Читать книгу Zerrissene Leben - Konrad Jarausch - Страница 14
ELTERLICHE BEEINFLUSSUNG
ОглавлениеDer Einfluss der Eltern auf die Kinder war noch stärker als die Einwirkung älterer Verwandter. Mit der Reduzierung der Kinderzahl wurde die Sorge um die verbleibenden Sprösslinge eine umso intensivere Aufgabe.32 Die Autobiografien der in den 1920er-Jahren Geborenen zeigen, wie das elterliche Vermächtnis körperlicher Gesundheit und emotionaler Stabilität die Lebenswege der Kinder begünstigen oder erschweren konnte. Entsprechend würde die sozioökonomische Position der Eltern darüber entscheiden, ob ihre Kinder ein Leben mühsamer Plackerei oder behaglicher Muße erwartete. Die Religionszugehörigkeit ordnete sie einer Mehrheit oder Minderheit zu, die entweder anerkannt oder diskriminiert wurde. Außerdem machte es einen gewaltigen Unterschied für die Identität, ob jemand im Norden oder im Süden Deutschlands wohnte. Weil Grenzen sich als Folge von Kriegen verschoben, waren Menschen gezwungen umzuziehen. Die ideologische Einstellung und das politische Engagement der Eltern bestimmten weitgehend die Reaktionen ihrer Sprösslinge. Körperhaltung und Kleidungsstil in Porträts wie dem der Familie Köchy deuten an, wie stark solche Einflüsse das Leben der Kinder prägten (Abb. 4).
In einer nach wie vor patriarchalischen Welt kam dem Vater die entscheidende Rolle zu. Er war die Autoritätsperson, der man gehorchte, und das Vorbild, dem man nacheiferte. „Mein Vater beschäftigt[e] sich nicht viel mit mir“, klagen viele Autoren, darunter auch Horst Grothus. Schuld war entweder die Arbeitsüberlastung oder das Beharren auf Zucht und Ordnung.33 Ein anderer Vater war einfach „ein Spieler und Bonvivant“, der seinen Sohn vernachlässigte.34 Ein Mädchen aus der Arbeiterschicht, Erika Taubhorn, erinnert sich dagegen: „Mein Vater war ein toller Mann“, er habe alles tun können, was er sich in den Kopf setzte. Er war „für mich die Hauptperson“, und „er spielte auch immer mit mir“.35 Wenn ein prominenter Mann wie der Journalistenvater von Fritz Klein vor der Zeit starb, waren die Auswirkungen für die Kinder schier katastrophal, weil ihre materielle Sicherheit bedroht war. Als kurz darauf auch Kleins Mutter starb, musste unter Verwandten oder Freunden eine „Ersatzfamilie“ gefunden werden, schließlich kam er in das Haus des Berliner Reformpädagogen Heinrich Deiters. Allerdings war der Stiefvater Kindern aus einer früheren Ehe selten eine solche Stütze wie der leibliche Vater.36
Emotionaler Mittelpunkt der Familie blieb dennoch die Mutter. Die meisten AutorInnen haben liebevolle Erinnerungen an ihre Mütter, die Werte und Umgangsformen vorlebten, statt sie durch Zwang einzubläuen. Für ein glückliches Hauswesen hatte dieses Bemühen „bedingungsloses Zusammenhalten innerhalb der Familie, [und] offenbar vollständige Harmonie“ zur Folge.37 Andere Mütter verhielten sich da ambivalenter. So waren Frauen der Gesellschaft oft mehr an ihren Einkäufen, ihrem Aussehen und ihren Vergnügungen interessiert als daran, sich um plärrende Kinder zu kümmern. Letzteres überließen sie gern Kindermädchen oder unverheirateten Tanten, zu denen Kinder wie Tom Angress eine ziemliche Anhänglichkeit entwickelten.38 In den noch seltenen Fällen von Scheidung und Wiederheirat zeigten sich Mütter „eher um ihren neuen Mann als um ihre leiblichen unmündigen Kinder bemüht“. Der Nachwuchs litt unter dieser starken Gefühlsambivalenz.39
