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DAS SCHÜTZENDE ZUHAUSE

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Trotz der ziemlich „(un)hygienischen Bedingungen“ wurden die meisten Weimarer Kinder zu Hause geboren. Die Geburt galt als natürlicher Vorgang und nicht als medizinisches Problem. Karl Härtel erinnert sich an die Stunden unmittelbar vor der Geburt eines weiteren Geschwisterkinds: „Die Nachbarin hatte auf dem kleinen Küchenherd rechtzeitig in einigen großen Töpfen Wasser abgekocht und saubere Handtücher bereitgelegt und meine 12-jährige Schwester Lotte … zu der Hebamme geschickt, damit diese ihr segensreiches Werk beginnen sollte.“ Der besorgte Vater und die aufgeregten Kinder wurden aus dem Zimmer geschickt, und alle horchten auf die Schreie der Frau während der Wehen, die möglicherweise signalisierten, dass es voranging. „Die Mutter lag in Schmerzen auf ihrem Bett in der winzigen Kellerstube, die nun erfüllt war von dem ersten Schrei eines neuen Lebens.“ Nachdem sie Mutter und Baby flüchtig zurechtgemacht hatte, rief die Hebamme den Ehemann und Karl wieder herein und verkündete Letzterem: „Da ist ein kleines Schwesterchen für dich angekommen.“ Jetzt sollte er das Neugeborene natürlich bewundern: „Nun guck’ doch mal hier ins Bettchen, da liegt’s doch drin und schläft!“10 Typische Babyfotos wie die von Ruth Bulwin feiern die innige Bindung zwischen Mutter und Kind (Abb. 5).

Besonders in armen Familien blieben die Geburt und die ersten Lebensjahre eine gefährliche Phase, viele Kinder erreichten das Erwachsenenalter nicht. Und wenn Geschwister als Säuglinge oder Kleinkinder gestorben waren, wurde der Verlust ohne große Gefühlsregung zur Kenntnis genommen. „Die anderen fünf Kinder habe ich nie kennen gelernt, denn diese hatten längst das Zeitliche gesegnet und der Welt den Rücken gekehrt“, konstatiert ein Autor nüchtern. Aber wenn ein etwas älterer Bruder oder Cousin plötzlich etwa an Wundstarrkrampf starb, war das eine „menschliche Tragödie“, weil anscheinend das Schicksal einem hilflosen Kind einen grausamen Streich gespielt hatte. Kinderkrankheiten wie Keuchhusten, Scharlach, Masern und Diphterie wurden als große Heimsuchungen empfunden, die ein ganzes Hauswesen in Unordnung stürzten. Sie erforderten die kostspielige Diagnose eines Arztes, den Kauf von Medikamenten in einer Apotheke und eine längere Bettruhe. So beschied eine erleichterte Mutter ihren genesenden Sohn nach einer besonders schweren Lungenentzündung: „Eigentlich ist es ein Wunder, daß Du noch lebst.“11


5 Mutter und Kind.

Normalerweise war die Mutter der Mittelpunkt der kindlichen Welt, weil sie in den meisten Familien „eben voll für die Kinder und den häuslichen Herd zuständig“ war. Der Chemiker Heinz Schultheis schreibt, dass die Frauen in Ermangelung moderner Haushaltsgeräte praktisch alles selber machen mussten. Daher konnten die „arbeitsgewohnten Mutterhände“ niemals ruhen. Die Wäsche wurde einmal im Monat am „großen Waschtag“ gemacht. Jedes Teil wurde gekocht, zum Trocknen aufgehängt und gemangelt, bevor es gefaltet und im Wäscheschrank verstaut wurde. Außerdem erfolgte „das Anfertigen von Kleidungsstücken innerhalb der eigenen vier Wände“ und erforderte aufwendige Näh- und Flickarbeiten. Zugleich bedeutete das Einkaufen in kleinen Fachgeschäften und auf dem wöchentlichen Bauernmarkt, dass zeitraubend gefeilscht und alles von Hand eingepackt werden musste. Das Essen wurde in Ermangelung von Fertigprodukten meistens von Grund auf selbst zubereitet, nach Rezepten, die wie Geheimnisse gehütet oder weitergegeben wurden. Die Kleinsten trotteten oft hinterher, wenn die älteren Mädchen zur Erledigung kleinerer Tätigkeiten im Haushalt herangezogen wurden.12

