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ОглавлениеBWV 10
Meine Seel erhebt den Herren
Mariae Heimsuchung, 2. Juli 1724, Nikolaikirche/Thomaskirche
Textvorlage: Lobgesang der Maria Lukas 1, 46 - 55
1. Trompete mit Sopran/Alt, Oboe I/II mit Violine I/II, Streicher
Meine Seel erhebt den Herren,
Und mein Geist freuet sich Gottes,
meines Heilandes;
Denn er hat seine
elende Magd angesehen.
Siehe, von nun an werden
mich selig preisen
alle Kindeskind.
2. Arie Sopran Oboe I/II unisono, Streicher
Herr, der du stark und mächtig bist,
Gott, dessen Name heilig ist,
Wie wunderbar sind deine Werke!
Du siehest mich Elenden an,
Du hast an mir so viel getan,
Dass ich nicht alles zähl und merke.
3. Rezitativ Tenor
Des Höchsten Güt und Treu
Wird alle Morgen neu
Und währet immer für und für
Bei denen, die allhier
Auf seine Hilfe schaun
Und ihm in wahrer Furcht vertraun.
Hingegen übt er auch Gewalt
Mit seinem Arm
An denen, welche weder kalt
Noch warm
Im Glauben und im Lieben sein;
Die nacket, bloß und blind,
Die voller Stolz und Hoffart sind,
Will seine Hand wie Spreu zerstreun.
4. Arie Bass Continuo
Gewaltige stößt Gott vom Stuhl
Hinunter in den Schwefelpfuhl;
Die Niedern pflegt Gott zu erhöhen,
Dass sie wie Stern am Himmel stehen.
Die Reichen lässt Gott bloß und leer,
Die Hungrigen füllt er mit Gaben,
Dass sie auf seinem Gnadenmeer
Stets Reichtum und die Fülle haben.
5. Duett und Choral Alt/Tenor Trompete (Oboe I/II)
Er denket der Barmherzigkeit
Und hilft seinem Diener Israel auf.
6. Rezitativ Tenor Streicher
Was Gott den Vätern alter Zeiten
Geredet und verheißen hat,
Erfüllt er auch im Werk und in der Tat.
Was Gott dem Abraham,
Als er zu ihm in seine Hütten kam,
Versprochen und geschworen,
Ist, da die Zeit erfüllet war, geschehen.
Sein Same musste sich so sehr
Wie Sand am Meer
Und Stern am Firmament ausbreiten,
Der Heiland ward geboren,
Das ewge Wort ließ sich im Fleische sehen,
Das menschliche Geschlecht
von Tod und allem Bösen
Und von des Satans Sklaverei
Aus lauter Liebe zu erlösen;
Drum bleibt‘s darbei,
Dass Gottes Wort voll Gnad und Wahrheit sei.
7. Choral
Lob und Preis sei Gott
dem Vater und dem Sohn
Und dem Heiligen Geiste,
Wie es war im Anfang,
itzt und immerdar
Und von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Amen.
Der vierte Trinitatissonntag fiel 1724 auf das Fest Mariae Heimsuchung am 2. Juli. Dies hatte liturgisch Vorrang und verlangte Kantatenaufführungen in beiden Hauptkirchen. Evangelium ist die Erzählung vom Treffen der beiden Schwangeren Maria und Elisabeth (Lukas 1,39 – 56) mit dem Zentraltext des »Magnificat«. Dies war in Leipzig Bestandteil jedes sonntäglichen Nachmittagsgottesdienstes, gesungen im biblischen Luthertext auf den 9. Psalmton (»tonus peregrinus«) in einer Harmonisierung aus dem Cantional des Thomaskantors Schein (1627). Die Bindung dieses Psalmtons als »eigene Melodie« an das Magnificat war im Luthertum verbreitet und machte es so zum »Choral«, obwohl es kein Lied in Strophenform ist. An Festtagen sollte das Magnificat lateinisch als Figuralmusik erklingen. So hatte Bach im Vorjahr zum 2. Juli das groß besetzte Magnificat Es-Dur komponiert (BWV 243a).