4 Weimarer Familie.
Ein entscheidender Faktor für die Lebenschancen der Kinder war die Gesellschaftsschicht der Eltern. Gehörten sie zur grundbesitzenden Elite, dann führte sich der Vater oftmals auf wie ein „ungekrönter König des Dorfes“, der qua Tradition und Kraft seiner Persönlichkeit herrschte. Wilhelm Lehmann war ein solcher Gutsbesitzer: „Ein Bild von einem Mann, groß und imposant, voll Energie und Kraft“, lenkte er seine Kutsche im Stehen, „knallte energisch mit seiner Peitsche“ und jagte Menschen und Tieren Angst ein. Seine Brüder fürchteten und bewunderten ihn, und er „war der beste Kunde aller Dorfkneipen“. Dienstmädchen versteckten sich vor ihm, denn bei Jungfrauen „übte [er] das jus primae noctis aus“. Aber auch Sprösslinge des Landadels mussten zunächst auf dem Gymnasium die Klassiker büffeln und Jura studieren, bevor sie in den Staats- oder Militärdienst eintreten konnten.40 Diese herrischen Männer bedurften der Zivilisierung durch eine willensstarke Ehepartnerin aus einer standesgemäßen Familie der Oberschicht. Eine solche privilegierte Herkunft erzeugte eine lebenslange Anspruchshaltung.
Das städtische gehobene Bürgertum war aufgrund seines üppigen Lebensstils von einem ähnlichen Gefühl der Sorglosigkeit durchdrungen. Wenn der Vater ein erfolgreicher Bankier war wie Angress Senior, dann arbeitete er hart, „in vollem Einklang mit traditionellen preußischen Werten, deren wichtigste Ehre und Pflichtgefühl waren“. Folglich stand seine Familie „materiell recht gut da; wir wohnten in einem komfortablen Haus, trugen gute Kleidung, gingen mit unseren Eltern auf Reisen und hatten ein Dienstmädchen und einen Koch, die sich um unsere täglichen Bedürfnisse kümmerten“. Frei von lästigen Hausarbeiten, konnte die Mutter ganz Dame der Gesellschaft sein und sich darauf kaprizieren, „gut angezogen und hübsch frisiert“ zu sein, bevor sie zu einem ausgiebigen Einkaufsbummel aufbrach. Ihre Aufgabe war es, ein gastliches Haus zu führen, wo an Fest- und Feiertagen oft Geschäftsfreunde oder Verwandte bewirtet wurden, und dem Ganzen durch ihr Talent Kultur und Stil einzuhauchen.41 Wer im Großbürgertum aufwuchs, der sog die Überzeugung, dass Leistung belohnt werden würde, quasi mit der Muttermilch ein.
Im Gegensatz dazu verlangte das Leben in einer kleinbürgerlichen Familie ständige Anstrengungen zum Erhalt der eigenen gesellschaftlichen Solidität. Weil die finanziellen Mittel begrenzt waren, musste jede Ausgabe wohlüberlegt sein, und kleine Extras, wie etwa ein Eis oder ein Kinobesuch, waren selten. Die Wohnungen in der Stadt waren beengt und teuer, und solche Enge verstärkte oft die Streitereien um das knappe Geld. Arbeitete ein Vater als Handlungsreisender, wie der von Ruth Bulwin, war er selten zu Hause, und wenn doch, wollte er seine Ruhe haben. Da er „ein außerordentlicher Tyrann“ war und es bei der kleinsten Provokation eine „gepfefferte Backpfeife“ setzte, mussten alle in seiner Umgebung auf Zehenspitzen gehen, und „ein Familienleben gab es bei uns nicht“. Allein die Großeltern auf dem Land boten eine willkommene Zuflucht. Um das Familieneinkommen aufzubessern, musste Ruths Mutter arbeiten gehen; sie entwarf „die tollsten Damenhutmodelle für die oberen Zehntausend“.42 Eine solche Kindheit im Kleinbürgertum war oftmals mit materiellen Einschränkungen verbunden und seelisch belastend.
