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GRUPPENDRUCK
ОглавлениеDie Wiederaneignung des Vermächtnisses der Jugendbewegung trug erheblich zur „Selbstnazifizierung“ der deutschen Jugend bei. Der ursprüngliche Impuls zu diesem Aufbegehren von Oberschülern an der Wende zum 20. Jahrhundert war Teil einer von Erwachsenen getragenen Lebensreform-Kampagne gegen Alkohol und Nikotin gewesen. Auf dem Ersten Freideutschen Jugendtag im Oktober 1913 auf dem Hohen Meißner in Nordhessen gelobten die Teilnehmer feierlich: „Die Freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.“ Aus dieser Betonung der Unabhängigkeit sprach Unmut über die wilhelminische Dekadenz der Erwachsenenwelt, auch wenn sie mit einer starken Portion Nationalismus einherging. Durch die Übernahme positiv besetzter Aktivitäten wie Wandern, Gesang und Lagerfeuerromantik verkehrte die nationalsozialistische Jugend die ursprüngliche Bedeutung dieser Selbstbefreiungsbewegung in die Unterstützung einer rassistischen Diktatur.25
Die Hitler-Jugend wurde im März 1922 in München unter der Bezeichnung „Jugendbund der NSDAP“ als jugendliche Hilfstruppe der erwachsenen Partei und Reservoir für zukünftige Parteiführer gegründet. Nachdem einige rivalisierende Gruppen 1926 zusammengeschlossen worden waren, wuchs die Organisation bis 1932 rasch auf mehr als einhunderttausend Anhänger. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung schnellte die Mitgliederzahl auf mehrere Millionen hoch, und sie wurde in zwei Altersgruppen untergliedert. Das Jungvolk umfasste Jungen im Alter von zehn bis 14 Jahren und die eigentliche Hitler-Jugend die 14- bis 18-Jährigen. Außerdem wurde die anfangs rein männliche Organisation durch den „Bund Deutscher Mädel“ (BDM) ergänzt, der streng getrennt blieb von den Jungen. Mit der Ernennung des weltmännischen Baldur von Schirach zum „Jugendführer des Deutschen Reiches“ im Juni 1933 trat die HJ, die eine Mischung aus paramilitärischer Ausbildung und Freizeitaktivitäten bot, sichtbarer in Erscheinung. Obwohl die Mitgliedschaft am Ende obligatorisch für alle Jugendlichen wurde, hielt die Hitler-Jugend sich selbst für die zukünftige Elite.26 Ein Schnappschuss von Rolf Bulwins Fanfarenzug zeigt die nationalsozialistische Indoktrination durch Teilnahme an Aufmärschen der Parteijugend (Abb. 9).
Allmählich erlangte die Hitler-Jugend ein Monopol über sämtliche jugendlichen Aktivitäten. Rivalisierende unabhängige Verbände wurden entweder eingegliedert, aufgelöst oder verboten. Zu denen, die geschluckt wurden, gehörte auch die „Deutsche Freischar“, ein lockerer Bund innerhalb der Bündischen Jugend, der sich im März 1933 mit anderen Bünden zum „Großdeutschen Bund“ zusammengeschlossen hatte. An Pfingsten 1933 traf sich Paul Frenzel mit etwa 40.000 seiner Kameraden in der Lüneburger Heide zum ersten und einzigen Bundestreffen des Großdeutschen Bundes. Als sie erfuhren, dass alle unabhängigen Bünde aufgelöst und die Mitglieder in die HJ eingegliedert werden sollten, „erhoben die älteren Jugendlichen ein lautes Protestgeschrei“, verbrannten Uniformen der Hitler-Jugend und sangen Spottverse auf Baldur von Schirach. Auch das Eintreffen von zehn Polizeieinheiten konnte die wütenden Jugendlichen nicht dazu bringen, die Auflösung ihrer Gruppen zu akzeptieren. Doch dann umstellten SA- und SS-Einheiten das Lager, und „vor der bewaffneten Umkreisung mußten auch die mutigsten Jungen kapitulieren“. Das Versprechen, einen gewissen Zusammenhalt innerhalb der Hitler-Jugend zu wahren, veranlasste dann die meisten zum HJ-Beitritt. Eine nach der anderen mussten Pfadfinder, religiöse Gruppen und andere Vereine ihre Fahnen einrollen und ihre Eigenständigkeit aufgeben.27