Für die deutsche Magnificat-Kantate jetzt sah der Librettist sieben Sätze zu zwölf Bibelversen vor. Für den Kopfsatz sind zwei Verse im biblischen Wortlaut reserviert, als »Schlusschoral« fungiert das (liturgische) Gloria Patri. Bibelzitat bleibt zudem der Vers Er denket der Barmherzigkeit, Inbegriff von Gottes Treue zu seinen Verheißungen. Ansonsten erweiterte der Librettist für zwei Rezitative und Arien die Vorlage mit zahlreichen weiteren Bibelwortbezügen vom 1. Buch Mose über Psalmen, Johannesevangelium bis zur Offenbarung und errichtete so ein Panorama gesamtbiblischer Theologie. Das Resumée im letzten Rezitativ lautet dem entsprechend: Drum bleibt’s darbei, dass Gottes Wort voll Gnad und Wahrheit sei (vgl. Johannes 1,14).
Die gregorianische Melodie bedingt die Tonart g-Moll im Eingangssatz und verwehrt so den Einsatz von Festtrompeten wie beim Magnificat. Kompensation in Sachen Festlichkeit leistet wie am Johannisfest die gesteigerte Virtuosität. Der Orchestersatz mit Oboen und Streichern zeigt eigentlich 4/4-Takt-Diktion, Bach gibt aber Alla breve an und schreibt Vivace vor. Als Antreiber fungieren die Continuo-Bässe mit einer durchgängigen Anapäst-Figur (zwei Sechzehntel/ein Achtel). Albert Schweitzer hat dies als »Freudenmotiv« bei Bach ausgemacht. Signifikant ist die mehrfache Aufwärtsbewegung bis zum Ambitus von zwei Oktaven, erhebt den Herrn akzentuierend. Am Ende des Vorspiels haben die beiden Oberstimmen, mit Legatobogen hervorgehoben, die Töne (E)S-D-G für »Soli Deo Gloria«. Die Vokalstimmen fügen sich in den Orchestersatz ein, singen auf die Anapäst-Figur erhebt, freuet sich in der zweiten Vershälfte. Oft führt Freudenüberschuss zu Sechzehntel-Ketten. Die gregorianische Melodie liegt gut hörbar im Sopran (verstärkt von einer Zug-Trompete), aber nicht als gleichförmiger Cantus firmus, sondern deklamatorisch rhythmisiert. Beim zweiten Bibelvers legt Bach die Melodie eine Quinte tiefer in den Alt und versetzt die Musik nach c-Moll. So kommt die Niedrigkeit der elenden Magd zur Geltung. Die Rückkehr zur Ausgangstonart leistet ein Orchesternachspiel, in das die Vokalstimmen nun ohne Melodiebindung eingefügt werden. In prägnanter Diktion unterstreichen sie einzelne Worte des letzten Halbverses: alle, alle auf Achtelrepetitionen, selig auf einen fünftönigen Abwärtsschleifer, preisen auf virtuose Sechzehntel-Ketten aufwärts. Omnes generationes aus dem Magnificat scheint durch. Mit exakt 5000 Tönen rekurriert Bach hier auf die biblische Zahl für Massen-Events (in Wundererzählungen).
Zur Huldigung von Gottes Namen führt die folgende Arie den virtuosen Duktus weiter und steigert ihn noch. Jetzt hat auch die Violinoberstimme durchgehend Sechzehntel-Passagen des Preisens. Mit einem Aufschwung über zwei Oktaven setzt sie alleine ein. Als Machtsymbol genügte bereits eine Oktave. Bei den weiter heftig rackernden Bassinstrumenten ist der Anapäst jetzt überboten durch aufsteigende Sechzehntel-Ketten. Die Singstimme setzt ein mit dreimaliger Herr-Anrufung (vgl. Eingangschor der Johannes-Passion) im B-Dur-Dreiklang. Erstmalig im Kantatenjahrgang ist eine Arie dem Sopran anvertraut, bei Bach eine Knabenstimme, deren Zartheit dem oft wiederholten der du stark und mächtig bist kontrastiert. Die Erklärung dafür bietet Psalm 8, der mit dem Lobpreis des Namens Gottes beginnt und fortfährt (V.3): »Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge hast du eine Macht zugerichtet.« Der von irdischer Potenz qualitativ unterschiedenen Macht Gottes entspricht der Lobpreis gerade aus dem Mund von Kindern. Als Machtsymbol hat Bach anstelle einer Trompetenpartie nachträglich den beiden Oboen eine unisono geführte Stimme mit martellato zu spielenden Achteln eingetragen, vermeidet aber ihr Zusammentreffen mit der Sopranstimme. Der Mittelteil der Arie greift wieder den Topos der Elenden auf, mit verminderten Septakkorden sinnfällig umgesetzt. Auch dies unterstreicht: Pendant zum großen Gott sind nicht die Mächtigen der Welt, sondern die Schwachen, die wie Maria einfach glauben. Die vielen Sechzehntel-Noten werden jetzt zum Zeichen des Vielen, Unzählbaren, das Gott am Menschen tut. Wenn man Bach auf die Schliche kommen will und trotzdem zählt, ergeben sich in der Partiturnotation 5146 = 62 x 83 Töne, Referenz einerseits zur vollmundigen Heilsverheißung in Jesaja 62, andererseits zum hier konkret eingelösten Heilswort Jesaja 7,14: »Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen IMMANUEL«, denn 83, ebenso Taktzahl des Eingangssatzes, ist Äquivalent dieses heiligen Namens.