Proletarische Familien wie die Härtels hatten aufgrund ihrer „mieserable[n] [sic!] wirtschaftliche[n] Lage“ noch mehr zu kämpfen. Für die Väter bestand Arbeit aus schwerer körperlicher Plackerei. Der magere Lohn reichte gerade, um die Familie vor dem Verhungern zu bewahren, während die Arbeitsplätze unsicher und Entlassungen an der Tagesordnung waren. Die Unterkunft bestand oft aus einer „ärmliche[n] Kellerwohnung“ ohne Strom oder einer Einzimmerwohnung ohne Innentoilette im Hinterhof einer Mietskaserne. Weil Arbeiterfamilien in der Regel groß waren, war Platz knapp. Eltern und Kinder schliefen gemeinsam im selben Raum oder teilten sich die Betten. Die Mütter arbeiteten als Putzfrauen oder übten andere niedere Tätigkeiten aus. Als Folge schlechter Bildung und mangelhafter sanitärer Einrichtungen erkrankten oft ganze Familien an Infektionskrankheiten.43 Wer überleben wollte, musste erfindungsreich sein, etwa den Speisezettel mit Gemüse aus dem eigenen Garten ergänzen oder Kaninchen züchten. Die Kinder aus solchen Familien, die ihre Kinderkrankheiten überlebten, waren gewöhnlich zäh und gewieft.
Eine weitere wichtige gesellschaftliche Kluft verlief entlang der konfessionellen Grenzen. Die Reformation hatte zur Glaubensspaltung der deutschen Länder zwischen Katholiken und Protestanten geführt. Aufgrund ihrer starken Betonung biblischer Gelehrsamkeit gaben Letztere unter preußischer Führung in kultureller Hinsicht den Ton an im Kaiserreich. Fixpunkt des protestantischen Einflusses war das Pfarrhaus, ein Ort theologischer Gelehrsamkeit und sozialen Wirkens. Der Sohn von Pastor Krapf beschreibt seinen Vater als „den freundlichsten und bescheidensten Menschen“ und vermerkt, er benahm sich „mit solcher Würde und solchem Anstand, die von seinem Glauben herrührten“, dass seine Gemeinde „‚liebevolle Ehrfurcht‘ vor ihm hegte“. Seine Predigten schöpften aus den klassischen Sprachen und der Bibelkritik, daneben nahmen ihn seine sonstigen Pflichten stark in Anspruch, wie etwa die Bibelstunde, die Jugendarbeit und missionarische Aktivitäten. Die Frau eines Pfarrers hatte alle Hände voll zu tun sowohl mit ihrem eigenen Haushalt als auch mit den gesellschaftlichen Verpflichtungen des Frauenkreises.44 Kinder hatten in einem solchen Umfeld oft Schwierigkeiten, den hohen Erwartungen gerecht zu werden.
Im Gegensatz dazu fühlten sich die Katholiken im kaiserlichen Deutschland in der Defensive, seit die österreichischen Habsburger 1866 von Preußen besiegt worden waren. Zwar waren sie danach noch in einigen Regionen, wie etwa dem Rheinland und Bayern, stark, aber der Kulturkampf, Bismarcks Kreuzzug gegen ihre ultramontane Treue gegenüber dem römischen Papsttum, hatte klargestellt, dass sie nicht mehr das Sagen hatten. Für eine katholische Familie wie die Raschdorffs in Hessen bedeutete Religionsausübung vor allem den regelmäßigen Besuch der heiligen Messe um ihres Seelenfriedens willen. Die Kirchenzugehörigkeit bedeutete auch, dass die Kinder auf einer Konfessionsschule eingeschult wurden, wo katholische Werte und Anschauungen vermittelt wurden. Außerdem gab es konfessionell getrennte Jugendgruppen, wie etwa die Deutsche Pfadfinderschaft Sankt Georg.45 Kindern bot der Katholizismus eine geschlossene, durch farbenfrohe Rituale an den häufigen kirchlichen Feiertagen aufgelockerte Subkultur.
In jüdischen Familien spielte die Frage der religiösen Identität eine noch zentralere Rolle, da diese Zugehörigkeit ein Schlüsselelement der Selbstdefinition wie der Zuschreibung von außen darstellte. Mit der Judenemanzipation nach 1871 waren einige Hindernisse für die soziale Integration der jüdischen Bürger beseitigt worden, und die Bindungen an das Judentum waren lockerer geworden. Aber das Aufkommen eines rassischen statt eines religiösen Antisemitismus zwang jede Familie zu entscheiden, ob sie eine gesonderte Identität wahren oder versuchen sollte, sich mit ihren Nachbarn zu vermischen. Die meisten wählten, so Werner Warmbrunn, einen klassischen Kompromiss: „Mein Vater wollte unbedingt ein deutscher Bürger jüdischen Glaubens sein.“ Das bedeutete, aktiv einer Synagoge anzugehören, die „Zehn ehrfurchtsvollen Tage“ (Jamim Noraim) einzuhalten und die Verbote bestimmter Nahrungsmittel, wie etwa Schweinefleisch, zu beachten. Während manche jüdischen Familien strenggläubig waren, konvertierten andere und schlossen Mischehen mit Christen.46 Die meisten Juden, die dem Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) beitraten, hofften, dass sie irgendwann vorbehaltlos als Deutsche anerkannt würden.
