Читать книгу Dein ist allein die Ehre - Konrad Klek - Страница 25

11. Choral

Оглавление

O Ewigkeit, du Donnerwort,

O Schwert, das durch die Seele bohrt,

O Anfang sonder Ende!

O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit,

Ich weiß vor großer Traurigkeit

Nicht, wo ich mich hinwende.

Nimm du mich, wenn es dir gefällt,

Herr Jesu, in dein Freudenzelt!

Ein Überaschungseffekt war das sicherlich, wie im Morgengottesdienst der Leipziger Nikolaikirche an jenem Juni-Sonntag »die Music« einsetzte. Zu Beginn der Kantate war eine Ouverture zu vernehmen, die Eröffnungsmusik für herrschaftliche Anlässe. Es war aber kein Christusfest zu feiern, auch kein 1. Advent (wozu im Vorjahr die Ouverture von BWV 61 erklang), sondern gewöhnlicher erster Sonntag nach Trinitatis. Mit der Ouverture signalisierte Bach zunächst formell: Heute beginnt mein neues Leipziger Kantatenjahr. Inhaltlich aber erschloss sich im Verlauf des Satzes ein tiefer Sinn der Ouverturenform. Der typische scharf punktierte Rhythmus der langsamen Rahmenteile, welcher sonst die Ehrfurcht gegenüber der Majestät des Herrschers zur Geltung bringt, markiert hier das Erschrecken vor der für alle Menschen bedrohlichen Ewigkeit Gottes. Anders als bei einer erhebenden Festouverture wird hier Furcht hervorgerufen. Und die übliche Fuge im schnellen Mittelteil gerät zum Symbol für das Davonfliehenwollen angesichts der ewigen Pein. Der nicht eindeutig auflösbare, verminderte Septakkord am Fugenende zeigt die Orientierungslosigkeit des Sünders. Mein ganz erschrocken Herz erbebt bringt diese Musik zum Ausdruck. Als Ouverture verwehrt sie den üblichen Huldigungsjubel, zeigt vielmehr die Kehrseite aller menschlichen Begegnung mit absoluter Macht auf.

An diesem Sonntag ist bitterer Ernst angesagt mit dem Gleichnis vom unüberwindbaren Graben zwischen dem in der Hölle schmorenden Reichen und dem in Abrahams Schoß ruhenden armen Lazarus als Evangelium (Lukas 16,19 - 31). »Ernstliche Betrachtung der unendlichen Ewigkeit« hat J. Rist, norddeutscher Jahrgangsgenosse von Paul Gerhardt, sein mit 16 Strophen publiziertes Lied überschrieben. In einer meist 12-strophigen Fassung wird es in Gesangbüchern häufig diesem Sonntag zugewiesen. Schonungslos reflektiert es die Unabänderlichkeit der ewigen Verdammnis mit der Intention, die Menschen beizeiten zur Umkehr zu bewegen. Der Kantatentext bringt die Strophen 1, 8 und 12 wörtlich, folgt ansonsten ziemlich exakt den einzelnen Strophen, übernimmt zahlreiche Formulierungen daraus und spinnt sie verschärfend weiter. Jeder Liedstrophe entspricht ein Kantatensatz, nur die »Wenn/​Nun aber«-Argumentation von Strophe 4 und 5 ist zusammengezogen in ein Rezitativ. Von demnach elf Kantatensätzen erklangen die sieben stärker reflektierenden vor der Predigt, die vier appellativ gehaltenen danach. Es wird im ganzen Jahrgang die einzige zweiteilige Choralkantate bleiben.

Bachs Vertonung verstärkt die »ernstliche Betrachtung« mit kühnen musikalischen Mitteln, in der erschütternden Wirkung auf die Hörer vergleichbar den drastischen bildlichen Darstellungen des Jüngsten Gerichts etwa auf Altarrückseiten. Beim ersten Rezitativ lässt Bach den Tenoristen auf einschlägige Worte »passus duriusculi« (besonders harte Sprünge) singen und harmonisiert grausam in willkürlichen Abfolgen von verminderten Akkorden. Am Ende steht der Mollakkord über dem tiefsten Ton C. In der folgenden Arie endet der Tenor mit Abstieg zum tiefen c auf die Worte und den Sinn zur Höllen lenke. Diese totentanzähnliche c-Moll-Arie im Menuett-Dreiertakt agiert mit dem Gegenüber von Ewigkeit-Liegetönen und Achtelbewegung in Seufzerfiguren als Ausdruck der Bangigkeit. Die ersten zwei Verszeilen münden in eine Generalpause als »Abruptio«. Die Musik weiß nicht weiter. Ein Ach-Seufzer des Sängers bringt sie wieder zum Laufen. Das vom Librettisten eingebrachte Bild der (höllischen) Flammen, fester Topos von Gerichtsdarstellungen, gibt Bach Anlass, den Tenor mit Koloraturen Flammen züngeln zu lassen.

Das folgende, dem Bass zugewiesene Rezitativ verschärft den »Ernst« durch die beklemmende Anrede des Hörers (du) als Verdammter. Zu harten Sprüngen und bösen Harmonien kommt hier ein verschärftes Sprechtempo, das ihn gleichsam in die Zange nimmt. Der Librettist hat ein Gedicht mit 144 Silben geformt, biblische Kennzahl für die Dimension der Ewigkeit, was Bach eins zu eins in Töne setzt.

