicht an diese Marser übergeben. Das ist keine gute Idee!“

„Ach, tatsächlich?“

Drusus war verstimmt darüber, wie leichtfertig sein Bruder diesen Teil des Planes abtat.

„Im Moment sind deine Feinde ihre Feinde. Wenn sie im Besitz des Heiligtums sind und dies verteidigen müssen, sind ihre Feinde deine Feinde.“

„Hör auf mit diesen Sophistereien! Ich bin schließlich kein Narr. Die Marser müssen sich das Heiligtum erkämpfen. Vielleicht unterstütze ich sie mit ein paar Hilfstruppen, aber sie werden sich Verbündete unter den Brukterern und Cheruskern suchen, um Melon das Heiligtum zu entreißen. Melon muss sich darauf konzentrieren, das Heiligtum zu halten, und wenn er es verliert, ist er am Ende. So oder so ist der Stamm gespalten.“

„Und wenn die Marser verlieren? Dann muss Rom eingreifen, um sie zu halten, oder wir verlieren an Ansehen, weil wir unsere Verbündeten nicht schützen.“

„Die Marser werden Unterstützung von den anderen Familien bekommen. Es tut mir leid, Tiberius!“ Drusus lächelte überlegen. „Aber ich bin seit Jahren in dieser Provinz und habe mich mit der Situation und den Gepflogenheiten vertraut gemacht. Du nicht. Ich würde dich auch nicht über Illyrien und Pannonien belehren wollen.“

Tiberius hatte schon den Mund geöffnet, um zu antworten. Jetzt schloss er ihn wieder, sah einen Moment vor sich hin und sagte dann: „Du hast recht. Verzeih. Ich war nur in Sorge um das Gelingen deines Plans!“


Unter Waffen schweigen die Gesetze

Подняться наверх