Die Wirkung der elterlichen Religion auf die heranwachsenden Kinder reichte von begeistertem Engagement bis zu totalem Desinteresse. Wer einer Religionsgemeinschaft wie der Neuapostolischen Kirche angehörte, „war sehr aktiv in seinem Glauben“, denn er erwartete die unmittelbar bevorstehende Wiederkunft Jesu Christi. Gegen äußere Skeptiker scharte sich die Gemeinde um ihre Apostel, es entstand eine enge Gemeinschaft, in der Gemeindemitglieder, wie etwa die Eltern von Edith Schöffski, heirateten.47 Weit häufiger waren die kulturellen Protestanten oder Katholiken, die zwar nominell weiter der Kirche angehörten, ihre Kinder auch taufen ließen und die kirchlichen Feiertage begingen, jedoch nicht mehr regelmäßig zum Gottesdienst gingen. Das andere Extrem bildeten jene vollkommen weltlichen Liberalen oder Sozialisten, die keinerlei Verbindung mehr zum organisierten Glauben hatten. Sie redeten meist einer auf den deutschen Klassikern beruhenden humanistischen Moral das Wort.
Eine weitere bedeutsame Kluft zwischen den Deutschen gründete in der jeweiligen regionalen Herkunft. Die Bindung an Landschaft und Dynastie brachte unterschiedliche Identitäten hervor. Benno Schöffskis Familie beispielsweise kam aus Ostpreußen, dem „Land der dunklen Wälder und kristall’nen Seen“. Ihr Hof lag im Samland, berühmt für seine steilen Klippen, die über den Stränden der Ostsee aufragen. Die Ostpreußen, die an der östlichen Grenze des Reiches lebten, waren ein eigener Menschenschlag, bedächtig und schwerfällig. Sie rollten das „r“, und ihre Sprache wies slawische Elemente auf. Die pommersche Küste mit berühmten Urlaubsorten wie Cranz, wo Dampfer von weither anlegten, war ein Touristenmagnet. Nachdem Herr Schöffski bei der Post befördert worden war, zog die Familie in die Königliche Haupt- und Residenzstadt Königsberg, die stolze Handelsstadt und einst Wohnort von Immanuel Kant. Der Schock ihrer Vertreibung aus Ostpreußen im Jahr 1945 tauchte die späteren Erinnerungen in ein nostalgisches Licht: „Das Heimatgefühl eines Menschen kommt erst dann richtig zur Geltung und zum Bewußtsein, wenn man sieht und fühlt, was man verloren hat.“48
Eine besondere ostdeutsche Region war Schlesien, das zwischen Polen und der Tschechoslowakei lag und zwischen Österreich und Preußen umstritten war. Die Provinz besaß eine ausgeprägte regionale Identität, der Steinkohlenbergbau und die Hüttenindustrie machten das oberschlesische Industriegebiet zum zweitgrößten schwerindustriellen Zentrum des Deutschen Reiches nach dem Ruhrgebiet, und die Region stellte viele Zuwanderer für die Reichshauptstadt Berlin. Zudem war das Riesengebirge im Sommer ein beliebtes Urlaubsziel für Wanderer und im Winter für Skiläufer. Ruth Weigelt wuchs in einer der Berghütten auf dem Hochstein im Isergebirge auf, während Ursula Mahlendorf aus der Kleinstadt Strehlen und Fritz Stern aus der weltoffenen Großstadt Breslau stammten, in der Katholiken, Protestanten und Juden in gegenseitigem Respekt friedlich miteinander lebten. Es war eine Region der Mythen und Sagen um den arglistigen, von dem Dramatiker und Schriftsteller Carl Hauptmann in seinem Rübezahlbuch gefeierten Riesen gleichen Namens. Nachdem die Provinz bis zum bitteren Ende 1945 durchgehalten hatte, flohen viele Schlesier in den Westen, während eine volksdeutsche Minderheit auch nach der Angliederung an Polen in der alten Heimat blieb.49