Die meisten Väter wirkten recht unnahbar, weil sie wenig Kontakt zu den Kindern hatten. „Ihre Autorität … war unangefochten“, wenn auch nicht mehr äußerst streng. Aufgrund der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung waren die Männer die Ernährer der Familie und verliehen ihre Titel, soweit vorhanden, ihren Ehefrauen, die sich gern mit „Frau Doktor“ anreden ließen, auch wenn sie selbst keine Ärztinnen waren. Weil die Väter den ganzen Tag auf der Arbeit waren, sahen sie ihren Nachwuchs lediglich abends oder an den Wochenenden und zeigten folglich nur flüchtige Präsenz. In den meisten Familien war das Familienoberhaupt für die Wahrung der autoritären Disziplin verantwortlich. Körperliche Züchtigungen waren an der Tagesordnung, um Kindern soziale Regeln einzuimpfen und sie fürs Leben abzuhärten. Aber es gab auch liebevolle Anteilnahme: „Viele Väter halfen ihren Söhnen (noch höchst selten auch einer Tochter), dabei, Schwimmen und Radfahren zu lernen“. Solche Aktivitäten förderten das Entstehen einer gefühlsmäßigen Bindung zwischen Vätern und Nachwuchs.13 Mit wachsender Reife begannen viele Kinder, die beruflichen Leistungen ihrer Väter und deren moralische Autorität in krisenhaften Zeiten zu bewundern.

Auch Geschwister, die ersten Spielgefährten, von denen Kleinkinder lernen oder die sie herumkommandieren konnten, waren prägende Einflüsse in der frühen Kindheit. In großen Familien, etwa bei den Krapfs, die fünf Kinder hatten, entschied die Reihenfolge der Geburt über die Rolle innerhalb der Gruppe, die Vertiefung von Begabungen und die Zuweisung häuslicher Aufgaben. Während Einzelkinder oft einsam und verwöhnt waren, herrschte in größeren Haushalten viel Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Eltern, aber auch beträchtliche Freiheit, weil die Erwachsenen nicht jedes Kind im Auge behalten konnten.14 Der ältere Bruder eines Jungen konnte als Vorbild dienen, dem es in Sachen schulischer Erfolg, sportliche Leistungen und Ähnlichem nachzueifern galt. Hatte ein Mädchen eine kleine Schwester, konnte es sie bemuttern, beschützen und dabei jene weiblichen Fähigkeiten erlernen, die im späteren Leben vielleicht hilfreich waren.15 Obwohl ein großer Altersabstand oder der Geschlechterunterschied Geschwister einander oft entfremdete, schuf die Nähe der frühen Kindheit eine emotionale Bindung, die vielfach ein Leben lang hielt.

War eine Mutter berufstätig oder gesellschaftlich ausgelastet, pflegte ein Kindermädchen ihren Platz einzunehmen. Diese Annis, Emmis oder Kathis waren meist arme Mädchen vom Land, die in die Stadt geschickt wurden, um das Budget der Eltern aufzubessern und bürgerliche Umgangsformen zu erlernen. Selbst nur mäßig begüterte Familien konnten sich ein Mädchen leisten, das sich um die kleinen Kinder kümmerte, sie fütterte, wusch und beaufsichtigte und die Mutter dadurch von Routineaufgaben entlastete. Kindermädchen spielten mit ihren Schützlingen, lasen ihnen Geschichten vor, gingen mit ihnen auf den Spielplatz oder fuhren sie im Park spazieren. Und wenn sie über ihre eigenen Entbehrungen sprachen, vermittelten sie ihren Schützlingen zugleich, was es hieß, in weniger vom Glück begünstigten häuslichen Verhältnissen zu leben. Der Ingenieur Paul Frenzel erinnerte sich: „Alles was ein Junge von sechs oder sieben Jahren an Liebe und Erziehung braucht …, erhielt ich nicht von meinen Eltern sondern von einem Kindermädchen aus Oberbayern.“ Die Kinder hingen oft mehr an den Nannies als an ihren abwesenden Müttern. Nur wenige Kinder wie Edith Schöffski oder Ursula Mahlendorf wurden in einen Kindergarten geschickt.16

