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DIE NAZIFIZIERUNG DER JUGEND
ОглавлениеDie Indoktrination der deutschen Jugend hatte bereits vor der Machtergreifung Hitlers mit dem raschen Wachstum der NS-Bewegung begonnen. Solange die Partei als Randerscheinung galt, waren nur fanatische Nationalisten und Rassisten bereit, ihr beizutreten. Beschäftigten im öffentlichen Dienst war es sogar zeitweilig verboten, Mitglied zu werden. Arbeitslose Männer wie Ursula Mahlendorfs Vater traten vermehrt in die SA oder die SS ein, weil deren Kameradschaftsgeist und Härte in den Straßenschlachten sie ansprachen. „Die SS galt in der Stadt als die Elitetruppe und Vater imponierte die Eleganz der schwarzen Uniformen.“ Durch seine Aufnahme bekam er den Respekt, den er sich so sehr wünschte. Allerdings erinnert sich Ursula Mahlendorf nicht daran, „ihn je in der eleganten schwarzen Uniform gesehen zu haben“. Im Anschluss an die Wahlsiege vom Juli und November 1932, welche die NSDAP zur stärksten Reichstagsfraktion machten, begannen auch Opportunisten aus Angestelltenkreisen in hellen Scharen in die Partei einzutreten und übertrafen zahlenmäßig bald den harten Kern der „alten Kämpfer“. Zudem übten Firmen Druck auf ihre Belegschaften aus, einer NS-Organisation beizutreten. Jugendliche sahen sich zunehmend mit einer dynamischen Bewegung konfrontiert, die eine bessere Zukunft versprach: ein Ende der Wirtschaftskrise, „Ordnung und Stabilität“.7
Der Aufstieg der Nationalsozialisten sorgte in vielen Familien für Streit. Nicht nur Kommunisten und Juden waren entsetzt über ihre nationalistische Botschaft. Bei Zusammenkünften an Feiertagen kam es zu heftigen Wortwechseln zwischen Linken, die Thälmann favorisierten, Gemäßigten, die Hindenburg unterstützten, und Rechten, die Hitler den Vorzug gaben. Auch wenn Hellmut Raschdorff nicht verstand, was das bedeutete, prophezeite sein katholischer Vater hellsichtig: „Wenn Hitler an die Macht kommt, gibt es Krieg.“ Bei den Bauckes sorgte die Enthüllung, dass der Vater NSDAP-Mitglied war, für einen „großen Familienkrach“. Als Frau Baucke im Café der Familie die antisemitische Zeitschrift Der Stürmer fand, „stürmte Mutter in das Geschäftszimmer, knallte Vater die Zeitung auf den Schreibtisch und fauchte ihn an: ‚Hugo, dieser Schweinkram kommt mir nicht ins Haus‘“, wobei sie ihn daran erinnerte, wie viel sie ihren jüdischen Gästen verdankten.8 Durch solch emotionale Szenen wurden die älteren Kinder politisiert, weil sie sich für die eine oder andere Seite entscheiden mussten.
Nach der faktischen Machtergreifung traten die Nationalsozialisten augenblicklich an die Stelle der Weimarer Elite und beanspruchten die Siegesbeute. Den Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 als Vorwand nutzend, inhaftierten sie Kommunisten, wie etwa Ingrid Borks Großonkel, der gefasst wurde, als er Geld für bedürftige Linke sammelte. „Da ist er auf offener Straße von den Nazis verhaftet worden und auch ins KZ gesteckt worden. Ein Jahr saß er dort.“ Am 1. April 1933 boykottierten NS-Schläger jüdische Geschäfte, zwangen die Inhaber zu schließen und ihre Kunden abzuweisen. Der Pelzhändler Albert Gompertz schlug vor, „allen Juden Pässe zu bewilligen, damit sie das Land verlassen“ könnten. Doch der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens erhob dagegen Einspruch – aus Furcht, dadurch noch mehr in die Schusslinie zu geraten. Nicht einmal ihre nationalistischen Verbündeten wie den Journalisten Fritz Klein respektierten die Nationalsozialisten, trotz dessen „grundsätzliche[r] Zustimmung zu dem Kabinettswechsel“. Weil er hinzufügte „mit zahlreichen Fragezeichen“ und vor einem „Rausch der Begeisterung“ warnte, ersetzten ihn die Finanziers der DAZ nach einigen weiteren nicht vorbehaltlos positiven Artikeln als Chefredakteur kurzerhand durch den bisherigen England-Korrespondenten des Blattes Karl Silex.9 Das ließ wenig Zweifel daran, dass das Ziel der „nationalen Revolution“ nichts anderes war als die Errichtung einer Diktatur.