Positiv überrascht demgegenüber die Arie: reines B-Dur mit Dreiklangmotivik vom Basso Continuo aus, mit schönen Viertonschleifern und fast lustigem Anschleifen der Spitzentöne von unten in den Oboen, die hier als Dreier-Ensemble alleine agieren, nachdem in der ersten Arie die Streicher dran waren. Solche Harmonie im Wortsinn benennt der Bass mit Gott ist gerecht in seinen Werken (Zitat von Baruch 2,9b). Während Rist im Lied geseufzt hatte Ach Gott! wie bist du so gerecht, wie strafest du den bösen Knecht im heißen Pfuhl der Schmerzen!, hat der Librettist eine Sentenz isoliert, die Bach dazu bringt, Luthers befreiende Erkenntnis über die Gerechtigkeit Gottes als Heilswille in authentische Dur-Musik zu übertragen. 14-mal erklingt gerecht als »frohe Botschaft« im A-Teil. Die potentielle Kehrseite ist nur im Arien- Mittelteil Thema, wo Bach einzelne Passagen plastisch umsetzt (z. B. der Tod geschwind kurz abgerissen) und am Ende die mahnende Anrede o Menschenkind als adagio-Kadenz hervorhebt.

Für die ohne Scharnier-Rezitativ direkt folgende Arie im selben Textschema wählt Bach eine spezielle Form. Die Streicher spielen einen auftaktigen ¾-Tanz mit penetranten Punktierungen, welche den Dreierpuls in Hemiolen fesseln. Der Alt singt mit der oberen Violinstimme den ganzen Arientext einmal durch und wiederholt dann nur die Mahnung errette deine Seele dreimal. Die Streicher spielen noch 23 Takte ohne Text weiter. Die Phrasenbildung mit 9 und 14 Takten ist ungewöhnlich, die Singstimme endet in Takt 41. Bach trägt so seinen eigenen Namen ein. Er selbst, BACH = 14, will seine Seele erretten, Umkehrung 41 = JSBACH. Dem entspricht der betonte Ton B auf (o) Mensch als Bachs Initialbuchstabe. Mit der Tonart d-Moll und dem gefangenen Dreier symbolisiert diese Musik das irdische Gefangensein unter dem satanischen Joch der Sünde, worin Bach sich mit allen Menschen gemein weiß.

Der erste Kantatenteil endet mit dem schlichten Choralsatz im F-Dur des Liedes. Bach verzichtet auf textbezogene »Madrigalismen« fast ganz, nur im Abgesang spiegelt sich in einem chromatischen Abwärtsgang des Basses die Pein der Ewigkeit Gottes.

Eine Ouverture anderer Art eröffnet den zweiten Kantatenteil. Die Trompete bläst mit punktiertem Fanfarenmotiv einen Weckruf, Oboen und Streicher akklamieren mit vereinten Kräften. Mächtig lässt der Bassist im aufsteigend gebrochenen Dreiklang den Wacht auf-Ruf erschallen. Bachs C-Trompete als Repräsentant der Gerichtsposaune hat im Klang, namentlich in der unteren »Prinzipallage«, eine bedrohliche Herbheit, und die virtuosen triolischen Wechselnoten in der Höhe klingen auf einer Naturtrompete eher heulend wie eine Sirene. So erlebt sich der Hörer förmlich mit dem Gericht Gottes konfrontiert. Hintersinnig könnte Bach hier auch das Aufwachen der Gottesdienstbesucher vom Predigtschlaf markiert haben. Ein Sündenschlaf ist dies insofern, als man in der Predigt den Zuspruch des Evangeliums als Vergebung verpasst.

Das Alt-Rezitativ verschärft die Warnung, es könnte mit der Umkehr zu spät sein, mit dem drastischen Bild vom Sarg, der im Todesfall schnell ins eigene Haus kommt. Rists Lied korrigierend kommt mit dem grünenden Baum des Lebens und der Frieden-Metapher aber auch die positive Gegenperspektive zum Zuge, was Bach mit Durklängen erfahrbar macht. Die Aufzählung der abzuschüttelnden Laster unterstreicht er allerdings geradezu karikierend mit überspreizten Figuren im Continuo, die an die Ouverturen-Punktierung erinnern.

Die finale Ermahnung o Menschenkind … ist dann als Alt-/​Tenorduett nur mit Continuobegleitung gestaltet. So sind die Hörer mit den mahnenden Worten direkt konfrontiert. Dass sie aus dem Munde zweier Sprecher kommen, die sich gleichsam überbieten, steigert die Eindringlichkeit. Dazu tragen auch plastische Tonfiguren für Heulen, Zähnklappen, Tröpflein, Wasser etc. bei, welche die typischen Gerichtsvorstellungen hervorrufen. Im Continuo hört man fast durchgehend die mit hör auf geschwind textierte Tonfigur. Der explizite Bezug auf das Evangelium Ach spiegle dich am reichen Mann motiviert Bach, eine präzise kreuzweise Spiegelfigur zwischen Alt und Tenor einzuflechten.

Die Schlussstrophe des Liedes, im Tonsatz identisch mit dem Schlusschoral des ersten Kantatenteils, ist inhaltlich von der Eingangsstrophe nur im Abgesang unterschieden. Die mit Achteldurchgängen liebliche Schlusszeile erscheint nun als Symbol des Freudenzelts, der Heilsperspektive für jeden bußfertigen Beter.

Dein ist allein die Ehre

Подняться наверх