Waren weder Mütter noch Kindermädchen verfügbar, mussten sich Netzwerke aus Verwandten und Freunden um die Kleinen kümmern. Dabei ersetzten sie oft in jeder Hinsicht die leiblichen Eltern. Großeltern waren nicht nur ein Reiseziel in den Sommerferien, sondern wurden auch zu anderen Zeiten des Jahres vorübergehend oder längerfristig als Elternersatz herangezogen, vor allem wenn sie auf dem Land in ihrem eigenen Haus mit Garten wohnten. Einzelkinder wie Ruth Bulwin fühlten sich willkommen und behütet, weil Oma und Opa sie verwöhnten und ihnen geduldig alles Mögliche erklärten, etwa wie man gärtnerte oder kleinere Reparaturen im Haus durchführte. Sehr beliebt waren auch unverheiratete, alleinstehende Tanten, etwa die entfernte Verwandte Didi, die den kleinen Tom Angress unter ihre Fittiche nahm, „mir Geschichten erzählte, Lieder vorsang … und mir sehr früh beibrachte, nicht bei jeder Gelegenheit loszuheulen“. In Familien von Bauern, Handwerkern oder Ladenbesitzern erwartete man von Kindern, dass sie ihren Teil der häuslichen Pflichten übernahmen, soweit sie dazu in der Lage waren.17 Im Allgemeinen gab es jede Menge Cousins und Freunde, die als informeller Unterstützungstrupp dienen konnten, wenn es darum ging, Kindern zu helfen, mit den Anforderungen der Erwachsenenwelt klarzukommen.

Das prägende Umfeld war das Elternhaus, dessen Größe und Standort von der Erwerbskraft des Vaters abhingen. Großbürgerliche Familien wie die Kleins konnten sich eine prächtige Wohnung in Berlin leisten, die über zahlreiche Räume zur gesellschaftlichen Repräsentation und für das Alltagsleben verfügte. Weil bei dem reichlichen Platzangebot auch ein separates „Kinderzimmer“ drin war, „erlebte ich Jahre der wohlbehüteten Kindheit eines Sohnes ‚aus gutem Haus‘“.18 Andere bürgerliche Familien besaßen ihr eigenes Domizil. So wohnte ein Pelzhändler in einem „sehr kuscheligen alten Haus“, ein Pastor verfügte über ein weiträumiges Pfarrhaus, und ein preußischer Bauer lebte auf einem großen Gehöft. Ein Einzelhaus wie das Forsthaus der Andrées im Osten vermittelte allen, die dort lebten, ein Gefühl der Sicherheit. Die Kinder wurden „umsorgt und behütet“ und genossen „all die schönen Dinge der unendlichen Freiheit auf dem Land“. Der Bau eines eigenen Hauses war der sehnlichste Wunsch vieler Bürger, verhalfen die eigenen vier Wände doch zu gesellschaftlicher Anerkennung und boten den Kindern Schutz und Zuflucht.19

In ärmeren Familien waren die beengten Wohnverhältnisse eine ständige Quelle für Ärger und Verdruss. Kleinbürgerliche Familien wohnten meist in Mietshäusern, wilhelminischen Ungetümen mit mittelalterlich anmutenden Fassaden, Türmchen und Balkonen. Zumindest konnten Kinder die feuchtkalten Innenhöfe mit ihren erfindungsreichen Spielen in wahre Erlebniswelten verwandeln. Proletarische Familien wie die Härtels waren zu winzigen Wohnungen verdammt, die oft im Keller oder Souterrain lagen, oder zu einem einzigen Zimmer auf dem Dachboden. Hier musste alles stattfinden – Essen, Schlafen, Leben. Die fehlende Privatsphäre in erzwungener Enge zerrte an den Nerven. Kinder und Erwachsene mussten sich die vorhandenen Betten teilen und Gemeinschaftstoiletten im Zwischengeschoss benutzen. Alle mussten auf Zehenspitzen gehen, wenn ein müder Vater von der Schicht nach Hause kam. Mütter waren oft gezwungen, die Wäsche fremder Leute oder Flickarbeiten zu übernehmen, um das magere Familieneinkommen aufzubessern. Es war ein raues Milieu für Kinder, die um die Erfüllung ihrer elementarsten Bedürfnisse kämpfen mussten.20