Indem sie auf einer Reihe gemeinsamer Rituale bestanden, erzwangen die Nationalsozialisten einen Anschein einmütiger Unterstützung für das „Dritte Reich“. Im alltäglichen Umgang sollten unverfängliche Grußformeln wie „Guten Tag“ ersetzt werden durch „Heil Hitler“, womit der Grüßende seine Unterstützung für das neue Regime bekundete. Kritiker brummelten bloß, verschmolzen „Heil Hitler“ und „Guten Tag“ zu einer unverständlichen Begrüßung oder winkten mit dem Arm statt ihn auszustrecken. An besonderen Tagen war jede Familie außerdem verpflichtet, eine Hakenkreuzfahne aus dem Fenster zu hängen, um ihre politische Zustimmung öffentlich zu bekunden. Unwillige wie die Schöffskis, die das verhasste Ritual nicht ganz umgehen konnten, zeigten lediglich die kleinstmögliche Fahne. Entsprechend stellten Blockwarte durch Kontrollen sicher, dass jeder Haushalt die Parteizeitung Völkischer Beobachter abonnierte, damit seine Angehörigen die offizielle Linie mitbekamen. Aber auch die Blockwarte konnten nicht verhindern, dass alte Exemplare des Parteiblatts als Toilettenpapier Verwendung fanden.10 Während manche Jugendliche sich über die Zurückhaltung ihrer Eltern ärgerten, lernten andere, wie man sich zum Schein fügte.
Bekannte politische Gegner – Sozialdemokraten oder Kommunisten – mussten mit Einschüchterung und Gewalt rechnen. Solange Kritiker ihre Meinung für sich behielten, wurden sie lediglich bei Beförderungen übergangen oder an weniger attraktive Standorte versetzt. „So geschah es vielen Genossen und Mitgliedern anderer Parteien, die sich als Gegner der NSDAP ausgaben.“ Andere wurden ohne gerichtliche Anordnung „von bekannten SA-Leuten in ‚Schutzhaft‘ genommen und abgeführt“. Sie wurden geschlagen und gezwungen, Namen preiszugeben. Der Vater von Hans-Harald Schirmer wurde an einem Sommermorgen im Jahr 1933 in aller Frühe von einem SA-Trupp aus dem Schlaf gerissen, dessen Anführer nur „Anziehen, folgen“ brüllte. Verwirrt fügte er sich, und man brachte ihn zur Polizei. „Im Keller eines Verwaltungsgebäudes [wurde er] tagelang weiter unter Folter, Schlafentzug und Nahrungsverweigerung genötigt, Selbstgeständnisse zu liefern“, wonach er einen Staatsstreich geplant habe. „Nach mehreren Tagen kehrte er mit Blessuren und Blutergüssen zurück, verstört und mental abwesend.“11 Weil sie sich in den Fängen der Propaganda befanden, begriffen viele Heranwachsende, wie etwa Benno Schöffski, nicht, warum ihre Eltern den Verlockungen der Nationalsozialisten widerstanden.
An den Schulen bemühten sich nationalsozialistisch gesinnte Lehrer, oft in SA-Uniform, ihre Schüler mit nationalistischen und rassistischen Ideen zu impfen. „Selbst für uns Kinder [waren sie] erkennbar in der Spannbreite vom unterwürfigen Einfältigen bis brutalen Fanatiker“, schreibt Hans Schirmer, der entsetzt war, als die Stelle des Rektors an seiner Schule mit einem NSDAP-Mitglied besetzt wurde: „Der lächerliche Prahl-Nazi war Stenographielehrer, der als eifriger alter Kämpfer und Pg [Parteigenosse] mit geringstmöglichen Fähigkeiten 1934 Rektor wurde.“ Tom Angress litt unter einem Geschichtslehrer, der im Krieg ein Bein verloren hatte: „Hin und wieder machte er eine antisemitische Bemerkung, die nichts mit dem zu tun hatte, worüber er gerade referierte.“ Albert Gompertz zuckte zusammen, als „unser Musiklehrer, der eine Hakenkreuz-Anstecknadel am Revers trug, […] unserer Klasse in Gegenwart jüdischer Schüler … Nazi-Lieder vorsang, von denen eines den Refrain hatte: ‚Wenn das Judenblut vom Messer spritzt.‘“12 Solche verbalen Ausfälle sorgten dafür, dass jüdische Schüler sich zunehmend diskriminiert fühlten.
