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dd) Einschränkungen der Therapiefreiheit
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Die „Wahl der Behandlungsmethode ist also primär Sache des Arztes,“[124] sie ist seine „höchstpersönliche Entscheidung“ innerhalb eines rechtlich nicht nachprüfbaren Beurteilungsspielraums.[125] Sie belässt dem Arzt „einen von ihm zu verantwortenden Risikobereich“ im Rahmen der „Regeln der ärztlichen Kunst“.[126] Die Praktizierung einer „vertretbaren Heilmethode“ ist in diesem Sinne straflos.[127] Denn mangels Sachkompetenz kann – und darf deshalb auch – nicht das Gericht darüber entscheiden, welchem der in Rede stehenden Heilverfahren der Vorzug gebührt,[128] und damit den Inhalt des Standards bestimmen. Es kann vielmehr nur „in einer Art Grenzkontrolle“ die Mindesterfordernisse für die objektiv gebotene Sorgfalt bei der Ausübung ärztlicher Tätigkeit festlegen.[129] Die rechtliche Anerkennung der Therapiefreiheit bedeutet aber auch „keinen Freibrief für Gewissenlosigkeit“, keine schrankenlose Therapiewahl, vielmehr muss der Heilung suchende Patient „vor unverantwortlichem Kurpfuschertum und Dilettantismus“ geschützt,[130] die erforderliche Sorgfalt also „auch von nichtärztlichen Heilbehandlern ebenso wie von approbierten Ärzten beobachtet werden“.[131] Daraus ergeben sich im Ergebnis weitreichende Einschränkungen der Therapiefreiheit. Der Meinungsstand lässt sich unter Auswertung der höchstrichterlichen Judikatur wie folgt zusammenfassen:
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1. | „Ist bei einer bestimmten Krankheit ein Mittel im Verhältnis zu allen anderen als besonders wirksam anerkannt, so sind Ärzte und andere Heilbehandler grundsätzlich verpflichtet, es anzuwenden; auch der Anhänger eines anderen Heilverfahrens darf in solchen Fällen nicht die besseren Erfolge der von der eigenen abweichenden Richtung außer Acht lassen“.[132] „Die Freiheit des Arztes, sich für eine bestimmte Methode zu entscheiden, endet jedenfalls dort, wo die Überlegenheit eines anderen Verfahrens allgemein anerkannt ist“.[133] |
2. | Etwas anderes gilt jedoch, wenn der Arzt „aus sachlichen Gründen“ das ihm als wirksam bekannte Mittel nicht einsetzt, „weil er hiervon erhebliche anderweitige Gefahren für den Kranken befürchtet“, oder aus anderen, „wohlerwogenen“, d.h. rational auch für einen objektiven Dritten einsehbaren Gründen, gerade im konkreten Fall „an diese Wirksamkeit nicht glaubt“.[134] |
3. | Diese Freiheit des Arztes darf jedoch nicht in Starrsinn, Leichtsinn oder Unsachlichkeit münden: Erkennt der Arzt „oder muss er bei pflichtgemäßer Aufmerksamkeit aufgrund bestehender Symptome erkennen, dass seine Heilmethode bzw. seine Fähigkeiten und Kenntnisse in einem bestimmten Fall nicht ausreichen, so muss er, namentlich bei gefährlichen Krankheiten, wenn für deren Behandlung noch ein anderes, weit verbreitetes und erprobtes Verfahren in Frage kommt, entweder dieses anwenden“[135] oder die Behandlung „ändern bzw. aufgeben“, zumindest aber „einen Facharzt hinzuziehen“.[136] Dasselbe gilt für die Diagnose: Der Anhänger einer bestimmten Außenseitermethode muss prüfen, ob nicht im Einzelfall die klassischen Diagnoseverfahren den Vorzug verdienen, weil sie unter Berücksichtigung aller Umstände großen Erfolg versprechen.[137] Der Operateur darf eine Außenseitermethode nur anwenden, wenn er „über besondere Erfahrungen“ damit verfügt und „das Für und Wider“ dieses Verfahrens mit dem Patienten erörtert hat (siehe schon Rn. 91).[138] Deutet er die Krankheitssymptome „in völlig unvertretbarer, der Schulmedizin entgegenstehender Weise“ und unterbleibt „eine Überprüfung der ersten Diagnose im weiteren Behandlungsverlauf“, obwohl sich der Zustand des Patienten nicht bessert, liegt hierin ein Pflichtverstoß.[139] Die Therapiefreiheit gilt nur für medizinisch vertretbare Diagnose- und Therapieentscheidungen,[140] für Außenseitermethoden und bei fehlendem Standard ist der Maßstab eines „vorsichtigen“ Arztes anzulegen.[141] |