Gärten waren Rückzugsräume vom Stadtleben, eine Quelle zusätzlicher Nahrungsmittel und Orte wundersamer Entdeckungen für jene glücklichen Kinder, die Zugang zu ihnen hatten. Während großbürgerliche Familien oft die Grünanlagen hinter ihren Stadtwohnungen benutzen durften, besaßen mittelständische Hauseigentümer in der Regel genügend Grund und Boden zur Verschönerung ihres Wohnumfelds und zur praktischen Nutzung. Kleinbürgerliche und proletarische Familien wie die Schöffskis waren daher bestrebt, einen Kleingarten mit Laube zu pachten. Es war ihre Form der Erholung und Geselligkeit. Tochter Edith schrieb später: „Dieses Grundstück war der Traum meiner Eltern.“ In solchen Schrebergärten bauten die Leute eine Mischung aus Blumen, Obst und Gemüse an – Rosen, Erdbeeren, Rhabarber, Kartoffeln, Möhren, Kohl usw. Die Kinder durften auf der Parzelle spielen, solange sie weder die Nutzpflanzen noch die Kirsch-, Apfel- oder Birnbäume beschädigten, von denen sie sich sattessen durften. Vor allem in schlechten Zeiten wie Krieg oder Wirtschaftskrise waren diese Gärten eine unverzichtbare Nahrungsquelle.21

Weil sie alle Mitglieder des Haushalts zusammenführten, waren Mahlzeiten wie das Mittagessen „regelrechte Foren für alltägliche Ereignisse und Anliegen“. Nachdem die Familie das Tischgebet gesprochen hatte, begann das Essen, wobei der Vater das beste Stück Fleisch bekam und die Mutter manchmal einen Teil ihrer eigenen Portion opferte, um sicherzustellen, dass ihre Lieblinge genug abbekamen. Kinder mussten lernen, sich zu benehmen, denn „die Eltern achteten peinlich genau auf anständige Tischmanieren“, und Verstöße wurden gern mit einer schnellen Ohrfeige geahndet. Solange sie genügend Respekt zeigten, durften die Kinder sich an Erwachsenengesprächen beteiligen, die viel „charakterbildenden Stoff von unschätzbarem Wert“ boten. Während Kinder aus großbürgerlichen Familien wie Horst Grothus manchmal derart gepäppelt wurden, dass sie zu viel zunahmen, was ihm den Spitznamen „Dickmann“ einbrachte, litten viele Unterschichtkinder Hunger und träumten davon, wie es wäre, „eine Banane oder Weintrauben“ zu essen.22

Die Kinder spielten, wann immer sich eine Gelegenheit bot, wobei sie sich im Erfinden von Wettspielen und Regeln äußerst kreativ zeigten. Die Spiele konnten so schlicht sein wie „Himmel und Hölle“ auf dem Bürgersteig oder so anspruchsvoll wie Brettspiele, etwa Schach. Jungen spielten lieber mit technischem Spielzeug wie „Märklin-Baukasten und Aufzieh-Eisenbahn“ und erprobten ihre Geschicklichkeit beim „Trieseln“ mit dem Peitschenkreisel, beim Drachensteigen oder beim „Murmeln“. Von Mädchen wurde erwartet, dass sie mit Puppen spielten. Erika Taubhorn erinnert sich: „Mutter und Kind spielte ich gerne allein. Meine sieben großen Puppen waren die Kinder. Es wurde dann auch richtig gekocht auf meinem Öfchen. Im Puppenkleiderschrank hingen die Kleidchen zum Anziehen, das Fußbänkchen war der Tisch. Es gab auch ein Bettchen und einen Puppenwagen.“ Während Mädchen Gedichte rezitierten, Scharaden aufführten und ihre Gedanken Poesiealben anvertrauten, tobten Jungs herum, spielten „Cowboy und Indianer“ oder Fußball.23 Auch wenn die Anzahl der Spielsachen begrenzt war, offenbarten diese Spiele eine großartige Fähigkeit, ohne viel Aufwand für Glück und Zufriedenheit zu sorgen.

