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DIE TRADITIONEN DER VORFAHREN
ОглавлениеWelchen Einfluss frühere Generationen auf die Lebenswege der Nachgeborenen haben, ist schwer dingfest zu machen. Obwohl es damals wesentlich zur geselligen Unterhaltung gehörte, Familiengeschichten zu erzählen, sind die Verweise auf Vorfahren meist vage und spärlich.9 Viele Autobiografien sind voller alter Fotografien, sorgfältig komponierten Porträts wie dem des Großvaters und Vaters von Ruth Weigelt – selbstgefällig dreinblickende Männer in Uniform (Abb. 2). Andere Schnappschüsse halten wichtige Ereignisse im Leben fest, beispielsweise Hochzeiten, Geburtstage oder Konfirmationen. Allerdings sind sich die Nachfahren oft nicht sicher, wer die Leute auf den Fotografien überhaupt sind, wenn Namen und Anlässe nicht auf der Rückseite vermerkt wurden. Einige Verfasser betrieben sogar Ahnenforschung, um ausführliche Familienstammbäume zu erstellen, die oftmals nicht mehr enthalten als einen Namen, ein Datum und einen Ort.10
Die harmlose Ahnenfrage wurde erst zu einem gefährlichen Problem, als die Nationalsozialisten für Eheschließung und öffentlichen Dienst den Nachweis arischer Abstammung verlangten. Nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ von 1933 galt „als nicht arisch … wer von nicht arischen, insbesondere jüdischen Eltern oder Großeltern abstammt“. Da es unmöglich war, die „Rasse“ mit biologischen Messungen nachzuweisen, führte diese antisemitische Klausel zu hektischen Suchaktionen nach urkundlichen Belegen in Personenstandsregistern und Kirchenbüchern. Das Verschwimmen konfessioneller Grenzen aufgrund von Konversion, Mischehe und Säkularisierung hatte viele Menschen gemischter Abstammung hervorgebracht. Weil die Entdeckung einer jüdischen Großmutter sie in Lebensgefahr bringen konnte, griffen viele betroffene Familien, wie etwa die Helmers, zu Notlösungen, beispielsweise verwandtschaftlichen Banden mit einem prominenten Nazi, um solche mutmaßlichen „Makel“ aus ihrer Vorgeschichte zu tilgen. In der rassistischen Welt des „Dritten Reichs“ wurde der Nachweis arischer Abstammung zur Überlebensfrage.11
2 Kaiserlicher Großvater und Vater.
Ohne solche Veranlassung bedurfte es schon des ungewöhnlichen Stolzes auf eine besondere Abstammung, damit Familien sich früherer Generationen von Vorfahren erinnerten. In proletarischen Lebenserinnerungen finden sich selten die Namen der Großeltern, weil der tägliche Existenzkampf den Menschen kaum Zeit ließ, entsprechende Aufzeichnungen zu machen. Bürgerliche Familien mit einer ungewöhnlichen Vergangenheit, beispielsweise der Abstammung von hugenottischen Flüchtlingen wie im Fall des Försters Andrée aus Pommern, neigten eher dazu, eine solche Erinnerung zu bewahren.12 Angehörige religiöser Minderheiten, die um gesellschaftliche Anerkennung kämpften, wie etwa die Kaufmannsfamilie Gompertz aus dem Ruhrgebiet, pflegten einen gewissen Ahnenstolz, vor allem wenn ihr gegenwärtiger Erfolg sich positiv von ihren bescheidenen Anfängen abhob.13 Und Autoren wie Benno Schöffski, der vertrieben wurde, wollten dem Nachwuchs das nostalgische Bild einer verlorenen Heimat vermitteln.14 Vertreter der Oberschicht schließlich, wie etwa die Scholz-Eule-Sippe, ehemalige Besitzer eines Guts in Schlesien, hielten die Erinnerung wach, um eventuelle Rückgabe- oder Entschädigungsansprüche begründen zu können.15
Eine wesentliche Tradition, die diese unterschiedlichen Ahnen weitergaben, war ihre kulturelle Identität als Deutsche. Abgesehen von Joachim Fests quasi aristokratischen Großeltern, die sich auf Französisch unterhielten, und Gerhardt Thamms schlesischen Ahnen, die auch Polnisch sprachen, verbindet die Protagonisten dieses Buches eine gemeinsame Schriftsprache. Darüber hinaus erbte ihr Nachwuchs eine Reihe gesellschaftlicher Gepflogenheiten, wie etwa das gesellige Beisammensein in Biergärten am Sonntag oder die Zusammenkunft im weihnachtlichen Kerzenschein, die sie von ihren westlichen und östlichen Nachbarn unterschieden. Auch die später viel gescholtenen „Sekundär tugenden“: harte Arbeit, Disziplin, Pünktlichkeit und Autoritätsgläubigkeit, die die Marke „Made in Germany“ zum geschäftlichen Erfolgsmodell machten, gehörten dazu. Schließlich umfasste das Vermächtnis die Sozialisation in eine Hochkultur aus Dichterfürsten wie Goethe und Schiller, Philosophen wie Kant und Hegel und Komponisten wie Bach und Beethoven.16 Diese Bräuche und kulturellen Bezugsgrößen schufen ein Gemeinschaftsgefühl, auch wenn ihre konkrete Interpretation höchst umstritten blieb.