Nach Satz 1 und 2 bilden auch Satz 3 und 4 inhaltlich wie musikalisch einen Zusammenhang. Thema ist Gottes machtvolles Handeln gegen Gottlose, Hoffärtige und Mächtige. Das Tenor-Rezitativ ist wieder sehr plastisch gestaltet. Das Schlussbild wie Spreu zerstreun motiviert Bach zu einer virtuosen Triolenkette, der Handbewegung bei schnellem Ausstreuen analog. Die Bass-Arie wird ebenfalls nur vom Continuo begleitet, der wieder fortwährend in Sechzehnteln agiert, jetzt aber in ruppiger Battaglia-Diktion. Grob, fast zu plump für Bachs Stil ist dies Sinnbild für das Wesen alles Gottwidrigen. Im Vokalpart sind wieder einzelne Worte profiliert: das Hinunterstürzen wie das Erhöhen durch drastische Ab- und Aufwärtsbewegung, bloß und leer mit Pausen zwischen den Silben, Hungrigen mit chromatischer Abwärtsführung, aber auch das schöne Bild vom Gnadenmeer mit einer Schaukelbewegung wie die eines Schiffs auf ruhigem Wasser.
Der folgende Satz ist bekannt, weil Bach ihn 25 Jahre später als Orgeltranskription in die »Schübler-Choräle« übernahm. Analog zum originalen Bibelwort in den Vokalstimmen erscheint die gregorianische Melodie unverändert als »Cantus firmus«, mit Trompete oder beiden Oboen zu spielen (wie beim entsprechenden Satz des Magnificat), während Alt- und Tenor mit eigener Motivik im langsam wogenden 6/8-Takt singen, meistens in wohlklingenden Terz- und Sextparallelen. Dies erinnert an das Alt-/Tenor-Duett Et misericordia im Magnificat. Gottes Barmherzigkeit ist also konnotiert. Dass die Vokalstimmen 253 = 11x23 Töne singen und die Arie zuvor auf insgesamt 1035 = 45x23 Töne kommt, sind Verweise auf Psalm 23, wo es am Ende heißt: »Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang.«
Das umfängliche zweite Rezitativ präsentiert biblische Theologie von Gottes verlässlichem Gedenken, also die Erfüllung der Verheißungen im Heilsgeschehen durch den Heiland. Maria als Sängerin des Liedes und die Szenerie des Besuchs bei Elisabeth sind nicht im Blick. Den zweiten Rezitativteil mit Explikation der Erfüllung hebt Bach signifikant ab durch Streicherbegleitung, ein Klangteppich mit reinen Akkorden in ruhiger Wiegenbewegung über zwölf Takte. Die Hörer baden so im Gnadenmeer und vernehmen dabei die Weihnachtsbotschaft: Der Heiland ward geboren …
Der abschließende trinitarische Lobpreis als Choralsatz mit dem Psalmton im Sopran ist von schlichter Größe. Luthers eigentümliche Formulierung und von Ewigkeit zu Ewigkeit ist mit sukzessiven Einsätzen von Bass über Tenor zu Alt musikalisch umgesetzt. Bass- wie Continuostimme erreichen bei diesem »Gloria Patri« mit 59 Tönen das Zahlenäquivalent von GLORIA. Die ganze Kantate umfasst 377 Takte, 13 x 29 (SDG).