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Deutsche Geschichten

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Gespräche mit älteren Deutschen über ihre Vergangenheit fördern erstaunliche Geschichten zutage, die oft unfassbarer anmuten als jede fiktive Erzählung. So kauerte in der Nacht des 6. März 1945 Toni Schöffel mit ihren drei kleinen Kindern während eines britischen Luftangriffs auf den mittelalterlichen Stadtkern von Würzburg in einem Schutzraum. „Panik brach aus“, als der Luftschacht getroffen wurde und „der Qualm sich im Raum sammelte“. Als die vier sich durch den blockierten Eingang gegraben hatten, standen sie vor einem Flammeninferno, das die Frontseite ihres Wohnhauses zum Einsturz brachte. „Der Feuersturm war so stark, dass Toni die Kinder festhalten musste, damit sie nicht erfasst wurden.“ Mit dem kleinsten Mädchen, das in einem Handkarren saß, mussten die Überlebenden 25 Kilometer laufen, bevor ein freundlicher Bauer sie endlich aufnahm. Aber es gab keine Nachricht von ihrem Vater Paul Schöffel, der an der Front diente. „War er gefallen, gestorben?“1 Hinter der Fassade des Aufschwungs nach dem Krieg gibt es in fast jeder Familie solche Geschichten von zerrütteten oder verlorenen Leben. Sie sind ein Beleg für die verheerenden Auswirkungen von Diktatur und Krieg.

Wer solche Lebensgeschichten hört bzw. liest, sieht das 20. Jahrhundert plötzlich mit anderen Augen, weil dadurch einfache Menschen wieder Teil der allseits bekannten Schilderung historischer Ereignisse werden. Statt sich auf den Gang der großen Politik zu konzentrieren, erhellt diese umgekehrte Sichtweise die menschliche Dimension und offenbart eine außergewöhnliche Mischung aus andauerndem Leid und überraschendem Glück. So schreibt Bettina Fehr: „Durch die Erzählung eines persönlichen Schicksals konnte man erst richtig begreifen, was tausendfach als Unglück über die Menschen hereingebrochen war.“ Einerseits rangen viele Menschen mit Mächten, die sich ihrer Kontrolle entzogen, und machten sich zu Komplizen der nationalsozialistischen oder der kommunistischen Diktatur. Andererseits gelang es den Überlebenden dieser Katastrophen, ihr Leben trotz der Konfrontation des Kalten Krieges zwischen dem liberalen Westen und dem sozialistischen Osten wieder aufzubauen. Der Blick auf die Lebenswege durchschnittlicher Bürger löst die Großgeschichte von Unglück und Wiederaufbau auf in individuelle Erzählungen, die von Überleben und Neuanfang berichten. Diese Erzählungen vermitteln eine konkrete Vorstellung von den Auswirkungen politischer Konflikte, die friedliche Existenzen vernichteten, aber auch neue Möglichkeiten eröffneten.2

In den persönlichen Lebensberichten erscheinen die NS-Diktatur, der Zweite Weltkrieg und der Holocaust als die zentralen Kräfte, die die Lebenswege von Millionen Menschen unwiderruflich veränderten. Gegen das Leid und Elend des Ersten Weltkriegs und der Hyperinflation setzte die Weimarer Republik ein Zeichen der Hoffnung, dass der Fortschritt weitergehen würde. Doch dann führten die verheerenden Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zu jener massenhaften Enttäuschung, die der neuen nationalsozialistischen Bewegung den Weg an die Macht ebnete. Mit dem Zerrbild einer echten Volksgemeinschaft gelang es den Nationalsozialisten, den deutschen Stolz wiederzubeleben. Obwohl viele Autobiografien Hitlers anfängliche Popularität bestätigen, zeigen sie auch, wie der verbrecherische Vernichtungskrieg sich am Ende gegen die Deutschen kehrte, als sie zu Zigtausenden den Tod an den Fronten des Krieges, im Bombenkrieg und im Zuge ethnischer Säuberungen fanden. Das Drama der letzten Kriegsjahre, das die einstigen Täter zu Opfern machte, hat sich tief in das Gedächtnis der Menschen eingegraben, weil es viele Menschenleben kostete und auch bei denjenigen Narben hinterließ, die das Glück hatten zu überleben.3

Die Lebensgeschichten legen zugleich den Schluss nahe, dass die friedlichere zweite Jahrhunderthälfte eine gewisse Linderung bot, indem sie vielen Menschen ermöglichte, ein neues Leben zu beginnen und privates Glück wiederzufinden. Viele Nachkriegsentscheidungen waren bewusst oder unbewusst von dem unbedingten Willen getrieben, eine Wiederholung des Grauens zu vermeiden. Der individuelle wie kollektive Versuch, während des Kalten Krieges eine gewisse Normalität wiederherzustellen, verlangte gewaltige Anstrengungen. Das Streben nach materiellem Wohlstand im Westen und nach sozialer Gleichheit im Osten beanspruchte über Jahrzehnte alle Aufmerksamkeit. Viele Menschen schafften es, dabei ihre Albträume zu vergessen. Sie sonnten sich im beruflichen Erfolg und ernteten mit dem Kauf von Autos, dem Bau eines Eigenheims und Reisen ins Ausland die Früchte des Wohlstands. Doch mit dem Ruhestand kamen bei manchen die schrecklichen Erinnerungen an Niederlage, Flucht, Vertreibung und Nachkriegshunger wieder hoch und veranlassten sie, Rechenschaft über ihr Leben abzulegen. Und genau dieser schmerzhafte Prozess der Selbsthinterfragung verwandelte viele Deutsche am Ende in friedliebende Demokraten.4

Zerrissene Leben

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