4. | Stehen (noch) keine allgemein medizinisch-wissenschaftlich anerkannten Behandlungsmethoden zur Verfügung oder sind sie im Einzelfall aus bestimmten Gründen nicht einsetzbar, „gebieten es die Regeln der ärztlichen Kunst, dass der behandelnde Arzt bei seinen nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffenden Therapieentscheidungen auch solche Behandlungsmaßnahmen in Erwägung zieht, deren Wirksamkeit zwar (noch) nicht gesichert ist, aber nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft für möglich gehalten werden muss“.[142] Voraussetzung ist dabei natürlich stets die besonders sorgfältige, kritische Abwägung der Vor- und Nachteile sowie aller in Frage kommenden Risiken.[143] |
5. | Das Arzneimittelgesetz schränkt die therapeutische Freiheit nicht ein, d.h. es ist nicht verboten, ein zugelassenes Medikament, das gegen bestimmte Erkrankungen „auf dem Markt“ ist, auch gegen andere Krankheiten, also außerhalb seines Zulassungsbereichs „off label“[144] einzusetzen, wenn dies medizinisch geboten, das Präparat z.B. schon erprobt und ohne schädliche Nebenwirkungen ist.[145] „Der individuelle Heilversuch mit einem zulassungspflichtigen, aber [in der BRD] noch nicht zugelassenen Medikament wird durch das Arzneimittelgesetz nicht verboten,“[146] allerdings muss irgendeine Zulassung, z.B. der USA vorliegen. Dem Arzneimittel fehlt zwar in der BRD die Verkehrsfähigkeit, doch dieser Mangel bedeutet nicht zugleich ein Anwendungsverbot, da die unmittelbare Anwendung am Patienten keine Abgabe im Sinne des AMG darstellt (§ 4 Abs. 17 AMG).[147] Der einzelne Arzt ist somit weder arzneimittelrechtlich noch berufsrechtlich gehindert, „bei seinen Patienten auf eigene Verantwortung“ ein Arzneimittel für eine Therapie anzuwenden, für die es nicht zugelassen ist“.[148] Der zulassungsüberschreitende Einsatz eines Mittels kann auch durch Notstand – als ultima ratio zur Abwendung einer Lebensgefahr für den Patienten – gerechtfertigt sein,[149] u.U. sogar zur Pflicht werden.[150] Das BVerfG[151] hat diese Auffassung in seinem berühmten und in § 2 Abs. 1a SGB V anerkannten sog. Nikolaus-Beschluss bestätigt und ausdrücklich betont, es sei mit der grundgesetzlich garantierten allgemeinen Handlungsfreiheit, dem Sozialstaatsprinzip und dem Grundrecht auf Leben unvereinbar, einem gesetzlich versicherten Patienten eine Therapie vorzuenthalten, „wenn für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung“ steht, der gewünschte Therapieansatz aber eine „nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf“ biete. Hierfür trifft allerdings den Arzt die Beweislast, z.B. durch Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III.[152] Im Übrigen muss er den Patienten über die Nichtzulassung des Medikaments und die möglicherweise nicht gegebene Kostenerstattung sowie fehlende Gefährdungshaftung des Herstellers nach § 84 AMG aufklären.[153] Denn die Zulassung eines Arzneimittels stellt ein „Gütesiegel“[154] dar und schafft einen Vertrauenstatbestand, d.h. der Patient darf sich darauf verlassen, „dass die Nutzen-Risiko-Bilanz aufgrund der vom Hersteller geführten Nachweise und der Prüfung des Bundesgesundheitsamts positiv zu bewerten ist“.[155] |
