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1.2. Theologie versus Philosophie

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Menschen existieren in einer Erfahrungswirklichkeit. Die Erfahrungswirklichkeit wird eröffnet, wird erfahrbar, ist „da“, sobald wir wach, sobald wir bei Bewusstsein sind (von der Möglichkeit des Traumerlebens sei an dieser Stelle abgesehen). Die Erfahrungswirklichkeit ist ein in sich strukturiertes Ganzes, eine Strukturganzheit.

Eine befriedigende naturwissenschaftliche, die biologischen und neuronalen Voraussetzungen und Bedingungen dieser Strukturganzheit bedenkende Erklärung ihrer Emergenz, bzw. ihres „Sich-Eröffnens“, steht noch aus und manche Denker vermuten, aus grundsätzlichen Erwägungen heraus, dass dies so bleiben und es niemals gelingen wird, eine naturalistische bzw. materialistische Geisttheorie zu finden, die den Geist als Naturphänomen, als Kind der Natur zu erklären vermag.

Wollte man versuchen, die Ganzheitlichkeit der Strukturganzheit der Erfahrungswirklichkeit sprachlich zum Ausdruck zu bringen, so wäre Heideggers Begriff des „In-der-Welt-seins“ nicht schlecht gewählt. „Das In-der-Welt-sein, dieses ‚Apriori‘ der Daseinsauslegung ist keine zusammengestückte Bestimmtheit, sondern eine ursprüngliche und ständig ganze Struktur. Sie gewährt aber verschiedene Hinblicke auf die sie konstituierenden Momente. Bei einem ständigen Im-Blick-behalten des je vorgängigen Ganzen dieser Struktur sind die Momente phänomenal abzuheben.“14 Die phänomenologischen Analysen, die Heidegger unternimmt, um diese Momente „phänomenal abzuheben“ bzw. aufzuweisen, können wir hier nicht weiter verfolgen, nur so viel sei gesagt: Die Erfahrungswirklichkeit ist ein Ganzes, in dem das „Selbst“ als derjenige Teil „vorkommt“, der sich auf den Teil, der es nicht selbst ist und den wir „Welt“ nennen dürfen, bezieht. Das Selbst existiert in vielerlei Bezügen zur Welt. Im Vollzug seines Sich-Beziehens erfährt und versteht es nicht nur die Welt, das „Worauf seines Bezogen-Seins“, sondern auch sich selbst in seinem Bezogen-Sein und als dieses Bezogen-Sein. Sören Kierkegaard wird diesen formalen existenzialontologischen Sachverhalt zur Art unserer Selbst-Gegebenheit im 19. Jahrhundert wie folgt ausdrücken: „Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das an dem Verhältnis, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.“15 Selbst- und Welterfahrung jedenfalls gehören zusammen, sind notwendig miteinander verbunden, sie hängen voneinander ab und beide verändern sich und werden auf eine nicht mehr alltägliche Weise erfahren, wenn Menschen ins Fragen kommen, d.h. eine Fragehaltung einzunehmen beginnen.

Ins Fragen kommen Menschen immer dann, wenn sie ihre alltägliche und „zunächst und zumeist“ gegebene Vertrautheit im besorgenden Umgang mit der Welt und mit sich selbst verlieren, wenn „defiziente Modi des Besorgens“16 auftreten, wie Heidegger es nennt. Diese „defizienten Modi“ machen Teile oder das Ganze der Erfahrungswirklichkeit fragwürdig, man erfährt sich selbst in eine Fragehaltung versetzt, spürt das Erwachen von Erkenntnisinteresse und beginnt Fragen zu stellen, an die Welt und auch an sich selbst, das können kleine, lebenspraktische Fragen sein, aber eben auch jene großen Fragen, die die philosophische Metaphysik auf vernunftwissenschaftliche Art zu klären versucht.

In Zeiten vor dem Epoche machenden Schritt vom Mythos zum Logos erzählte man Mythen, um sich diese großen Fragen zu beantworten. Mythen sind Geschichten von dunkeln und hellen Mächten, von Göttern und ihrem Eingreifen in die Belange der Welt, es sind nicht-wissenschaftliche Universal- und Fundamentalerzählungen, Philosophie dagegen – wir hörten davon – ist Universal- und Fundamentalwissenschaft, sie ist um wissenschaftliche, d.h. vernunftwissenschaftliche Antworten bemüht.

