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cc) Erlaubtes Risiko als Grenze
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„Eine Unsitte, welche den durch die allgemeinen Verkehrsrücksichten auferlegten Pflichten zuwiderläuft, kann ihre Berechtigung nicht darin finden, dass sie in einem mehr oder minder großen Kreis geübt wird“.[35] Deshalb kommt es – und insoweit herrscht Einigkeit – nicht darauf an, „ob eine medizinisch zur Abwendung eines erheblichen Gesundheitsrisikos für erforderlich gehaltene Behandlungsmaßnahme in der Praxis allgemein durchgeführt wird, sondern nur darauf, ob von dem behandelnden Arzt“ das entsprechende Wissen verlangt und die ärztliche Maßnahme mit den vorhandenen technischen Mitteln vorgenommen werden konnte.[36] Auch eine langjährige Übung ohne Zwischenfälle, die von dem bestehenden medizinischen Minimalstandard nachteilig abweicht, vermag nicht zu entlasten, wenn eine Komplikation eintritt und zu schweren gesundheitlichen Schäden führt.[37]
Zum Teil heißt es in der Rechtsprechung auch, der Arzt schulde „dem ihm anvertrauten Patienten die schnellstmögliche Anwendung der wirksamsten Therapie“,[38] doch ist vor einer Überspannung der Sorgfaltspflichten zu warnen, „insbesondere dort […], wo die Vornahme einer riskanten Handlung der Befriedigung oder Erhaltung wichtiger sozialer Interessen dient“.[39] Sorgfaltswidrig ist vielmehr auch nach dem Maßstab der Rechtsprechung nur die Überschreitung des erlaubten Risikos.[40] Die §§ 222, 229 StGB bedeuten keine Totalvermeidegebote, die jedes gefährliche Verhalten bei Strafe untersagen. Die Rechtsprechung bemüht sich im Strafrecht verstärkt, aber noch deutlich ausbaufähig,[41] die Situation des Handelnden ernsthaft nachzuvollziehen und die Pflichtwidrigkeit seines Handelns nicht ex post aus einem eingetretenen Schadensfall herzuleiten (sog. Rückschaufehler).[42] Beispielhaft führt der Gedanke des erlaubten Risikos dazu, dass Ärzte im Maßregelvollzug nicht schlechthin jedes Tatrisiko ausschließen können müssen, wenn sie für eine Lockerung votieren.[43] Regelmäßig liegt aber ein unerlaubtes Risiko vor, wenn sich jemand auf Handlungen einlässt, deren Gefahren er nicht zu beherrschen weiß (sog. Übernahmeverschulden).[44]