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Versuche der Definition mittels standardisierter Beurteilungsverfahren

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In der englischsprachigen Literatur wird von Personen mit einer schwersten intellektuellen und mehrfachen Behinderung (»profound intellectual and multiple disabilities; PIMD) bzw. schwersten Lernstörungen (»profound and multiple learning disabilities; PMLD) gesprochen (Maes et al., 2021). Nakken & Vlaskamp (2007, S.85) formulieren:

«Individuals with PIMD have two key defining characteristics: (a) profound intellectual disability and (b) profound motor disability. They also have a number of additional severe or profound secondary disabilities or impairments.«

Autoren, die diese Begriffe verwenden, beziehen sich in der Regel auf die medizinischen Klassifikationssysteme ICD-10 oder DSM-V. Dort ist eine schwerste intellektuelle Behinderung definiert als solche, bei der der Intelligenzquotient unter 20–25 liegt, während er bei Menschen mit schwerer intellektueller Behinderung (»severe intellectual disabilities«, »severe global learning disabilities«) im Bereich zwischen IQ 35 und IQ 50 liegt. Um den Grad der motorischen Einschränkungen dieser Kinder zu beschreiben, verwenden die Autoren häufig das »Gross Motor Function Classification System«, das sich in der Klassifikation von Kindern mit einer Cerebralparese bewährt hat. Dabei wird der Schweregrad in fünf Stufen eingeteilt. Bei sehr schwerer und mehrfacher Behinderung liegt in der Regel ein Grad IV oder V vor, d.h. die Kinder und Jugendlichen sind nicht zu einer selbständigen Fortbewegung in der Lage.

Eine Abgrenzung des Personenkreises mittels standardisierter Testverfahren ist jedoch fragwürdig. Intelligenztests sind aufgrund der schweren Einschränkungen der motorischen Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen und einer zusätzlichen Hör- oder Sehbehinderung in der Regel nicht valide durchführbar. Das bedeutet, dass ihre kognitiven Funktionen nicht eindeutig beurteilbar sind. Auch zusätzliche Sinnesbeeinträchtigungen sind nur schwer durch objektive Testverfahren zu beurteilen, da die meisten der dafür verwendeten Verfahren eine aktive Mitarbeit der Kinder und Jugendlichen und in vielen Fällen auch sprachliche Reaktionen auf Testaufgaben voraussetzen.

In der internationalen Fachdiskussion besteht Einigkeit, bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit intellektueller Behinderung nicht nur die Intelligenzleistungen, sondern auch die adaptiven Kompetenzen zu erfassen. Sie umfassen die »funktionalen« Fertigkeiten, über die ein Kind, Jugendlicher oder Erwachsener bei der Bewältigung des Alltags verfügt. Zur Beurteilung der adaptiven Kompetenzen können z.B. die »Vineland Adaptive Behavior Scales« (VABS) verwendet werden, deren dritte, aktualisierte Auflage auch in einer deutschen Fassung zur Verfügung steht (Sparrow et al., 2021).

Bei einer schwersten Behinderung liegen die kognitiven, sprachlichen und adaptiven Fähigkeiten unter dem Entwicklungsniveau einjähriger Kinder mit unbeeinträchtigter Entwicklung (z.B. Ware, 1996; Nakken & Vlaskamp, 2007). Diese Definition soll deutlich machen, dass ein ausgeprägter Hilfe- und Unterstützungsbedarf vorliegt und die Entwicklungsschritte in den sensomotorischen und vorsprachlichen kommunikativen Fähigkeiten, die ein Kind im ersten Lebensjahr vollzieht, als eine Orientierungshilfe für die Einschätzung des Unterstützungsbedarfs bei Menschen mit schwerster Behinderung gelten können.