Und was im Vergleich zur Philosophie ist die Theologie, die christliche zumal? Auch die Theologie fragt nach dem Universalen, d.h. nach der Erfahrungswirklichkeit im Ganzen und nach dem Fundamentalen, d.h. nach den letzten Wirklichkeitsursachen und Wirklichkeitsgründen und auch sie gibt nicht-empirische Antworten auf diese Fragen und dennoch ist Theologie keine Universal- und Fundamentalwissenschaft wie die Philosophie, vielmehr ist sie eine auf das Universale und Fundamentale abzielende Pseudowissenschaft.

Die Entstehung der abendländischen christlichen Theologie konnte beginnen, als man anfing, priesterliche Gotteserzählungen im Schein von Wissenschaftlichkeit abzuhandeln. Durch einen langen Prozess der Verwissenschaftlichung der christlichen Lehre, man könnte auch sagen, einen Prozess der Anpassung und damit Nutzbarmachung der griechischen Philosophie für die Sache der christlichen Kirche, reifte die Theologie zu der alleinigen, allmächtigen, keine Frage unbeantwortet lassenden Erklärungsinstanz des Spätmittelalters heran. An diesem Adaptationsvorgang arbeitete ein Heer von philosophisch geschulten Männern des Glaubens – an erster Stelle zu nennen sind Augustinus, Albertus Magnus und Thomas von Aquin.

Wir wollen versuchen, den Unterschied zwischen Philosophie und Theologie noch etwas deutlicher zu fassen und stellen deshalb mit Arno Anzenbacher die Frage: „Warum ist aber die Theologie nicht in gleicher Weise Vernunftwissenschaft wie Philosophie?“17 Seine Antwort lautet: Weil Theologie Aussagen kennt, „die nicht aus bloßer Vernunft aufgewiesen werden“, Aussagen, die sich „unverfügbar“ von einem „Sinn-Grund“ herschreiben, der sich nur Auserwählten offenbart. Philosophische Metaphysik dagegen bleibt jederzeit, auch dann, wenn man mit Kant einräumen muss, dass sie nur „vernünftelt“, in Reichweite der Vernunftkritik, Aussagen der theologischen Metaphysik hingegen sind „übervernünftig“ und somit dem Vernunftdiskurs entzogen.

Philosophie ist keine Theologie, genau darauf wollten sich Renaissance-Philosophen vom Schlage Brunos wieder besinnen. Zwar stellen beide Disziplinen, anders etwa als die Kunst, ihre „Wahrheit nicht in sinnfälligen Symbolen und konkreten Gestaltungen dar, sondern in Begriffen“18 und beide bemühen sich, aus ihren Begriffen und ersten Sätzen „deduktiv-dogmatisch“, wie die Wissenschaftstheorie es nennen würde, Theorien abzuleiten, doch die Theorien und zentralen Inhalte der christlichen Theologie stehen schon fest, ihre Begriffe und Sätze müssen sich diesem Feststehenden fügen, sind also letztlich aus einer ganz anderen Erkenntnisquelle geschöpft als diejenigen der Philosophie.

Philosophie ist Selbsterhellung und keine durch Gnade oder Offenbarung gewährte Erhellung, sie „begibt sich“ – so hat es Heidegger einmal ausgedrückt – „der Möglichkeit des sich Haltens an Offenbarung“19. Theologie aber tut genau das. Theologie will Offenbarungswissenschaft sein und will nicht gelten lassen, dass darin ein Widerspruch liegt. Philosophisches Fragen, auch wo es nur spekulierend voranschreitet, „vollzieht sich ausschließlich als Anstrengung der menschlichen Vernunft. Demnach schließt die Philosophie alle jene Aussagen aus, die nicht aus bloßer Vernunft allein aufgewiesen werden“20. Im Gegensatz dazu ist offenbartes Wissen unangreifbar, liegt außerhalb des von der Vernunft selbst zu verantwortenden Denkbereiches. Letzte Instanz der Theologie ist immer Gott, bzw. eine vermeintlich göttliche Vernunft, „letzte Instanz der Philosophie ist die menschliche je eigene Vernunft.“21

Ein weiteres Kennzeichen philosophischer Vernunft ist ihre Entwurfsfreiheit, man könnte auch sagen Verspieltheit. Philosophie ist unvoreingenommen vernünftig, ihre Neugier nimmt sich die Freiheit, auf der Grundlage neuer Prämissen zu denken und auf diese Weise neue Möglichkeiten des Verstehens auszuloten. Theologie dagegen legt sich fest, ihre Grundsätze und ihre Wahrheit sind in Stein gemeißelt und sie verbittet sich jegliche Kritik daran. Philosophie hingegen fordert Kritik an ihren Theorien ein, sie sucht den Dialog, die Disputation und bleibt so stets dem Risiko ausgesetzt, dass ihre Theorien durch bessere Argumente widerlegt und von neuen Theorien abgelöst werden.