9 HJ-Aufmarsch.
Für den Eintritt in die HJ gab es viele Gründe. Agnes Moosmann machten die patriotischen Vorträge, das Singen von Volksliedern und das Marschieren einfach „Spaß“. Für Eva Peters war es „ein erhebendes Gefühl“ der Unabhängigkeit von Schule und Elternhaus, das Mitgliedsformular für den BDM auszufüllen, „weil sie beim Aufbau des neuen, des dritten, des tausendjährigen Reiches mithelfen und Verantwortung tragen wollte“. Als Karl Härtel „endlose Jungvolk-Kolonnen durch unsere sonst menschenleere Straße“ ziehen sah, mit wehenden Fahnen und dröhnenden Trommeln, fühlte er sich „in einer romantischen Empfindung … irgendwie angesprochen und spürte den Wunsch, dieses Gefühl festzuhalten und vielleicht Teil einer solchen Kolonne zu werden“. Weil praktisch alle seine Mitschüler bereits eingetreten waren, wollte Horst Johannsen „gern im Jungvolk mitmachen“ und gedachte, sich über den Einspruch seiner Eltern hinwegzusetzen. Für Paul Frenzel war die Entscheidung eher eine Möglichkeit, ein Mindestmaß an Konformität zu beweisen und zu zeigen, dass seine Familie dem neuen Regime nicht ablehnend gegenüberstand, „aber meine Begeisterung hielt sich in sehr engen Grenzen“.28
In antinationalsozialistisch eingestellten Familien sorgte der Wunsch von Kindern, in die Hitler-Jugend einzutreten, für gehörige Spannungen zwischen den Generationen. Als eine Lieblingstante Benno Schöffski eine HJ-Uniform aus braunem Hemd, Schulterriemen und schwarzem Halstuch schickte, war „meine Mutter … darüber sehr böse und versteckte den Karton mit den Sachen“. Selbst nachdem er 1937 gezwungen war, Mitglied zu werden, erlaubten seine linksstehenden Eltern ihm die Teilnahme nur in äußerst engen Grenzen und untersagten ihm sämtliche Ausflüge und Fahrten. Ebenso war auch Hans Schirmers Vater außer sich vor Wut, als er seinen Sohn in Uniform erblickte: „Er verbot mir, zu den Pimpfen zu gehen. Ich sei bei denen kein Mitglied. Er habe als Vater das nicht genehmigt. Basta.“ Der kleine Hans-Harald „verstand das nicht. Die anderen Jungen trugen die Klamotten doch auch … die hatten keine Probleme.“ Obwohl er spürte, „dass ‚die Nazis‘ und dieser oft genannte Hitler für ihn [seinen kommunistischen Vater] Verbrecher und seine Todfeinde seien“, begriff er nicht, warum das so war. Alles, was er wollte, war so zu sein wie die anderen Jugendlichen seines Alters.29
Angeleitet von Führern, die kaum älter waren als die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen, bot die Hitler-Jugend eine Fülle attraktiver Aktivitäten, welche die Zehn- bis 14-Jährigen stark ansprachen, sodass das Jungvolk sich „zu einem besonders wichtigen Indoktrinierungsinstrument“ entwickelte. Eine feste Einrichtung waren die wöchentlichen Heimabende, sie „boten Abwechslung und waren durch faszinierende Propaganda vom Krieg und Siegen gekennzeichnet“. Gewöhnlich moderierte der Gruppenführer ideologische Diskussionen über „Helden der ‚Bewegung‘, über das ‚Deutschtum im Ausland‘ und den ‚Volkstumskampf an den blutenden Grenzen‘“. Aber interessanter waren die Spiele. Den Jungen gefielen besonders Geländespiele, bei denen zwei Gruppen versuchten, die Fahne ihrer Gegner zu erobern. Diese Spiele boten ihnen die Möglichkeit, draußen herumzurennen und miteinander zu kämpfen. Der Abend schloss jedes Mal mit schwungvoll geschmetterten Propagandaliedern wie „Ein junges Volk steht auf, zum Sturm bereit!/Reißt die Fahnen höher, Kameraden!/Wir fühlen nahen unsere Zeit, die Zeit der jungen Soldaten.“30