Ein wichtiger Teil der Nazifizierung des Schulsystems war der Umbau des Lehrplans. „Der Geschichtsunterricht“, so Schirmer, „bekam einen Trend, rückwärts gesehen, die NS-Ideologie wurde fast unmerklich eingebaut.“ Statt wie üblich Könige und Schlachten aufzuzählen, setzte der nationalpolitische Unterricht andere Akzente. „Die Kernpunkte des NSDAP-Programms waren die Neuordnung Deutschlands und der germanischstämmigen Länder zu einem Großdeutschen Reich, Hitlers Politik und Kampf gegen die bolschewistische Ideologie und das System des internationalen, jüdisch-zionistischen Weltkapitals zur Destabilisierung und Beherrschung Europas.“ Hermann Debus machte die Erfahrung, dass „die Begriffe Führer, Volk und Vaterland … uns täglich vor Augen geführt [wurden]. Die Thesen … festigten in uns das Bild von der Unfehlbarkeit Hitlers und seiner Helfershelfer.“13 Angesichts eines derart tendenziösen Unterrichts konnten die meisten Schüler nicht umhin, die ideologischen Vorurteile zu übernehmen.
Ein weiteres Element der Indoktrination war die Einführung neuer Fächer wie der „Rassenkunde“, die eine Hierarchie der Rassen lehrte, an deren Spitze die „Arier“ standen. Als ein antisemitischer Chemielehrer die phänotypischen Unterschiede veranschaulichen wollte, zeigte er auf Tom Angress und verkündete: „Dieser Junge hat einen wohlgeformten dinarischen Schädel, genau wie Reichspropagandaminister Dr. Goebbels.“ Weil er den einzigen jüdischen Schüler in der Klasse als beispielhaften Angehörigen der arischen Rasse bezeichnet hatte, „brach schallendes Gelächter aus“. Als dieser Lehrer ein paar Tage später an der Tafel schrieb, bewarfen die Schüler ihn mit getrockneten Erbsen und jagten ihn aus dem Raum. Ihr Klassenlehrer, ein Nazi-Stutzer, stürmte herein, schäumte vor Wut und beschuldigte Angress: „Gerade du, DU musst so etwas tun.“ Aber weil die ganze Klasse den Streich zugab, blieb ihm nichts anderes übrig als alle zu drei Stunden Nachsitzen zu verdonnern.14 Obwohl die Thesen der Rassenkunde schwer zu glauben waren, verstärkten ihre Parolen gängige Vorurteile.
Die Schulen konkurrierten bei der Ausbildung der Jugendlichen mit der Hitler-Jugend um Zeit und Bedeutung. Zunächst wurde 1934 der Samstag zum wöchentlichen „Staatsjugendtag“ erklärt: Angehörige der HJ waren fortan am Sonnabend vom Unterricht befreit, um an den Übungen und Veranstaltungen der HJ teilnehmen zu können. Zusätzlich war der Mittwochnachmittag dem Dienst in der HJ vorbehalten. Wegen der zahllosen Märsche, Wanderungen, Sportveranstaltungen und Sammelkampagnen hatten die Schüler kaum Zeit, „richtig Lesen und Rechnen zu lernen“, erinnert sich Gerhard Krapf später. Im Jahr 1936 hieß es im Gesetz über die Hitler-Jugend, das sämtliche Jugendlichen zur Mitgliedschaft in der HJ verpflichtete: „Die gesamte deutsche Jugend ist außer in Elternhaus und Schule in der Hitlerjugend körperlich, geistig und sittlich im Geiste des Nationalsozialismus zum Dienst am Volk und zur Volksgemeinschaft zu erziehen.“15 Zugleich wurde der „Staatsjugendtag“ wieder abgeschafft, der Unterricht an Samstagen aber auf vier Stunden begrenzt. Auch wenn sie den vorgeschriebenen Zeitaufwand reduzierte, etablierte diese Gesetzgebung die HJ als gleichrangige Autorität neben Elternhaus und Schule. Kein Wunder, dass Lehrer Schwierigkeiten hatten, gegen arrogante Führer anzukommen, die den Unterricht störten. Typische Ausflugsfotos wie das von Ruth Bulwins BDM-Gruppe zeigen fröhliche Jugendliche bei einer Landpartie (Abb. 8).