Im Westen war die hessische Universitätsstadt Gießen an der Lahn ein „ganz wundersamer Ort der Heimat“. Noch um 1900 war es eine landestypische Stadt mit einem gotischen Rathaus, einem Marktplatz und einer Stadtkirche, die die Fachwerkhäuser überragte, welche die schmalen Kopfsteinpflastergassen säumten. Die Familie Schultheis besaß ein „kuschelige[s], alte[s] Haus in der Marktstraße, ein schon damals nicht mehr alltäglicher Fall einer Schutzburg, die den gesamten Schultheis’schen Lebenskreis, also Wohnbereich und Küche, den Pelzladen und die Werkstatt, Lagerräume und Mansarde unter ein und demselben Dach umfasste“. Obwohl ebenfalls überwiegend protestantisch, waren die Hessen ein stärker dem Leben zugewandter Menschenschlag – für Neuheiten aufgeschlossen, erfahren im Handel und an wissenschaftlichen Entdeckungen interessiert. „Die vielen Schuppen und Lagerhäuser waren für uns Jungens ein Eldorado geheimnisvoller labyrinthischer Ecken, Treppchen, Leitern, Bretterwände, und halb und ganz dunkler Durchgänge, wo man aus herumliegenden Pappkartons und Latten Verstecke und Burgen bauen konnte“, erinnert sich Heinz Schultheis Jahre später.50
Typisch für stärker katholisch geprägte Regionen war das Rheintal, gefeiert von den Romantikern wegen seiner Burgen und des Weins, aber politisch zwischen Deutschen und Franzosen umkämpft. Die Familie Debus lebte auf einem Schleppverband, mehreren knapp einhundert Meter langen Lastkähnen, die von einem Schleppdampfer zwischen dem Ruhrgebiet und dem holländischen Hafen Rotterdam gezogen wurden. Die Besatzung bestand üblicherweise aus dem Kapitän und seiner Frau, zwei Matrosen und einem Schiffsjungen, für den das Anlegen in einer fremden Stadt eine „unbeschreiblich aufregende Atmosphäre“ schuf. Mehrere Lastkähne wurden an einen Schleppdampfer gehängt, um Kohle nach Holland und Eisenerz zu den Hütten des Ruhrgebiets zu transportieren. Das Beladen war schwere körperliche Arbeit, gesteuert wurde zu allen Tagesstunden, und Unfälle waren häufig, sodass kaum Zeit blieb, die malerische Landschaft zu genießen. An Land richtete die Familie ihr Zuhause in Kaub ein, bekannt für seine Zollstation mitten im Fluss. Bedingt durch das Leben auf dem Wasser kam die formale Schulbildung bei den Debus-Kindern eher zu kurz; ihr Schulbesuch beschränkte sich auf den Winter, wenn der Fluss zugefroren war.51
Im Gegensatz dazu gab es im ländlichen Schwaben weiter südlich noch viele idyllische, von strengen Traditionen beherrschte Bauerndörfer. Agnes Moosmann wurde als Tochter einer Familie geboren, die in Bodnegg in der Nähe des Bodensees eine genossenschaftliche Käserei betrieb. Ihre Eltern sammelten die Milch in schweren Fünfzig-Liter-Kannen von den örtlichen Bauern ein, die jeweils eine Handvoll Kühe besaßen, trennten das Fett und stellten Butter und verschiedene Sorten Hart- und Weichkäse her. Solange es „a saubere und guet gekühlte Mill [sic!]“ gab, ließ sie sich zu einem hervorragenden Produkt verarbeiten, das in Marktstädten wie Ravensburg verkauft wurde. Diese niemals endende Arbeit wurde von den Jahreszeiten beherrscht und kreiste um religiöse Feiertage, die vom örtlichen Gemeindepfarrer organisiert wurden. Die Kinder spielten in Ermangelung von Spielsachen mit den Hoftieren und erledigten von klein auf häusliche Pflichten. Im Winter rodelten sie, im Sommer schwammen sie in den Teichen des Gehöfts. Der Schulunterricht beschränkte sich auf „Lesen, Schreiben und Rechnen“. Lediglich das „Liedersingen“ sorgte für ein wenig Unterhaltung.52 Es war eine festgefügte Welt, in die nur allmählich Maschinen, wie etwa Zentrifugen, Telefone und Autos, eindrangen.