Philosophie ist Ideologiekritik, sie bleibt kritisch und streitbar gegenüber dem vermeintlich Unumstrittenen. Sie ist immer bereit zu zweifeln, das macht sie so ruhelos. Ihr Zweifel will nicht zerstören, aber er stört und wird so zum Motor eines nicht endenden Weiterfragens. Dadurch hält sich eine Dynamik des unablässigen Wechsels von Erkenntniszuversicht und Erkenntnisfrust in Gang. Schon Platon wusste davon und auch Bruno wird den epistemischen und emotionalen Schaukelgang des Philosophietreibens in seinem Werk „Von den heroischen Leidenschaften“ (im Folgenden mit „HL-Schrift“ abgekürzt) thematisieren. Beide Denker beschreiben die Weisheitsliebe als unentwegten Weg, als chronischen Prozess des Suchens, Findens und wieder Verlierens philosophischer Wahrheit. Im platonischen „Gastmahl“ heißt es über den Dämon Eros, die personifizierte Philosophie: „Einerseits ist er stets arm, gar nicht zart und schön, wie man allgemein glaubt, sondern hart und struppig, barfuß und unbehaust; er schläft stets auf der Erde ohne Decke, übernachtet vor der Tür und auf der Straße im Freien; darin ist er wie seine Mutter, und die Not wohnt immer bei ihm. Aber vom Vater hat er, dass er immer dem Schönen und Guten auflauert, mannhaft, verwegen und beharrlich, als großer Jäger, immerfort Listen spinnend, ein Erkenntnis-Sucher und Weg-Finder, Weisheit liebend sein Leben lang, ein mächtiger Zauberer, Hexenmeister und Sophist. Er ist nicht wie ein Unsterblicher und nicht wie ein Sterblicher: Bald blüht er und lebt, sobald er seinen Weg findet, nach der Weise seines Vaters aber stets verliert er wieder die Bahn. So ist Eros nie arm und nie reich, auch zwischen Weisheit und Torheit steht er in der Mitte.“22

Bruno hat den Unterschied zwischen der philosophischen, den Zweifel und die Verunsicherung nie ganz ablegenden Wahrheitssuche und der theologischen Wahrheitsverwaltung, die Zweifel und Verunsicherung nicht zulässt, mit seinem Leben und Wirken bezeugt und sichtbar gemacht und ist zum Märtyrer des freien Denkens geworden. Er wollte sich das unabhängige, nur der Vernunft verpflichtete Nachdenken über Natur, Mensch, Gott nicht verbieten lassen und das zu einer Zeit und in einer Gelehrtenwelt, in der die Kirche und ihre Theologen das letzte Wort hatten und sich nicht scheuten, diesem Wort mit Gewalt Geltung zu verschaffen.

Bruno, aber auch andere Denker trotzten der kirchlichen Drohkulisse. Ihnen ist die Wiederbelebung echter Philosophie zu verdanken, ohne diese Wiederbelebung wäre der Aufbruch in die Neuzeit, wenn es ihn überhaupt gegeben hätte, anders ausgefallen. Mutigen Denkern wie Bruno ist zu verdanken, dass philosophische Wissenschaft wieder blühen konnte, wie sie schon einmal blühte in vorchristlicher Zeit, bevor sie zur vielzitierten „ancilla theologiae“ des christlichen Mittelalters wurde, weil man sie von der Verpflichtung zur je eigenen Vernunft zwangsentbunden hatte, weil man ihre Kritikbereitschaft nicht duldete und weil man ihr den Zweifel austrieb, so dass sie gefügig gemacht wurde und am Gängelband theologisch-christlicher Dogmen gehalten werden konnte.

Giordano Bruno - Märtyrer der Gedankenfreiheit

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