Mit den Anforderungen der Propaganda konfrontiert, war es für Verwaltungsbeamte und Lehrer riskant, pädagogische Standards zu verteidigen. An Erich Helmers Gymnasium in Braunschweig war „die Mehrheit der Lehrer … politisch neutral, ja einer sogar offensichtlicher Gegner des neuen Regimes“. Den obligatorischen deutschen Gruß ignorierend, begrüßte er die Klasse demonstrativ mit „Guten Tag“ und fesselte seine Schüler mit fantasievollen Rollenspielen. Tom Angress hatte auf seiner höheren Schule in Lichterfelde das Glück, einen „geradlinigen deutschen Nationalisten“ als Rektor zu haben: Er war „gerecht, zugänglich und hatte Sinn für Humor“. Andere Lehrer unterrichteten weiter ihren Stoff und machten gelegentlich rhetorische Zugeständnisse an die herrschende Ideologie. Angress’ Sportlehrer, ein überzeugter SA-Mann, war so beeindruckt von den turnerischen Fähigkeiten des Jungen, dass er ihn für einen interschulischen Wettkampf nominierte.16 Aber um die Wiederaufrüstung zu beschleunigen, wurde der Lehrplan der höheren Schulen um ein Jahr zusammengestrichen.
8 Ausflug mit dem Bund Deutscher Mädel.
Offene Opposition war im „Dritten Reich“ schwer möglich, weil direkter Widerspruch von Parteifanatikern und Opportunisten rigoros unterdrückt wurde. Schon im Frühjahr 1933 wurde der Lehrkörper der höheren Schulen durch ein Gesetz „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ von Juden, Linken und Republikanern wie Joachim Fests Vater „gesäubert“. Erst sehr viel später verstand Gerhard Krapf, dass an seiner Schule „Herr Scheuermann entlassen worden war, weil er Jude war“. Andere unorthodoxe Lehrer wurden bespitzelt, zensiert, zurückgestuft oder ebenfalls entlassen. Couragierte Lehrkräfte, die es wagten, „ihre pädagogischen Pflichten klug [zu] erfüllen“, mussten sich verstellen, „um neben der offiziellen Darstellung weitere Sichtweisen wertneutral, aber interessant und somit Aufmerksamkeit weckend anzubieten“. Allerdings passte sich die Mehrzahl der Lehrer der NS-Ideologie an, was nicht ohne Folgen blieb: „Für die Unterscheidung zwischen human und inhuman hat der Unterricht den Schülern keine Kriterien mit auf den Weg gegeben.“17
Der wachsende nationalsozialistische Einfluss in den Schulen isolierte die jüdischen Schüler und machte sie zur Zielscheibe von Beschimpfungen und Diskriminierung. Gisela Grothus erkannte an ihrer höheren Mädchenschule erst, „wie viele jüdische Schülerinnen bei uns waren“, als die Hälfte ihrer Schulkameradinnen die christlichen Feiertage nicht beging. Deutsche Patrioten wie Tom Angress fühlten sich immer unbehaglicher, wenn sie Nationalfeiertage begehen und an NS-Kundgebungen teilnehmen mussten, bei denen Juden nicht erwünscht waren. Ein älterer Hitlerjunge namens Arndte, der schon zwei Klassen wiederholt hatte, fing an, ihn mit Verbalattacken, wie etwa „Deutschland erwache! Tod den Juden!“, zu schikanieren. Aber sein Ansehen sank rapide, als Tom ihn im Turnen bei einem Seilkletterwettbewerb schlug. Zu Erich Eyck brachen viele Mitschüler den Kontakt ab, doch ein paar anständige Jugendliche wie Wolfgang Schmidt, blieben trotz „der politischen Situation und der Spaltung des deutschen Volkes in Arier und Nicht-Arier“ mit ihm befreundet.18