Der aufregendste Ort, an dem man aufwachsen konnte, war Berlin. Die rasch expandierende Stadt hatte viele Gesichter: Hauptstadt des Deutschen Reiches, Sitz des Hohenzollernhofes, internationale Metropole und industrielles Produktionszentrum, alles zugleich. Daher freute sich der siebenbürgische Journalist Fritz Klein, als Chefredakteur der Deutschen Allgemeinen Zeitung, eines von der Industrie subventionierten Blattes, das der Deutschen Volkspartei (DVP) von Reichsaußenminister Gustav Stresemann nahestand, hierher zu ziehen. Während der Empfänge in seiner „Prachtwohnung am Lützowplatz“ konnte Klein auf freundschaftlichem Fuß mit dem Weimarer Establishment verkehren und sich dafür einsetzen, „die Schmach von Versailles zu tilgen“. Während er seine Gäste „im Frack und im Schmuck einiger Orden, die ihm im Krieg und in der Nachkriegswelt verliehen worden waren“, begrüßte, trug seine Frau „das lange Abendkleid mit der gleichen ruhigen, selbstverständlichen Eleganz wie die einfache Tagesgarderobe“. Doch auch weniger vom Glück begünstigte kleinbürgerliche Familien liebten die Stadt wegen ihrer Vergnügungsparks, Lichtspieltheater und Kaufhäuser.53
Gesellschaftsschicht, Religionszugehörigkeit und Wohnsitz bestimmten die Zugehörigkeit zu einem der unterschiedlichen politischen Lager, die konkurrierende Vorstellungen darüber verbreiteten, wie die Deutschen sein sollten. Eberhard Scholz-Eule, ein schlesischer Flüchtling, charakterisiert die Politik des väterlichen Milieus folgendermaßen: „In unserer Familie war eine deutschnationale Gesinnung vorherrschend wie bei den meisten Gutsbesitzern.“ In der Praxis bedeutete das, man stand treu zu den Hohenzollern, gehörte der protestantischen Kirche an, bewunderte das Militär und stammte aus Ostelbien. Scholz-Eules Großvater „wurde fast nur als Rittmeister tituliert“. Die Jungen „spielten mit Holzschwertern und einer schwarz-weiß-roten Fahne“ und bekundeten so ihre Loyalität zum preußischen König.54 Diese nationalistische Einstellung vergötterte den Fürsten Bismarck und lehnte viele Aspekte der Industrialisierung ab. Der Konservatismus der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) sprach besonders Grundbesitzer, Offiziere, Beamte, traditionelle Protestanten und sogar manche Bauern und Handwerker an.
Hauptgegner der Partei waren die Liberalen, die sich größtenteils aus den gebildeten und gewerblichen Teilen der städtischen Mittelschicht rekrutierten. Diese Akademiker und Geschäftsleute glaubten an die Notwendigkeit des Fortschritts durch Bildung, Selbsthilfe und individuelle Verantwortung – Eigenschaften, denen sie ihren eigenen Erfolg im Leben verdankten. Erich Eyck beispielsweise war ein Rechtsanwalt und Journalist, der seine Energie „auf die allgemeine Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit und des parlamentarischen und demokratischen [Regierungs-]Systems“ verwandte. Um diese Überzeugungen zu praktizieren, trat er der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) bei, wurde in den Stadtrat von Berlin-Charlottenburg gewählt und hielt oft Reden im Demokratischen Club. Wie andere assimilierte Juden „identifizierte er sich mit Deutschland und fühlte sich ihm kulturell tief verbunden“.55 Diese gemäßigten Progressiven waren überzeugt davon, dass sie Anspruch auf eine Führungsrolle hatten – aber leider fehlte ihnen die Massenanhängerschaft, die notwendig war, um sich bei Wahlen durchzusetzen.