Die Höhepunkte des Jahres waren religiöse Feiertage wie Weihnachten, die selbst in Familien, die ansonsten mit Religion und Kirche nicht viel am Hut hatten, „die wärmsten Gefühle“ weckten. Die gespannte Vorfreude begann mit dem Adventskalender und mit dem Basteln eines Adventskranzes, dessen vier Kerzen an den vier aufeinanderfolgenden Adventssonntagen entzündet wurden. Am 6. Dezember kam Sankt Nikolaus, um zu entscheiden, „sind’s gute Kind, sind’s böse Kind“, und sie entsprechend zu belohnen oder zu bestrafen. Die Aufregung steigerte sich mit dem Gottesdienst am Heiligabend, der oft durch ein Krippenspiel mit Kindern als Engel und Hirten etwas lebhafter gestaltet wurde. Nach dem Abendessen wurde dann endlich die Wohnzimmertür geöffnet und gab den Blick frei auf einen glitzernden Tannenbaum mit buntem Weihnachtsschmuck, Lametta und brennenden Kerzen. Erst nachdem sie „Stille Nacht“ gesungen hatten, durften die Kinder ihre Geschenke auspacken – neben Sachen, die sie sich gewünscht hatten, etwa einen neuen Schlitten, gab es meist „praktische[n] Geschenke, wie Strümpfe, die Mutter aus einer stachligen Wolle selbst gestrickt hatte, oder eine Mütze oder Handschuhe“.24 So allgegenwärtig waren die Weihnachtsbräuche, dass auch manche jüdischen Familien sie mit der Zeit übernahmen.

Eine weitere äußerst beliebte Zeit des Jahres waren die Schulferien, weil sie die Alltagsroutine unterbrachen und neue Erfahrungen und Erlebnisse boten. Selbst arme Kinder wie Karl Härtel konnten in einem Schrebergarten spielen, in einem nahe gelegenen Fluss schwimmen lernen oder Wanderungen unternehmen. Kinder aus besser gestellten Familien wie Ruth Bulwin fuhren mit der Eisenbahn von Berlin in den Thüringer Wald, besuchten die Großeltern und schnupperten Landleben. Hier gab es gesunde Luft, frische Lebensmittel und interessante Nutztiere. Die Söhne noch wohlhabenderer Eltern wie Paul Frenzel reisten gar an die Ostsee und logierten in schicken Kurhotels, bauten kunstvolle Sandburgen am Strand, planschten mit Freunden in der Brandung oder suchten in einem Strandkorb Schutz vor dem Wind. Ihre Mütter stellten zur Teestunde ihre Garderobe und ihren Schmuck zur Schau, und an den Wochenenden gesellten sich die Väter dazu. Kinder der oberen Zehntausend, wie etwa die Eycks, „verreisten oft als Familie, häufig ins Ausland, in die Niederlande oder die Schweiz“, was ihnen einen kosmopolitischen Anstrich verlieh.25

Die „goldenen mittleren Jahre“ der Weimarer Republik zwischen Hyperinflation und Wirtschaftskrise sind als eine Zeit in Erinnerung geblieben, die es den meisten Kindern erlaubte, „eine glückliche und behütete Kindheit“ zu verleben. Die chaotischen, bürgerkriegsartigen Anfänge waren zum Glück Vergangenheit, und die wirtschaftlichen und politischen Katastrophen sollten erst noch kommen. Die weitverbreitete Armut, religiöse Vorurteile und nationalistischer Hass waren zweifellos ziemlich gravierend und machten die Politik für ihre Eltern zum Streitpunkt. Aber verglichen mit dem späteren Leid ermöglichte diese Zeit ein relativ sicheres Leben, das um persönliche Belange kreiste und die Phase der Kindheit in der Rückschau in „idyllischem“ Licht erscheinen ließ. Waren die Eltern „liebevoll und anregend“ und vertrugen sich die Geschwister, konnten jüdische Deutsche wie alle anderen als „eng verbundene Familie“ vertrauensvoll in die Zukunft blicken.26 Wer in solchen Verhältnissen aufwuchs, der empfand eine starke Familienverbundenheit, entwickelte eine dauerhafte Bindung an die eigene Heimatstadt und identifizierte sich nachhaltig mit der deutschen Kultur. Doch diese Identifikation sollte in den kommenden Jahren auf eine schwere Probe gestellt werden.

Zerrissene Leben

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