Angesichts solcher ideologischer Feindschaft war es für jüdische Jugendliche nicht leicht herauszufinden, wie sie reagieren sollten. Wenn sie eine liberale Einrichtung mit liebenswürdigen Lehrern und anderen jüdischen Mitschülern besuchten, mochten sie hofften, dass der ganze Nazi-Spuk irgendwann vorübergehen würde. Viele AutorInnen „schreiben in ihren Erinnerungen, wie sie als Kinder beim Anblick des marschierenden Jungvolks ihre Eltern gefragt hätten, warum sie denn da nicht mit dabei sein durften!“ Wenn sie von Nazi-Sympathisanten körperlich angegriffen wurden, konnten sie, wie Tom Angress, all ihren Mut zusammennehmen und sich gegen den Angreifer zur Wehr setzen, um den Respekt ihrer Mitschüler zu erlangen. Wenn eine Freundschaft stark genug war, wie etwa die mit einem Fähnleinführer der Hitler-Jugend, bestand sie vielleicht auf der Basis gegenseitigen Respekts fort. Aber auf lange Sicht sahen sich die Jugendlichen jüdischen Glaubens mit Beginn der Pubertät zunehmend isoliert. Viele „zogen es vor, mit Fällen von Niedertracht und Erniedrigung [allein] fertigzuwerden“.19
Die Zunahme des Antisemitismus an den Schulen und ständige Beleidigungen (wie „Judenschwein“) lösten einen teils freiwilligen, teils erzwungenen Rückzug der jüdischen Schüler aus. Als ein Unterrichtsprojekt zutage förderte, dass Erich Helmer eine jüdische Großmutter hatte, schützte Pastor Helmer seinen Sohn, indem er auch eine entfernte Verwandtschaft mit Joachim Ribbentrop, dem nationalsozialistischen Außenminister, ausfindig machte. Der „sehr deprimierenden“ Situation an den staatlichen Schulen überdrüssig, wechselten manche jüdische Jugendliche auf gesonderte jüdische Einrichtungen. Andere, wie etwa Erich Eyck, die das Glück hatten, über die entsprechenden Mittel und Beziehungen zu verfügen, setzten ihre Schulausbildung im Ausland fort: „Die mein schulisches Leben betreffenden antijüdischen Maßnahmen stärkten meine Bereitschaft auszuwandern.“ Ab 1936 wurden die meisten jüdischen Schüler der staatlichen Schulen verwiesen, im Jahr 1938 legten die letzten dort ihre Abiturprüfung ab.20
Die Indoktrination der nichtjüdischen Jugendlichen in der Schule wurde flankiert von einer Flut allgemeiner nationalsozialistischer Propaganda, die den „deutschen Aufstieg“ als einen Schritt hin zur „Verjüngung“ des Landes feierte. Am „Tag von Potsdam verbeugte sich in der Garnisonskirche … der zivil gekleidete Hitler vor dem uniformierten Reichspräsidenten. […] Hier schien das rabaukenhafte Nazi-Regime seinen Frieden mit der preußischen Vergangenheit gemacht zu haben.“ Gerhard Baucke erlebte die Zeremonie als eine verspätete Form der „innere[n] nationale[n] Erhebung“. In ähnlicher Weise verschleierte die Proklamation des „Tag[es] der deutschen Arbeit“ am 1. Mai die Zerschlagung der Gewerkschaften. Es gab „nun einen langen Umzug, bei dem nicht nur uniformierte Parteianhänger mitmarschierten, sondern z.B. die einzelnen Handwerker-Innungen auf großen pferdebespannten oder motorgetriebenen Wagen szenenartig ihre Kunst zeigten“. Vorgeführt wurde außerdem eine „Wochenschau, wo ‚der Führer‘ höchstpersönlich mit einigen Getreuen die Schippe in die Hand nahm und … den ersten Spatenstich zum Bau der Reichsautobahnen ableistete“. Die Botschaft lautete: „Es geht aufwärts, und bald haben wir keine Arbeitslosen mehr.“21