Ein drittes Lager umfasste die konfessionelle Subkultur, die sich um die katholische Kirche scharte, um in einer zunehmend säkularen Gesellschaft ihren Glauben zu verteidigen. Ihre regionalen Zentren lagen im Rheinland und in Bayern, aber auch in anderen Gegenden bildeten Katholiken eine ansehnliche Diaspora. In der oberschwäbischen Provinz von Agnes Moosmann kreiste das Leben um die Kirche, insbesondere während der vielen kirchlichen Feiertage. Bismarcks Vorwurf der nationalen Unzuverlässigkeit im Kulturkampf führte zur Gründung der Zentrumspartei, die wechselnde parlamentarische Koalitionen nutzte, um die organisatorische Autonomie der kirchlichen Hierarchie, das Sakrament der Ehe und die pädagogische Unabhängigkeit der Konfessionsschulen zu wahren.
Über ein dichtes Netzwerk bürgerlicher Vereinigungen und die farbenfrohe Begehung kirchlicher Feiertage schufen gebildete Katholiken wie der Vater von Joachim Fest eine geschlossene Identität in einer Welt auf dem Sprung in die Moderne. Ein kulturelles Reizthema war die Mischehe zwischen Protestanten und Katholiken. Die katholische Kirche weigerte sich, solchen Verbindungen ihren Segen zu geben und stellte sich auf den Standpunkt, dass Paare „in Sünde zusammenleb[t]en“, wenn der protestantische Partner oder die protestantische Partnerin nicht bereit sei zu konvertieren.56
Eine letzte Gruppierung war die Arbeiterbewegung, die von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) vertreten wurde. Die Partei galt den kaiserlichen Behörden nach wie vor als umstürzlerisch. Vielen Industriearbeitern fiel der Übergang von der landwirtschaftlichen zur Fabrikarbeit und vom Dorf in die Stadt schwer. Sie wurden zu schlecht bezahlt und häufig entlassen. Ein Arbeiter namens Hans Schirmer, der sich über solche erbärmlichen Zustände ärgerte, „hatte … die Hoffnung entwickelt auf eine bessere solidarische, sozialistische, übernationale Gesellschaft“. Während die Gewerkschaften mit den Arbeitgebern um bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen stritten, entwickelte sich die SPD, trotz der Bemühungen Bismarcks, sie mit dem Sozialistengesetz und einem Sozialversicherungssystem als politische Kraft auszuschalten, zur stärksten Partei im Deutschen Reichstag. Aufgrund ihrer Verfolgung entwickelte auch die Arbeiterbewegung eine eigenständige Subkultur, die von öffentlichen Vorträgen über Sportvereine bis zu Liedertafeln reichte.57 Allerdings war sie international gespalten zwischen gemäßigten Reformern und radikalen Revolutionären. Nachdem sich bereits 1917 mit der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) eine zweite Arbeiterpartei links von der SPD gebildet hatte, schlossen sich zum Jahresende 1918 der Spartakusbund und andere linksradikale Gruppen zur Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) zusammen.
Die meisten Eltern der in diesem Buch versammelten Personen wurden in den 1890er-Jahren geboren; sie wuchsen im Kaiserreich auf und erlebten die Vorkriegsjahre als Höhepunkt deutschen Erfolgs. Trotz der sozialen, religiösen, regionalen und politischen Gräben war die Masse der Bürger „kaisertreu“ und hielt Wilhelm II. für die Verkörperung des Fortschritts der jungen Nation. Ungeachtet der raschen Industrialisierung stand das Kaiserreich für „Ruhe, Sicherheit und Ordnung“, es war eine Welt fester Hierarchien, die lediglich durch die Benachteiligten von unten infrage gestellt wurden.58 Obwohl sie vielleicht lautstark über Politik stritten, waren die meisten Leute stolz auf den zunehmend guten Ruf Deutschlands im Ausland und bereit, die imperialistischen Pläne Wilhelms II., sich einen „Platz an der Sonne“ zu sichern, zu unterstützen. Die meisten Angehörigen der Weimarer Geburtsjahrgänge waren wegen der Verbesserung ihrer Lebensumstände optimistisch gestimmt, auch wenn Arbeiter wie etwa Gertrud Kochs Vater weiter „für eine bessere Welt“ kämpften.59