6. | Behandelt der Arzt seine Patienten nach den bereits vorhandenen medizinischen Erkenntnissen so, „wie es seiner fachlichen und durch ausreichendes Wissen fundierten Überzeugung entspricht,“[156] scheidet eine Pflichtverletzung aus. Dasselbe gilt, wenn ein Spezialist nach gewissenhaftem Abwägen des Für und Wider einen noch wenig erprobten, seiner Meinung nach aber allein Erfolg versprechenden Eingriff wagt oder eine noch unbekannte bzw. von Fachkollegen bestrittene Methode nach gründlichem wissenschaftlichem Studium und sorgfältigem Methodenvergleich einsetzt. Dabei muss der Grundsatz der „Verhältnismäßigkeit zwischen Ziel und Gefahren der von ihm angewandten Methode“ gewahrt bleiben.[157] Ausdrücklich betonte der BGH,[158] dass „die Anwendung neuer Verfahren für den medizinischen Fortschritt zwar unerlässlich“ sei, aber „die Anwendung einer neuen Behandlungsmethode nur dann erfolgen“ dürfe, „wenn die verantwortliche medizinische Abwägung oder ein Vergleich der zu erwartenden Vorteile dieser Methode und ihrer abzusehenden und zu vermutenden Nachteile mit der standardgemäßen Behandlung unter Berücksichtigung des Wohles des Patienten die Anwendung der neuen Methode rechtfertigt“. |
7. | Deshalb verlangt das Recht noch ein Zweites: Der Arzt, der Neuland betritt, dem das neue Instrumentarium bzw. die neue Technik und ihre Handhabung noch ungewohnt ist, hat alle patientenfernen Übungsmöglichkeiten auszuschöpfen, bevor er in eigener Verantwortung die neue Diagnose- oder Behandlungsmethode am Patienten anwendet“.[159] Auch ein erfahrener, qualifizierter Operateur muss sich bewusst sein, dass ihm bei der Anwendung neuer Verfahren Übung und Routine fehlen und mit dem Mangel an Erfahrung die Komplikationsrate zunimmt. Dies bedeutet: Wer neue Behandlungsverfahren einführt, muss von anderen lernen, an Kursen, Workshops sowie technischem Training in entsprechenden Zentren teilnehmen, alle Einzelschritte gründlich erproben, die einschlägige Fachliteratur studieren, Empfehlungen wissenschaftlicher Gesellschaften, von Berufsverbänden oder Expertengremien sorgfältig lesen, geschultes Assistenzpersonal zur Verfügung haben und die Indikation zurückhaltend stellen. Unabdingbar ist ferner, dass der erste Einsatz unter Assistenz und Anleitung eines in dieser Technik Erfahrenen erfolgt, so dass Expertenqualität gewährleistet ist. Ein Verstoß gegen diese Sicherheitsvorkehrungen führt für den Fall eines vermeidbaren Zwischenfalls mit tödlichen Folgen oder Gesundheitsschäden zum Vorwurf des Übernahmeverschuldens mit möglichen zivil- und strafrechtlichen Konsequenzen (siehe dazu Rn. 123). Denn absolute Priorität vor allen anderen Aspekten haben Schutz und Sicherheit des Patienten.[160] |
8. | Zu beachten ist schließlich: „Therapiefreiheit“ besteht nur hinsichtlich „gleich wirksamer Methoden, bei denen insgesamt von einem ähnlichen Risikoniveau auszugehen ist. Sie ist jedoch abzulehnen bei deutlichem Risikogefälle“.[161] Denn es gilt grundsätzlich das Verbot der Risikoerhöhung, so dass es zur Behandlungspflicht des Arztes gehört, unter mehreren medizinisch anerkannten Vorgehensweisen diejenige zu wählen, die das geringste Risiko für den Patienten mit sich bringt. „Grundsätzlich“ bedeutet jedoch nicht „ausnahmslos“, d.h. der Arzt muss nicht „stets den sichersten therapeutischen Weg“ einschlagen. Qualitätsstandard ist nicht gleich „Standardbehandlung“, vielmehr können „Besonderheiten des Falles oder ernsthafte Kritik“ ein Abweichen von der hergebrachten Methode fordern. Das Eingehen eines höheren Risikos muss allerdings „in den besonderen Sachzwängen des konkreten Falles oder in einer günstigeren Heilungsprognose seine sachliche Rechtfertigung finden“.[162] Nur unter dieser Prämisse ist der Arzt berechtigt, „neue Methoden in die Behandlung einzuführen, und nicht verpflichtet, strikt an den allgemein anerkannten Methoden festzuhalten,“[163] selbst wenn gewisse Risiken, Nebenwirkungen und Folgen mit dem neuen Verfahren verbunden sind, die sich aus dessen besonderer Art und Unerprobtheit ergeben.[164] Besondere Vorsicht ist hier allerdings geboten.[165] |