Für viele noch schöner waren die Wandertouren durch ländliche Gegenden oder die Freizeitlager, denen die Jugendbewegung einst den Weg geebnet hatte. An Wochenenden oder in den Ferien fanden sich Jungs und Mädels in Uniform ein, mit schweren Rucksäcken voll mit Proviant, Kleidung, Decken und Kochgeschirren, um zu einem See, Berg oder Wald zu wandern. Dort schlugen sie dann ihre Zelte auf und versammelten sich ums Feuer, um Horrorgeschichten zu lauschen oder Volkslieder zu singen, oder sie schlichen sich an eine rivalisierende Gruppe heran, um deren Wimpel zu stehlen. Das Wandern vermittelte ein Gefühl der Freiheit von der Bevormundung durch Erwachsene. In solchen Zeltlagern trafen viele Gruppen aufeinander, die sich im sportlichen Wettkampf maßen, mit Trompeten, Trommeln und Fahnen marschierten oder Reden von Parteiführern lauschten, die die nationalsozialistische Sache propagierten. Karl Härtel ist nicht der Einzige, der sich erinnert, dass die Wanderungen und das gemeinsame Singen am Lagerfeuer „in uns ein Gefühl echter Verbundenheit mit den … Anwesenden und den längst verblichenen Generationen unseres Volkes erzeugten“.31
Ein weiterer Grund für die Popularität des Nationalsozialismus war die Kontrolle der jugendlichen Freizeitaktivitäten durch die Mitgliedschaft in einer der zahlreichen Gruppierungen von HJ oder NSDAP. Gerhard Krapf war trotz all seiner protestantischen Abneigung beeindruckt von einem Reit- und Springturnier des Nationalsozialistischen Reiterkorps, weil er Pferde liebte. Heinz Schultheis fühlte sich, obschon Politik ihn langweilte, hingezogen zur „Flieger-HJ, und hier ist mir der Sprung zur Fliegerei gelungen!“ Der Weg dahin war kompliziert und erforderte, sich mit Physik, Wetterkunde usw. vertraut zu machen. Zunächst bauten die Jugendlichen Modelle, bevor sie zum „richtigen Segelflug“ in Gleitern übergingen, die per Seil einen Abhang hinuntergezogen wurden, bis sie sich irgendwann in die Luft erhoben. Für einen heranwachsenden Jungen war das eine spannende Herausforderung, auch wenn der „Flug“ nur zwei oder drei Minuten dauerte. Auch Horst Grothus war erpicht darauf, in die „Flieger-HJ“ einzutreten, weil er später Flugzeuge entwerfen wollte. Dadurch, dass sie attraktive Aktivitäten wie Reiten, Fliegen, Rudern und Segeln anbot, schaffte es die Hitler-Jugend, selbst die Jugendlichen zu ködern, die dem Regime ansonsten ablehnend gegenüberstanden.32
Weniger beliebt waren die Dienste „für das deutsche Volk und Vaterland“, die Angehörige der Hitler-Jugend leisten mussten, um ihr Engagement in der nationalen Gemeinschaft unter Beweis zu stellen. Im Allgemeinen waren die Jugendlichen mit dem egalitären Anspruch der NS-Ideologie einverstanden, der verlangte, alle Mitglieder der „Volksgemeinschaft“, „Arbeiter der Faust und der Stirn“, als Gleiche zu behandeln. Aber die meisten freuten sich nicht gerade darauf, in Uniform an Straßenecken zu stehen und mit ihren Blechbüchsen zu klappern, um Geld für die Winterhilfe für bedürftige Familien zu sammeln, getreu dem Motto der Nazis: „Niemand soll hungern und frieren!“ Ebenso war die Idee, jeden Sonntag statt des Sonntagsbratens nur einen Gemüseeintopf zu essen und das auf diese Weise gesparte Geld der NS-Volkswohlfahrt zu spenden, nur rein theoretisch reizvoll, wenn man auf dem Marktplatz eine „lauwarme[n], schon ganz fettige[n] Brühe in dem großen Kessel“ schlucken musste.33
Da die HJ ein Lieblingspublikum für Parteitage oder Würdenträger auf Besuch war, mussten ihre Mitglieder teilnehmen – und Begeisterung zeigen. Stunden vor einem solchen Ereignis sammelten sich die Gruppen, marschierten in Formation, standen in Reihen auf den Straßen, reckten den rechten Arm und brüllten „Sieg Heil!“ Der Höhepunkt solcher Demonstrationen waren die Reden Hitlers, die live im Rundfunk und über Lautsprecher übertragen wurden. Gerhard Krapf erinnert sich, dass der „Führer“ „mit leiser Stimme, jedes Wort abwägend“ mit der Geschichte der NS-Bewegung begann und dann immer lauter und beschwörender wurde, wenn seine Rede dahin kam, „die Ungerechtigkeiten von Versailles aufzuzählen, wobei er sein Crescendo bis zum Fortissimo aufbaute und die Zuhörer in Raserei versetzte“. Während ihm die Stimme brach, erreichte Hittler den Höhepunkt mit dem Schwur, Deutschland wieder groß zu machen, und riss die Jugendlichen zu „nicht enden-wollendem Jubel“ hin. Obwohl einige sich über den Anwesenheitszwang ärgerten, gingen viele hinterher „mit verklärten Gesichtern daher wie nach einem Festgottesdienst“.34