Kompetenzen und Entwicklungsschritte bei schwerster Behinderung lassen sich auf diesem Entwicklungsniveau durch adaptive Kompetenzskalen, die für Kinder, Jugendliche und Erwachsene jeden Alters entwickelt wurden, nicht ausreichend differenzieren. Daher wurden im englischsprachigen Raum für diese Zielgruppe spezifische Kompetenzinventare, z.B. von Kiernan & Jones (1982; »Behaviour Assessment Battery«), entwickelt. Eine aktualisierte Bearbeitung dieser Skalen ist in den Niederlanden in Vorbereitung. Die Skalen sind in fünf Bereiche gegliedert: emotionales und kommunikatives Verhalten, Sprachverstehen, allgemeine Kommunikation, visuelles Verhalten, exploratives Verhalten. Insgesamt umfassen sie 100 Items, die auf den komplexen Unterstützungsbedarf dieser Zielgruppe abgestimmt sind. Zur Beurteilung der konvergenten Validität überprüften Wessels et al. (2020) die korrelativen Zusammenhänge zu der Einschätzung mit herkömmlichen Skalen zur Beurteilung der kommunikativen und motorischen Fähigkeiten bei 52 Kindern (mittleres Alter: 3;1 Jahre) und 26 Erwachsenen (mittleres Alter: 34;2 Jahre) mit schwerster Behinderung (PIMD). Das Einschätzungsverfahren erwies sich als gut tauglich für diese Zielgruppe, ist allerdings (noch) nicht in einer deutschen Version zugänglich.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgten im deutschsprachigen Raum Fröhlich & Haupt (2004) mit dem »Leitfaden zur Förderdiagnostik bei schwerstbehinderten Kindern«. Auch hier ist eine aktualisierte Neuauflage in Vorbereitung (Schäfer et al., i. V.). Die Fähigkeiten, die mit den einzelnen Items erfasst werden, beziehen sich auf die Entwicklungsspanne bis zum Ende des ersten Lebensjahres bei unbeeinträchtigter Entwicklung. Sie sind in neun Bereiche gegliedert (Tab. 1) und in einem vierstufigen Modell angeordnet; die Niveaueinteilung entspricht etwa der Entwicklung in den vier Quartalen des ersten Lebensjahres:

• Niveau 1: hohe Abhängigkeit von einer Bezugsperson, Aufnahme von Information aus der Umwelt nur durch unmittelbaren Körperkontakt

• Niveau 2: aktive Benutzung der Fernsinne Hören und Sehen

• Niveau 3: erste Selbständigkeit im Spielen und Fortbewegen

• Niveau 4: Entwicklung von basalen sozialen Kompetenzen (z.B. Nachahmen)

Tab. 1: Entwicklungsbereiche der Förderdiagnostik mit schwerstbehinderten Kindern (Fröhlich & Haupt, 2004)


Entwicklungsbereiche der Förderdiagnostik mit schwerstbehinderten Kindern (Fröhlich & Haupt, 2004)

Eine Orientierung über die präverbalen Kommunikationsfähigkeiten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit schwerster Behinderung bietet das »Pre-Verbal Communication Schedule« (PVCS; Kiernan & Reid, 1987), das in einer Kurzform als Kopiervorlage in dem Band »Kinder-Diagnostik-System, Band 2: Geistige Behinderung und Tiefgreifende Entwicklungsstörung« (Sarimski & Steinhausen, 2007) in deutscher Sprache zugänglich ist. Es handelt sich um einen Erhebungsbogen mit 82 Items, mit denen folgende Funktionen des kindlichen Kommunikationsrepertoires dokumentiert werden können: Suche nach Aufmerksamkeit, Mitteilung von Wünschen und Bedürfnissen, Ablehnung, positive und negative soziale Kontaktaufnahme, Abstimmung gemeinsamer Aufmerksamkeit, motorische und vokale Imitation, Verständnis für nonverbale Kommunikation und Verständnis von sprachlichen Äußerungen. Bei den meisten Items werden die Eltern gebeten, sie als zutreffend, teilweise zutreffend oder nicht zutreffend zu beurteilen; wenige Items erfordern eine direkte Beobachtung der Reaktionen des Kindes auf eine gestellte Aufgabe. Die Dokumentation ergibt ein differenziertes Bild, welche Mittel ein Kind zu den einzelnen kommunikativen Funktionen einsetzt.

Chatwick et al. (2019) befragten Sprachtherapeuten in England zu ihren Erfahrungen beim Einsatz dieses und anderer standardisierter Erhebungsinstrumente zur Beurteilung der kommunikativen Fähigkeiten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit schwerster Behinderung (PIMD). Sie fanden es nützlich, solche Beurteilungsverfahren bei der Förder- und Therapieplanung einzubeziehen, sahen es aber als erforderlich an, sie durch informelle Beobachtungen der Fähigkeiten der Kinder im Alltag zu ergänzen.

Frühförderung bei schwerster Behinderung

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