Ein anderes Vermächtnis war der Nationalliberalismus, der für eine konstitutionelle Regierung und die Vereinigung der zersplitterten deutschen Territorien zu einem Nationalstaat eintrat. Die meisten Urgroßeltern, die während der 1830er-Jahre geboren wurden, waren enttäuscht über das Scheitern der Revolution von 1848 und den schleppenden Prozess der Erlangung politischer Rechte, der manch einen bewog, in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Der unerwartete Erfolg des Einigungsdrangs machte den preußischen König zum deutschen Kaiser Wilhelm I. und Reichskanzler Otto von Bismarck zum gefeierten Volkshelden. Außerdem verschafften die Triumphe auf dem Schlachtfeld in den drei aufeinander folgenden Kriegen gegen Dänemark (1864), Österreich (1866) und Frankreich (1870/71) dem Militär enorme Geltung. Der Aufbau eines Nationalstaats verlangte eine grundlegende Neuausrichtung der Loyalitäten von der engeren Heimat hin zu einem umfassenderen nationalen Zusammengehörigkeitsgefühl. Bismarcks Kulturkampf gegen die Katholiken, seine Verfolgung der Sozialdemokraten durch das Sozialistengesetz und die Zunahme des Antisemitismus im Gefolge der Emanzipation des jüdischen Bevölkerungsteils in der Reichsverfassung von 1871 zeigen, dass der Versuch des protestantischen Preußen, Deutschland nach dem eigenen Bild umzugestalten, umstritten und unvollständig blieb.17
Eine weitere Hinterlassenschaft war die industrielle Umgestaltung der Lebenswelt im Ruhrgebiet, in Oberschlesien und im Saarland, die ein ländliches Idyll in ein boomendes Revier von Kohle und Stahl verwandelte. Während die industriellen Produktionsmethoden größtenteils aus Großbritannien und Belgien importiert wurden, setzte ihre Unterstützung durch technische Innovation und staatliche Förderung einen beschleunigten Fortschritt in Gang, der die bisherigen Führer am Vorabend des Ersten Weltkriegs einholte und überholte. Die Einführung von Kunstdünger und Maschinen in der Landwirtschaft setzte viele Landarbeiter frei, die in die Städte strömten und die verschlafenen Landstädtchen an der Ruhr und in Oberschlesien in betriebsame Großstädte verwandelten. Um die Wohnverhältnisse in der Reichshauptstadt Berlin zu verbessern, wirkte Joachim Fests Großvater mütterlicherseits bei der Entwicklung eines völlig neuen Vororts in Karlshorst mit. Obwohl die Fabrikarbeit strapaziös war und die Lebensbedingungen erbärmlich blieben, veränderte diese Urbanisierung schlussendlich die Lebensgewohnheiten und die Alphabetisierungsstandards, was auch Angehörigen des Proletariats die Einforderung politischer Teilhabe ermöglichte.18
Ein weiteres Erbe bestand in einer neuen sozialen Mobilität, die geschäftstüchtigen Einzelnen und ganzen Regionen Wohlstand bescherte. So war einer der Großväter von Hans Queiser Gürtelmacher in der Kleinstadt Idar-Oberstein am südlichen Rand des Hunsrücks zu beiden Seiten der Nahe. Der Sohn absolvierte eine Lehre bei einer örtlichen Bank, stieg auf bis zum Vorstandsmitglied, wohnte in einer Firmenwohnung und „hatte in seinem Beruf Erfolg“, sodass er heiraten und mehrere Dienstboten beschäftigen konnte. Der andere Großvater aus Cottbus in Brandenburg hatte als Kesselheizer angefangen und brachte es bis zum Direktor einer Kammgarnspinnerei. Benno Schöffskis Vater begann als einfacher Briefträger, der in Ostpreußen bei jedem Wetter die Post austragen musste, und beschloss seine Berufslaufbahn als höherer Angestellter im regionalen Postzentrum in Königsberg. Ein solcher individueller Aufstieg, wie er sich in zahllosen wilhelminischen Familien wiederholte, erzeugte ein kollektives Gefühl des Stolzes, das die Erwartung künftigen Fortschritts befeuerte.19
Das von den Altvorderen beschworene Kaiserreich hatte deshalb einen durchaus zwiespältigen Charakter. Auf der einen Seite zeichnete es das Sehnsuchtsbild einer malerischen Vergangenheit mittelalterlicher „Heimatstädtchen“ wie Rothenburg ob der Tauber, deren von dicken Mauern umgebene Burgen, gotische Kirchen, Fachwerkhäuser und Kopfsteinpflasterstraßen über die Jahrhunderte scheinbar unverändert geblieben waren.20 Auf der anderen Seite entstand allmählich ein Bewusstsein deutscher Identität jenseits regionaler Loyalitäten, ein befreiendes Gefühl, dass es für Geschäfte und Wissenschaft künftig größeren Spielraum geben würde, sodass die Nation in Wettstreit mit etablierten Staaten wie Frankreich und Großbritannien treten konnte. Gleichzeitig deutete die durch das Aufkommen von Eisenbahn und Ozeandampfer symbolisierte Dynamik des industriellen Wandels auf beschleunigte Veränderungen hin, die alte Hierarchien und Sicherheiten zerstören würden.21 Es war dieses Spannungsverhältnis zwischen lokaler Herkunft und nationaler Zugehörigkeit, aber auch zwischen ländlicher Nostalgie und industrieller Urbanität, die eine künftige Generation vor neue Herausforderungen stellen sollte.