Die HJ war auch deshalb so attraktiv, weil sie die Chance auf Führungsposten bot, womit sich Heranwachsenden ungewöhnliche Handlungsspielräume eröffneten. Die 7,7 Millionen Mitglieder im Jahr 1938 brauchten Zehntausende von Führern, die ihre Aktivitäten organisierten. Also rekrutierte die Organisation gut aussehende, ideologisch gefestigte oder besonders beliebte Jugendliche, um sogenannte Kameradschaften oder Jungenschaften zu führen, deren jeweils etwa ein Dutzend Mitglieder nur ein paar Jahre jünger waren. Diese Verpflichtung auf das Prinzip „Jugend wird durch Jugend geführt“ erzeugte oft starke emotionale Bande, da diese kleinen „Führer“ als jugendliche Vorbilder dienten. Die ausgewählten Kandidaten wurden in speziellen Kursen in der Durchführung der wöchentlichen Treffen und der Vorbereitung von Fahrten geschult. Eva Peters „wundert … sich noch heute, was damals 14-, 15- und 16jährige in eigener Regie organisierten, verantworteten und durchführten“. Wie Wilhelm Kolesnyk sich erinnert, stärkte diese Führungsrolle seinen Entschluss: „Dem Nationalsozialismus verschrieb ich mich erst, als ich Jungzugführer im Deutschen Jungvolk wurde.“35
Dass man den Jungen und Mädchen solche Freiräume gewährte, wurde mit der „Jugendapotheose“ gerechtfertigt, galt die Jugend doch als der Garant für die Zukunft Deutschlands. Eva Peters verbucht als positiv sowohl die „Überwindung von Klassenschranken durch Volkstum, Volksgemeinschaft und völkische Revolution“ als auch die „Einlösung der Sehnsucht nach Einfachheit, Echtheit und Natürlichkeit durch eine anachronistische Blut-und-Boden Romantik“. Allerdings sind für sie die negativen Folgen der HJ-Ideologie weit zahlreicher und verheerender. Der „antiliberale[r] und antidemokratische[r] ‚Genossenschaftskult‘“ habe die Achtung der Menschenrechte aufgekündigt. Die „Lebensraum-Ideologie und völkisch-rassistische Geschichtsauffassung“ habe eine rationale Weltsicht verworfen. Zudem habe die „Absage an humanistische Traditionen der Aufklärung“ eine barbarische Romantisierung des Rechts des Stärkeren befeuert. Und die „nationalistische Übersteigerung der Gefühlskomponenten von Volk und Vaterland“ habe schließlich zu einer mörderischen Geringschätzung sogenannter minderwertiger Völker und Rassen geführt.36
Das Handbuch für die Schulungsarbeit in der HJ erläuterte die Ideologie, welche die Mitglieder in Propaganda-Diskussionen verinnerlichen sollten. Gleich zu Anfang betonte es die „Ungleichheit der Menschen“, welche die Überlegenheit der nordischen Rasse begründe und jede Verwässerung gefährlich mache: „Die ersten Gegenmaßnahmen des Nationalsozialismus mußten deshalb darauf abzielen, die Juden aus dem Kultur- und Wirtschaftsleben unseres Volkes zu verdrängen.“ Das zweite Anliegen war eine Umkehrung des Bevölkerungsrückgangs und die Rückkehr zu einer gesunden Verbindung von Blut und Boden. Das dritte war die Rückeroberung von Gebieten, die einst von deutschen Stämmen bewohnt gewesen waren. „Daraus ergibt sich ein berechtigter Anspruch auf diese Gebiete für das deutsche Volk.“ Um der Überbevölkerung Herr zu werden, agrarische Selbstversorgung und industrielle Autarkie zu erlangen, müsse das Reichsgebiet erweitert werden.37 Obwohl sprachlich noch einigermaßen verschleiert, war dies nichts anderes als die Blaupause für einen künftigen Krieg.