Nach der anfänglichen Begeisterung verwandelte sich der Erste Weltkrieg in einen entsetzlichen Albtraum, als das Ausmaß des Leidens an der Front und daheim klar wurde. Unabhängig von gesellschaftlicher Schicht und religiöser Überzeugung meldeten sich junge Männer freiwillig zum Militärdienst, weil sie sich ansonsten ausgeschlossen gefühlt hätten. Edith Schöffskis Vater zog „freiwillig mit 17 Jahren aus Abenteuerlust in den Krieg, sehr zum Kummer seiner Eltern. Er war ein mutiger, tapferer und kameradschaftlicher Soldat, wurde Feldwebel und erhielt das Eiserne Kreuz erster Klasse.“ Doch „einige Wochen vor Kriegsende wurde mein Vater beim Rückzug aus Frankreich in einem Splittergraben verschüttet. Er wollte sich um seine zum Teil schwerverletzten Ka meraden kümmern und dabei ist der Graben eingestürzt.“ Obwohl er schließ lich gerettet wurde, war er danach nie mehr ganz derselbe. Millionen von Familien verloren Söhne durch den Krieg, während Überlebende verkrüppelt oder krank heimkehrten. Während der britischen „Hungerblockade“ bemühten sich viele Frauen verzweifelt, ein normales Leben aufrechtzuerhalten. Sie suchten ihre spärlichen Nahrungsmittel zu strecken, indem sie Zuckerrüben aßen und sich mit geröstetem Getreide als Kaffeeersatz behalfen.60 Aufgrund der Zensur durch das Militär kam die Nachricht, dass der endlos dauernde Krieg verloren war, schließlich wie ein Schock.
Niederlage und Revolution brachten kaum die Art von Frieden, nach der sich die Deutschen während der vierjährigen Kämpfe so sehr gesehnt hatten. Nach einer Meuterei der Hochseeflotte Ende Oktober 1918 erzwang ein von Kiel ausgehender Matrosenaufstand Anfang November die Abdankung des Kaisers und in den folgenden Monaten die Errichtung der demokratischen Weimarer Republik anstelle eines radikaleren kommunistischen Regimes. „Der Krieg war schon lange beendet“, als noch immer „Hunger und Not herrschten“. Karl Härtel zufolge waren „die wirtschaftlichen und damit wohl auch zwangsläufig die politischen Bedingungen in Nachkriegsdeutschland … so miserabel, dass eine Steigerung ins Negative kaum noch denkbar schien. Deutschland war auf dem besten Weg, politisch unregierbar zu werden und bewegte sich unaufhaltsam einem Chaos entgegen.“ Zudem schienen die alliierten Friedensbedingungen von Hass- und Rachegefühlen geleitet. „Deutsche Zeitungen aller politischen Richtungen schrieben von dem Diktat von Versailles, das zwangsläufig zum totalen Zusammenbruch der damals wie heute größten Wirtschaftsmacht Europas führte.“61 Obendrein löste die Besetzung des Rheinlands durch französische Truppen Verbitterung aus. Unter den Bedingungen von Hyperinflation und zeitweiligem Bürgerkrieg war der Übergang zu einem friedlichen Leben für junge Eltern ein schwieriges Unterfangen.
Allmählich setzte sich das Bemühen durch, „die ‚guten alten Zeiten‘ wieder neu zu beleben“ und zur Normalität zurückzukehren. Je mehr über den „verlorenen Krieg“ und den harten Frieden geredet wurde, „umso mehr verfestigte sich die besonders im bürgerlichen Bereich auftretende Trotzhaltung der Deutschen“. Aber das Leben ging weiter. Die Leute begnügten sich mit weniger und ersannen ausgeklügelte Überlebensstrategien. Auf jedem verfügbaren Stück Land bauten sie Gemüse an, zogen sogar Tabakpflanzen auf Balkonen und Fensterbänken. Auch Frauen gingen arbeiten, um einen kleinen Zusatzverdienst beizusteuern. Sie übernahmen Näharbeiten oder einfache Tätigkeiten außer Haus. Auch wenn sie hart arbeiten mussten, kamen die meisten Leute, „wie man etwas salopp sagen kann, über die Runden“. Junge Paare, die sich nach romantischer Liebe sehnten, versuchten, die verlorenen Jahre ihrer Jugend aufzuholen, indem sie in Tanzlokalen das Leben genossen. Viele heirateten. Verhütungsmittel wurden nur selten benutzt, sodass mit einiger Regelmäßigkeit Babys zur Welt kamen.62 Trotz des Chaos der Nachkriegsjahre ging das Leben weiter, in der Hoffnung auf bessere Zeiten.