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Kaiserliche Vorfahren
ОглавлениеDie Traditionen der Vorfahren haben, selbst wenn man sich ihrer nur mehr schwach erinnert, großen Einfluss auf das Leben von Familien. Mögen Jugendliche sich familiären und verwandtschaftlichen Zwängen auch zu entziehen suchen, sind sie doch durch tief verwurzelte Strukturen geprägt, etwa im Blick auf Zugehörigkeiten wie nationale und regionale Bindungen, soziales Milieu und Religion. Direkter geben Großeltern berufliche Vorlieben, Verhaltensmaßregeln und materielles Erbe weiter. Am unmittelbarsten prägen die Eltern durch ihr Vorbild und ihre Persönlichkeit, durch berufliche Erfolge wie Fehlschläge die Chancen und Werturteile ihrer Kinder. Es ist dieser unsichtbare Ballast, den Pastor Erich Helmer anspricht: „Tragen wir nicht alle einen großen oder weniger großen Tornister, in dem wir das eingepackt haben, was uns das Leben beschert hat?“ Dieser Tornister entscheidet über spätere Lebenswege, auch wenn das den meisten Menschen kaum bewusst ist.1
Lebensrahmen und Chancen der nach dem Ersten Weltkrieg geborenen deutschen Kinder gründen in der „Kaiserzeit“, in der Rückschau gern als „die gute alte Zeit“2 bezeichnet. Die Berliner Verkäuferin Edith Schöffski erinnert sich, dass auf dem Land „die Menschen … zufrieden und oft auch glücklicher als heute“ waren. Das Leben schien wohlgeordnet und vorhersehbar. „Sonntags wurde – wenn nicht dringend auf dem Feld zu tun war – nur das Nötigste getan. Nachmittags saßen die Frauen mit Nachbarn oder Vorbeikommenden auf der Bank vor dem Haus, erzählten oder hingen ihren Gedanken nach. Das war der Lohn für die arbeitsreiche Woche.“3 In den reicheren Städten kam bei bürgerlichen Familien sonntags der sprichwörtliche Sonntagsbraten auf den Tisch, danach promenierte man im besten Staat durch einen nahe gelegenen Park, und nachmittags gab es Kaffee und Kuchen. Es war eine festgefügte, sichere Welt, in der alles seinen Platz zu haben schien.
Obwohl die Lebensbedingungen sich im Großen und Ganzen verbesserten, zeigen die Autobiografien, dass die Unterschichten die Vorkriegsjahrzehnte im Kaiserreich dagegen als eine „Zeit, die voll Armut und Not war“, erlebten. Während viele Geschäftsleute sich über steigende Einkünfte freuen konnten und Akademiker die gesellschaftliche Wertschätzung ihres beruflichen Titels genossen, kamen kleine Ladenbesitzer und Handwerker nur so gerade über die Runden.4 Für Dienstmägde und Knechte auf dem Land blieb es ein hartes Leben, wie Edith Schöffski beschreibt: „Das karge Essen reichte gerade zum Leben und Arbeiten. Zwölf bis vierzehn Stunden mußte man am Tag arbeiten. Freizeit gab es nicht.“5 In den Städten lebten proletarische Familien in feuchten Mietwohnungen, die die Gesundheit gefährdeten. Ihre Kinder wurden in der Schule geschlagen, um Zucht und Ordnung durchzusetzen. Der Ingenieur Karl Härtel erinnert sich, dass sein Vater, ein Arbeiter in einem Elektrizitätswerk, „an mehr als 50 Stunden in der Woche mit einer überdimensionierten Schaufel unablässig Kohlen in den unersättlichen Schlund eines Heizkessels“ warf.6 Die glänzende Fassade wachsender imperialer Macht und Prosperität hatte eine Schattenseite, die von harter Arbeit und elementarer Rechtlosigkeit geprägt war.
Historiker haben endlos darüber gestritten, ob das Kaiserreich im Kern reaktionär oder fortschrittlich war. Westdeutsche Apologeten hoben anfangs auf die positiven Aspekte ab, während ostdeutsche Marxisten Preußen als Unterdrücker-Staat brandmarkten – was u.a. den Abriss der königlichen Schlösser in Potsdam und Berlin rechtfertigte. Angeregt durch den Protest der 68er, entwickelten kritische bundesrepublikanische Historiker wie Hans-Ulrich Wehler die Theorie vom deutschen „Sonderweg“: Die verspätete Modernisierung des wilhelminischen Deutschland sei abgewichen von westlichen Demokratievorstellungen, das Deutsche Kaiserreich habe eine Politik des „Sozialimperialismus“ verfolgt. Andere verwiesen wie Thomas Nipperdey dagegen auf Fortschritte in punkto Rechtsstaatlichkeit sowie in Wissenschaft und Kultur, während britische Historiker betonten, dass die Mittelschicht mehr Macht gehabt habe, als gemeinhin angenommen.7 Die ganze Debatte über einen deutschen „Sonderweg“ ist jedoch ziemlich ergebnislos geblieben, weil es letztendlich Belege für beide Sichtweisen gibt.
Die lebhaften Erinnerungen der in den 1920er-Jahren geborenen Kinder eröffnen eine alternative Sicht auf das wilhelminische Deutschland, weil sie die Vorstellungen von einfachen Leuten an diese Epoche wiedergeben. Geprägt von den Erzählungen ihrer Großeltern, schuf das Bild des Kaiserreichs Ausgangserwartungen, auf deren Folie spätere Erfahrungen beurteilt wurden. Der Förster Horst Andrée erinnert sich, dass „bei Familienzusammenkünften … immer von unseren Vorfahren gesprochen [wurde]: Wer sie waren, wo sie herkamen, wo sie lebten und welche Berufe sie hatten.“ Aber auch wenn „aus Urkunden, alten Briefen und Fotografien“ sowie aus Gegenständen der materiellen Kultur eine Familienerinnerung konstruiert werden konnte, die erklärte, wer man war, blieben „doch noch viele Fragen offen“. Im Gegensatz zu Geschichten, die mündlich weitergegeben werden, sind Autobiografien ein bewusster Versuch, Traditionen schriftlich festzuhalten, damit sie dem eigenen Nachwuchs „bessere Einblicke als unserer Generation bieten“.8