Kern dieser menschenfeindlichen Ideologie war eine „romantische Vorstellung vom ‚Führer‘“, dem im HJ-Gelöbnis ewiger Gehorsam geschworen wurde. Ein Propaganda-Gemälde zeigte Hitler „hoch zu Ross, in Ritterrüstung, eine NS-Fahne in der gepanzerten Faust“. Gerhard Krapf zufolge sah man auf diesem überall verbreiteten Bild „einen übernatürlichen Helden, dem als getreuer Vasall zu folgen … die heilige Pflicht eines jeden Deutschen war“. Von Hitlers Fotograf Heinrich Hoffmann ins Bild gesetzt, suchte diese Vorstellung von Führerschaft, die weitverbreitete Sehnsucht nach einem starken Mann zu stillen, die auf dem Missverständnis beruhte, dass Bismarck eine Machtpolitik der „eisernen Faust“ betrieben habe.38 Obwohl ein verblendetes BDM-Mädchen schwärmte: „Dein größter Lehrer, deutsche Jugend, heißt Adolf Hitler“, war Horst Grothus, als er den „Führer“ leibhaftig sah, „etwas enttäuscht“, da Hitler ganz und gar nicht aussah wie ein nordischer Held. Dennoch wirkte der Kult wie eine praktische Anwendung von Max Webers Charisma-Konzept. In der charismatischen Herrschaft existiert ein irrationales emotionales Band zwischen dem Führer und seinen Anhängern, das blinden Gehorsam verlangt.39
Der idealtypische deutsche Jugendliche, den die HJ hervorbringen wollte, war ein männlicher arischer Kämpfer oder eine arische Mutter. Die Aufnahme in die Hitler-Jugend ging einher mit dem Anspruch: „Du gehörst von nun an dem Führer!“ HJ-Führer wie Hans Queiser verstanden das „Führerprinzip“ als eine Mischung aus „Befehl und Verantwortung auf der einen, Gehorsam auf der anderen Seite“. In der Praxis bedeutete dies, Befehle auszuführen, ohne Fragen zu stellen. Hitler selbst hatte verlangt, dass männliche Jugendliche, „flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl“ sein müssten. Dieses Bild gab Charakterstärke und körperlicher Fitness den Vorzug gegenüber Intelligenz und Vorstellungskraft. Folglich war in das von Jungen stolz getragene HJ-Fahrtenmesser das Motto „Blut und Ehre“ eingeätzt. Mädchen, die von dieser männlichen Verbundenheit ausgeschlossen waren, sollten eine komplementäre Vorstellung von „Glaube und Schönheit“ entwickeln.40 Die ständige Wiederholung solcher Sprüche und Motti sollte die Jugendlichen auf den Dienst in dem kommenden Krieg einschwören.
