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Die ursprüngliche Kuznets-Kurve: Das BIP als Maß für den Fortschritt
ОглавлениеSimon Smith Kuznets wurde 1901 in Pinsk, einer Stadt im damaligen Russischen Reich, als Sohn jüdischer Eltern geboren.3 Schon in der Schule zeigte er eine Begabung für Mathematik und studierte an der Universität von Charkiw (heutige Ukraine) Wirtschaftswissenschaften und Statistik. Doch trotz seiner vielversprechenden Studienerfolge sollte er nach Erreichen des Erwachsenenalters nicht in seinem Geburtsland bleiben. 1922 gewann die Rote Armee von Wladimir Lenin einen jahrelangen Bürgerkrieg in Russland. Als die Sowjetunion im Entstehen begriffen war, emigrierte Kuznets, wie Tausende andere, in die Vereinigten Staaten. Dort promovierte er zunächst in Wirtschaftswissenschaften an der Columbia University und ging dann zum National Bureau of Economic Research (NBER), einem angesehenen ökonomischen Think Tank. Hier begann er seine glanzvolle Karriere.
Sein Timing war tadellos. In den Jahrzehnten nach seiner Ankunft wuchsen die USA zur führenden Weltwirtschaft heran. Kuznets half dem Land, diese neue Position sinnvoll zu nutzen. Er leistete Pionierarbeit für Schlüsselkonzepte, die bis heute die Wirtschaftswissenschaft und -politik dominieren, wie das Volkseinkommen (ein Vorläufer des BIP) und das jährliche Wirtschaftswachstum, und wurde auf diesem Weg zu einem der prominentesten Ökonomen der Welt.
Die Wirtschaftsentwicklung der Vereinigten Staaten verlief in jenen Jahren turbulent. In den 1920er-Jahren befand sich das Land in einem wirtschaftlichen Hoch; es kam schwungvoll aus dem Ersten Weltkrieg. Die USA traten als politische und wirtschaftliche Macht auf und stellten sich neben ein bereits geschwächtes Britisches Empire. Großbritannien hatte die Welt während der ersten industriellen Revolution dominiert und beherrschte bis 1914 ein Drittel der Welt. Amerika wurde stattdessen zum Vorreiter der Zweiten Industriellen Revolution, die nach dem Ersten Weltkrieg erst richtig in Schwung kam. US-Hersteller brachten Waren wie das Auto und das Radio auf den riesigen Binnenmarkt des Landes und verkauften sie an eine Öffentlichkeit, die nach modernen Gütern hungerte. Auch dank des Freihandels und der kapitalistischen Prinzipien kam es zu einer positiven Spirale aus Investitionen, Innovationen, Produktion, Konsum und Handel, und so wurde Amerika zum reichsten Land der Welt, gemessen am Pro-Kopf-BIP.
Doch das berauschende Erlebnis der »Roaring Twenties« schlug in die verhängnisvolle Große Depression um. 1929 geriet die boomende Wirtschaft außer Kontrolle. Die Ungleichheit war enorm: Eine Handvoll Einzelpersonen, wie John D. Rockefeller, kontrollierte riesige Mengen an Reichtum und wirtschaftlichen Vermögenswerten, während viele Arbeiter eine äußerst prekäre Existenz führten, oft immer noch abhängig von Gelegenheitsjobs und landwirtschaftlichen Ernten. Darüber hinaus bedeutete ein ständig steigender Aktienmarkt, der nicht durch eine vergleichbare Entwicklung in der Realwirtschaft gestützt wurde, dass die Finanzspekulation einen fieberhaften Höhepunkt erreichte. Ende Oktober 1929 kam es zu einem kolossalen Zusammenbruch des Aktienmarktes, der eine Kettenreaktion auf der ganzen Welt in Gang setzte. Die Menschen kamen ihren Verpflichtungen nicht nach, die Kreditmärkte trockneten aus, die Arbeitslosigkeit schnellte in die Höhe, die Verbraucher stellten ihre Ausgaben ein, der Protektionismus nahm zu und die Welt stürzte in eine Krise, von der sie sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg erholen sollte.
Als sich die US-Politiker mit der Frage beschäftigten, wie sie die Krise im eigenen Land eindämmen und beenden könnten, fehlte ihnen die Antwort auf eine grundlegende Frage: Wie schlimm ist die Situation wirklich? Und können wir erkennen, ob unsere politischen Antworten funktionieren werden? Wirtschaftliche Messgrößen waren rar, und das BIP – das Maß, mit dem wir heute unsere Wirtschaft bewerten – war noch nicht erfunden.
