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ERFAHRUNGEN UND ERINNERUNGEN

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Die vorliegenden Schilderungen deuten darauf hin, dass die überwältigende Mehrzahl der Deutschen im 20. Jahrhundert ihr Leben als zerrissen und oftmals unwiederbringlich zerrüttet erlebt hat. Während das erste Jahrzehnt noch Hoffnung auf kontinuierlichen Fortschritt weckte, löste der Erste Weltkrieg eine verhängnisvolle Ereigniskette aus, die viele Lebenspläne zerstörte. Die politischen Konflikte Weimars entzweiten Familien, indem sie sie zwangen, sich für eine ideologische Seite zu entscheiden. Die wirtschaftliche Instabilität schuf ein verbreitetes Gefühl der Unsicherheit, die allzu viele Menschen an die Verheißungen einer rassistischen Diktatur glauben ließ. Der Massenmord und das massenhafte Sterben während der Weltkriege bereiteten Millionen Leben ein vorzeitiges Ende, zurück blieben Kummer und Verzweiflung. Flucht und Vertreibung aus dem Osten entwurzelten zahllose Menschen. Sie wurden ihrer Heimat beraubt und waren gezwungen, anderswo noch einmal von vorn anzufangen. Viele der Reaktionen während der zweiten Hälfte des Jahrhunderts sind nur zu verstehen, wenn man sie als verzweifelte Versuche ansieht, eine Wiederholung solcher Katastrophen zu vermeiden.17 Dass in der Nachkriegszeit so viel Wert auf Erfolg gelegt wurde, hat daher etwas Beschwörendes, als gelte es, sich die Gefahren vom Leib zu halten.

Eigentlich sind diese Geschichten nichts anderes als erzählerische Versuche, gebrochene Biografien zu heilen. Dabei schwanken sie zwischen der Inanspruchnahme einer Opferrolle zwecks persönlicher Entlastung und dem selbstkritischen Eingeständnis der Verantwortung für Verbrechen. Nur selten halten sich die Autobiografien mit den eigenen Untaten ihrer Verfasser auf, stattdessen sind sie voller schockierender Geschichten über deutsches Leid, das von wissenschaftlichen Geschichtswerken lange ignoriert worden ist. Die Berichte über die Schrecken der Front, das Kauern in Luftschutzräumen, über Massenvergewaltigungen, Flucht und Vertreibung sind zwar ziemlich glaubwürdig, aber sie versäumen es oft zu erwähnen, dass die Ursachen all dieser Geschehnisse in der vorangegangenen deutschen Aggression liegen. Verstockte Nationalisten präsentieren noch immer relativierende Erklärungen und behaupten: „Es ist nicht unsere Schuld“ oder „Wir sind alle von den Nazis betrogen worden“ und reden sich damit heraus, dass „uns unser Führer missbraucht hat“. Autoren, die stärker auf sich selbst schauen, versuchen, ihr eigenes Gewissen zu erforschen und räumen eine zumindest teilweise Verstrickung in Krieg und Unterdrückung ein. Einige selbstkritische Geister stellen sich sogar ihrer Schuld und bekunden den nachträglichen Wunsch, Buße zu tun.18 Es ist dieses Bemühen, sich mit der eigenen Mitschuld auseinanderzusetzen und Reue zu zeigen, das die deutsche Erinnerungskultur zu einem exemplarischen Fall von versuchter Rehabilitation schlechthin macht.19

Erfahrungen und Erinnerungen vermischen sich in diesen Autobiografien auf eine Weise, die es schwer macht, sie auseinanderzuhalten. Ihr Inhalt erzählt vor dem Hintergrund laufender Ereignisse persönliche Begebenheiten, die vom eintönigen Alltagsleben bis zu ungemein aufregenden Momenten reichen. Aber weil diese Erfahrungen Jahrzehnte später wieder ins Gedächtnis gerufen wurden, kann man an ihrer Richtigkeit zweifeln, solange sie nicht durch einen Abgleich mit anderen Berichten, Dokumenten und wissenschaftlichen Analysen nachgeprüft wurden. Aus dem Gedächtnis niedergeschrieben und selten durch echte Dokumente untermauert, ist der Charakter dieser Lebenserinnerungen selektiv, tendenziös und rechtfertigend, weshalb sie ein unvollständiges Bild bieten. Aber zugleich sind sie eine fesselnde Quelle, die zeigt, wie Menschen sich an frühere Erfahrungen erinnern und sich dabei häufig an kollektive Drehbücher halten, die durch wiederholtes Weitererzählen, kulturelle Reflexion und politische Diskussion entstanden sind. Da solche persönlichen Geschichten Erinnerungen an Erfahrungen zum Ausdruck bringen, muss ihre erzählerische Form dekonstruiert werden, um an ihre unterschiedlichen Bedeutungsebenen heranzukommen. Es ist der von Deutschen zugefügte und erlittene entsetzliche Schmerz, der ihr Ringen um Erinnern und Vergessen so besonders macht.20

Mit ihrer ungeschulten Darstellung spiegeln die Rückbesinnungen das menschliche Drama des 20. Jahrhunderts unmittelbarer wider als viele gelehrte Analysen. Statt lediglich bedeutsame Ereignisse zu erzählen, präsentieren sie eine Unzahl persönlicher Erfahrungen, die in Wechselwirkung mit umfassenderen Veränderungen standen. Deutschlands Entwicklung wurde stärker als die anderer Länder von überraschenden Brüchen, territorialen Veränderungen und politischen Systemwechseln durcheinandergebracht, dass sie allein schon die Idee eines Nationalstaates destabilisierten. Über diese Umwälzungen hinweg hatten einfache Leute ihre liebe Not, weiter ein normales Leben zu führen, während sie versuchten, ungeachtet der großen Politik auf vorhersehbaren Pfaden von der Kindheit zum Erwachsenenalter voranzuschreiten. Aber unablässig erschütterten überpersönliche Mächte friedliche Existenzen, indem sie mit Tod und Zerstörung drohten.21

„Wild und turbulent, alles vernichtend, wie die Woge des Meeres, ist die Zeit seitdem über uns hinweggegangen“, sinniert die geflüchtete Jakobine Witolla. Konfrontiert mit solchen Gefahren, suchten die Menschen irgendwie zu überleben, indem sie mit Diktaturen zusammenarbeiteten, deren Anordnungen ignorierten oder sich ihnen gar widersetzten. Ihre Geschichten bieten einzigartige Einblicke und sollten endlich den ihnen gebührenden Platz erhalten.22

Zerrissene Leben

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