Manche wurden von der Propaganda und den Aktivitäten der Hitler-Jugend völlig mitgerissen. Selbst Zwangssammlungen und der monatliche „Sonntagseintopf “ konnten Horst Grothus nicht abschrecken, denn „von unserem Deutschland wird jetzt viel besser und mit Stolz geredet“. Hitlers Erfolge, etwa der „Anschluss“ Österreichs 1938, waren für ihn der Beweis: „Die nationalsozialistische Politik ist richtig, die Arbeitslosigkeit wird schnell beseitigt und ‚Volksgemeinschaft‘ ist besser als Klassenkampf.“ Im Gegensatz zu seiner skeptischen Mutter fand Horst es „gut, dass die Nationalsozialisten an der Macht sind. Sie verhelfen Deutschland wieder zu seiner verdienten Größe. Sie sind die Führer meines Staates.“ Selbst als er erfuhr, dass ein Freund und dessen Vater ins KZ abtransportiert worden waren, hielt er das für richtig. „Sie sind die Feinde unseres Reiches und müssen unschädlich gemacht werden“, lautete sein Kommentar. Obschon einigermaßen ambivalent, was antisemitische Gewalt betraf, bewahrte er sich seine „bedingungslose Begeisterung“ selbst während des Krieges.41 Genau solche Mitglieder wollte die HJ.
Im Gegensatz zu Reminiszenzen an „glückliche Zeiten“ in der HJ schweigen sich die meisten Lebenserinnerungen über den Antisemitismus aus, was darauf hindeutet, dass das ein heikles Thema war, das man lieber aussparte. Expliziter „Antisemitismus spielte im Jungmädelbund kaum eine Rolle“, so Eva Peters, „vielleicht allerdings deshalb nicht, weil er sich von selbst verstand“. Hans Queiser behauptet, dass er als HJ-Führer kaum judenfeindliches Material bekommen habe. Viele Heranwachsende hatten religiöse oder soziale Vorurteile gegen Juden längst verinnerlicht, weil das zu ihrer nationalistischen Erziehung gehörte. Selbst wenn jüdische Jugendliche eintreten wollten, wurde ihnen mit dem Hinweis, sie seien „undeutsch“, die Mitgliedschaft in der HJ verwehrt. Ein ums andere Mal beteiligte sich die Hitler-Jugend an antijüdischen Aktionen wie dem Boykott jüdischer Geschäfte, der Verbrennung von Büchern oder der Zerstörung von Synagogen, auch wenn manche Mitglieder sich solcher Gewalt schämten. Ingrid Bork erinnert sich: „Die Propaganda in der Schule und im ersten Jahr in der Jungmädelgruppe hatte mich aber schon erreicht, und ich fand es ganz richtig, daß die Juden vertrieben wurden aus Deutschland.“42
Weil sie sich ausgeschlossen fühlten, gründeten jüdische Jugendliche ihre eigenen Organisationen, um ein Zeichen der Solidarität gegen die Verfolgung durch Gleichaltrige zu setzen. Tom Angress und Werner Warmbrunn, die sich „zuallererst für Deutsche hielten, die zufällig ‚jüdischen‘ Glaubens waren“, schlossen sich dem „Schwarzen Fähnlein“ an. Der Jugendbewegung entstammend, war „seine Ideologie eindeutig ‚bündisch‘, Nietzscheanisch (‚Sei du selbst‘), geprägt von Liebe zur Natur, von Abenteuer (,Auf-Fahrt-Gehen‘) und Lagerfeuer-Romantik sowie der Überzeugung, dass die Nazis irgendwann wieder verschwinden könnten“. Das Zusammensein mit Gleichaltrigen in einer Gruppe erleichterte es, die alltäglichen Schikanen in der Schule zu verkraften. Die Kameradschaft auf gemeinsamen Erlebnisfahrten über Land und feindselige Begegnungen mit der Hitler-Jugend schufen lebenslange Freundschaften. Doch im Dezember 1934 wurde das „Schwarze Fähnlein“ verboten. Die Nationalsozialisten gaben dem zionistischen „Bund für Jüdisches Jugendwandern in Deutschland“ Blau-Weiß, den Vorzug, der die Alija, die Rückkehr von Juden nach Eretz Israel, ins Land Israel, befürwortete und dadurch im Sinne des NS-Regimes einen Beitrag zur Entfernung der Juden aus Deutschland leistete.43