Hier kommt Simon Kuznets ins Spiel. Als Experte für Statistik, Mathematik und Wirtschaftswissenschaften entwickelte er eine Standardmethode zur Messung des Bruttonationaleinkommens (BNE) oder Bruttosozialprodukts (BSP) der Vereinigten Staaten. Er war überzeugt, dass diese Maßnahme eine bessere Vorstellung davon vermitteln würde, wie viele Waren und Dienstleistungen von amerikanischen Unternehmen in einem bestimmten Jahr produziert wurden. Einige Jahre später wurde er auch zum geistigen Vater des eng damit verbundenen Bruttoinlandsprodukts (BIP), indem er das leicht abweichende Konzept 1937 in einem Bericht an den US-Kongress vorstellte.4 (Das BIP berücksichtigt nur die im Inland produzierten Waren und Dienstleistungen, während das BNE oder BSP auch Einkommen oder Produkte einschließt, die im Ausland von Unternehmen produziert werden, die Eigentum von Bürgern des betreffenden Landes sind.)
Es war ein Geniestreich. Im weiteren Verlauf der 1930er-Jahre trugen andere Ökonomen dazu bei, dieses Maß für die Wirtschaftsleistung so weit zu standardisieren und zu verbreiten, dass das BIP bis zur Bretton-Woods-Konferenz 1944 als Hauptinstrument zur Messung der Wirtschaftsleistung anerkannt wurde.5 Die damals verwendete Definition des BIP ist auch heute noch gültig: Das BIP ist die Summe des Wertes aller in einem Land produzierten Güter, bereinigt um die Handelsbilanz des Landes. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das BIP zu messen, aber die gängigste ist wohl der sogenannte Ausgabenansatz. Hierbei wird die gesamte Bruttoinlandsproduktion als die Summe der daraus resultierenden Konsumausgaben (bereinigt um Exporte und Importe) berechnet:
Seitdem ist das BIP die Messgröße, die in den Berichten der Weltbank und des IWF über ein Land zu finden ist. Wenn das BIP wächst, gibt es den Menschen und Unternehmen Hoffnung, und wenn es sinkt, ziehen die Regierungen alle politischen Register, um den Trend umzukehren. Trotz Krisen und Rückschlägen war die Geschichte der Weltwirtschaft insgesamt eine Geschichte des Wachstums, sodass der Gedanke, dass Wachstum gut ist, die Oberhand gewann.
Doch diese Geschichte hat ein bitteres Ende, und wir hätten es voraussehen können, wenn wir besser auf Simon Kuznets gehört hätten. Im Jahr 1934, lange vor dem Bretton-Woods-Abkommen, warnte Kuznets den US-Kongress davor, sich zu sehr auf das BSP/BIP zu konzentrieren: »Das Wohlergehen einer Nation kann kaum aus einem Maß für das Nationaleinkommen abgeleitet werden«, sagte er.6 Damit hatte er Recht. Das BIP sagt etwas über den Konsum, aber es sagt nichts über das Wohlbefinden aus. Es sagt etwas über die Produktion, aber nicht über die Verschmutzung oder den Ressourcenverbrauch aus. Es sagt etwas über Staatsausgaben und private Investitionen, aber nicht über die Lebensqualität aus. Die Oxford-Ökonomin Diane Coyle erklärte uns in einem Interview im August 2019,7 dass das BIP in Wahrheit »eine Kriegszeit-Metrik« sei. Es sagt Ihnen, was Ihre Wirtschaft produzieren kann, wenn Sie im Krieg sind, aber es sagt Ihnen nicht, wie Sie die Menschen im Frieden glücklich machen können. Trotz der Warnung hat niemand zugehört. Die Politik und die Zentralbanken taten alles, um das BIP-Wachstum zu fördern. Jetzt sind ihre Bemühungen erschöpft. Das BIP wächst nicht mehr wie früher, und der Wohlstand steigt schon lange nicht mehr. Ein Gefühl der permanenten Krise hat die Gesellschaften erfasst, und das vielleicht aus gutem Grund. Wie Kuznets wusste, hätten wir niemals das BIP-Wachstum zur einzigen Richtschnur der Politik machen dürfen. Doch leider sind wir an genau diesem Punkt angelangt. Das BIP-Wachstum ist unsere wichtigste Messgröße und es hat sich dauerhaft verlangsamt.