Medienwirksamer Höhepunkt der nationalsozialistischen Normalitätspropaganda war die Austragung der Olympischen Spiele 1936 in Berlin, die vor allem bei den Jugendlichen Anklang fanden. Solange das NS-Regime im neuen Olympiastadion die Jugend der Welt begrüßte, setzte es seine repressive und rassistische Politik vorübergehend aus, um der Welt die freundliche Seite des „neue[n] Deutschland“ zu präsentieren. Als Tausende von Schulkindern wie Ruth Bulwin während der Eröffnungsfeier mit ihren Körpern die olympischen Ringe und das weiße Fahnentuch bildeten, „fanden Jubel und Begeisterung keine Grenzen“. „Alle Welt war begeistert“, weil alle an Frieden und Aufschwung glauben wollten. Während die Amerikaner sich heute an die Triumphe von Jesse Owens erinnern, feierten die Deutschen damals den Sieg im Medaillenspiegel. Viele der anwesenden ausländischen Journalisten und Athleten „überbrachten ihren Heimatländern die gute Nachricht von einem dynamischen Deutschland, diszipliniert und ordentlich, friedlich gesinnt und fleißig“. Die Regisseurin Leni Riefenstahl, berühmt für ihre filmische Darstellung des Reichsparteitags der NSDAP 1934 in Nürnberg, fing die „nordische Schönheit“ athletischer Körper in einem eindrucksvollen Dokumentarfilm ein.22
Von größerem praktischen Nutzen war die nationalsozialistische Verschickung untergewichtiger Stadtkinder aufs Land. Auch ohne dass man sie groß drängen musste, begannen Familien, die Verwandtschaft auf dem Land hatten, ihre Sprösslinge zu Großeltern oder anderen Familienangehörigen auf einen Bauernhof zu schicken, damit sie während der Sommerferien von der besseren Luft und dem reichlicheren Essen profitierten. „Jedes Jahr kam [außerdem] der Amtsarzt in die Schule, um alle Kinder zu untersuchen.“ Wer „Untergewicht [hatte], bekam … täglich eine Flasche Milch als Schulspeisung und darüber hinaus wurde er zur Kinderlandverschickung vorgeschlagen“. Obwohl einige anfangs Heimweh hatten und nur schwer mit der Reglementierung zurechtkamen, genossen die meisten den Tapetenwechsel und legten fern des Elternhauses kräftig an Gewicht zu. So nahm Hellmut Raschdorff, auch wenn er es eigentlich nicht nötig hatte, „diese Möglichkeit als Geschenk dankbar“ an. Während des Krieges verbrachten solche Kinder dann nicht mehr nur ein paar Wochen, sondern teilweise Monate bei minimalem Unterricht und maximalem Drill und propagandistischer Beeinflussung in „Schullandheimen, Jugendherbergen, Zeltlagern, Pensionen, Hotels, Klöstern usw.“ Aus den ursprünglichen Erholungsmaßnahmen wurden unter den Bedingungen des alliierten Luftkriegs Evakuierungen aus den gefährdeten Großstädten, die aber weiter als gesundheitliche Maßnahmen ideologisch verbrämt wurden.23
Die Nazifizierung der Jugendlichen brachte eine widersprüchliche Mischung aus Zwang und Zustimmung mit sich. Auf der einen Seite zeigten die Ausschaltung von Kritikern, die Verfolgung politischer Feinde und der Ausschluss der Juden aus der Gemeinschaft das diktatorische Gesicht des „Dritten Reichs“. Auf der anderen Seite hoben die echte Begeisterung, der neue Stolz und die aufkeimende Hoffnung die öffentliche Stimmung und machten das NS-Regime bei den meisten derjenigen, die davon auf irgendeine Weise profitierten, populär. Vor allem bei Jugendlichen erzeugten die Eindrücke „ein undurchdringbares Gemisch der gegensätzlichsten Gefühle, die einen riesigen Bogen spann[t]en zwischen kindlicher, ja kindischer Begeisterung, Unlust, Fremdheit“. Heinz Schultheis erinnert sich an „dieses fast schizophrene Gefühl […], das sich gerade bei der Masse der Bevölkerung einstellte, wenn sie zwischen offensichtlichen Erfolgen und bösartigem Zwang dieser neuen Machthaber kaum noch sicher urteilen konnte“.24