Am Ende begannen selbst manche nichtjüdische Jugendliche gegen die obligatorische Mitwirkung in der Hitler-Jugend aufzubegehren, weil sie nicht reglementiert werden wollten. Wegen der zunehmenden Militarisierung des HJ-Dienstes entwickelte Gerhard Krapf „niemals eine positive Haltung gegenüber dem Jungvolkdienst“. Er übte lieber Orgel als auf Kommando eines „nicht allzu klugen und geistig nicht sehr regen“ HJ-Führers zu marschieren. Joachim Fest, der niemals freiwillig eingetreten war, machte es nichts aus, in die sogenannte „Pflicht-HJ“ eingegliedert und mit „stumpfsinnigen Leibesübungen im Schulhofdreck“ bestraft zu werden, wenn er sich vor den obligatorischen Heimabenden drückte. Jugendliche wie Paul Frenzel, die bereits Lehrlinge waren und am Beginn ihres Berufsweges standen, hielten den HJ-Dienst, der vor dem Krieg gesetzlich vorgeschrieben wurde, für reine Zeitverschwendung. Heinz Schultheis gestand, dass „vielen von uns – auch sehr vielen Erwachsenen – der ganze NS-Kram auf die Nerven ging“, weil er diese „ständige Bevormundung und Gängelei“ nicht leiden konnte.44 Vor allem manche der älteren Jugendlichen hatten die Reglementierung durch die Nazis allmählich gründlich satt.
Um sich dem Druck zu entziehen, entwickelten Heranwachsende ein Repertoire an Vermeidungsstrategien, vor allem wenn sie von ihren Eltern unterstützt wurden. Während die HJ behauptete, Millionen von Mitgliedern zu haben, gelang es einer Minderheit, sich gar nicht erst anzumelden oder sich der aktiven Mitwirkung zu entziehen. Manche, wie Gisela Grothus, schafften es nie, fielen schlicht durch die Maschen, als ihre Gruppe in die HJ eingegliedert wurde. Andere, wie Heinz Raschdorff, setzten die Mitgliedschaft in weniger politischen Gruppen wie der Jugendabteilung des „Reichskolonialbundes“ an die Stelle. Wieder andere tauchten nur sporadisch bei den wöchentlichen Treffen auf oder machten sich bei den obligatorischen Aufmärschen einfach davon. Als ein paar der unbeliebten HJ-Führer kamen, um sich nach Benno Schöffskis Fehlen zu erkundigen, warf seine wütende Mutter sie mit Ausflüchten über seine schlechte Gesundheit, Geldmangel oder zu wenig Zeit raus. Gerhard Krapf war stolz, dass er nach einer Auseinandersetzung „aus der Hitler-Jugend hinausgeworfen“ wurde, womit sein Dienst endete.45
Letztendlich machte die Hitler-Jugend sich das jugendliche Bedürfnis nach Zugehörigkeit mit großer Virtuosität zunutze. Als staatenloser Ukrainer in Prag beschloss Wilhelm Kolesnyk, Deutscher zu werden, weil er weder tschechisch noch jüdisch sein wollte. Er schloss sich den Jungturnern an und wurde in die Hitler-Jugend aufgenommen. „Anfangs gefiel es mir als Pimpf in der HJ recht gut.“ „Es war der fast krankhafte Ehrgeiz, entzündet an der Beförderung eines mir unliebsamen Mitschülers, der mich den Nazis in die Arme trieb“, weil er ein besserer HJ-Führer sein wollte als sein Rivale. Ruth Bulwin hat ihre BDM-Schar noch in bester Erinnerung: „Wir waren, möchte ich meinen, ein kameradschaftlicher Haufen.“ Wie viele ehemalige Mitglieder erinnert sie sich an „eigentlich immer lachende, fröhliche Gesichter bei großen und kleinen Pimpfen, begeisterungsfähige junge Menschen, sportlich durchtrainiert, diszipliniert und zackig, von der Sache völlig überzeugt, kritiklos und voll guten Glaubens an die Zukunft und den Führer“. Solche positiven Erinnerungen lassen darauf schließen, dass die meisten Jugendlichen im Großen und Ganzen gern Mitglied in der HJ waren.46