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BWV 2

Ach Gott, vom Himmel sieh darein

2. Sonntag nach Trinitatis, 18. Juni 1724, Thomaskirche

Liedautor: Martin Luther 1524


1. Oboe I/​II mit Alt, Zink/ Posaune I–III und Streicher mit Vokalstimmen

Ach Gott, vom Himmel sieh darein

Und lass dichs doch erbarmen!

Wie wenig sind der Heilgen dein,

Verlassen sind wir Armen;

Dein Wort man nicht lässt haben wahr,

Der Glaub ist auch verloschen gar

Bei allen Menschenkindern.

2. Rezitativ Tenor

Sie lehren eitel falsche List,

Was wider Gott und seine Wahrheit ist;

Und was der eigen Witz erdenket,

– O Jammer! der die Kirche

schmerzlich kränket –

Das muss anstatt der Bibel stehn.

Der eine wählet dies, der andre das,

Die törichte Vernunft ist ihr Kompass;

Sie gleichen denen Totengräbern

Die, ob sie zwar von außen schön,

Nur Stank und Moder in sich fassen

Und lauter Unflat sehen lassen.

3. Arie Alt Violine solo

Tilg, o Gott, die Lehren,

So dein Wort verkehren!

Wehre doch der Ketzerei

Und allen Rottengeistern;

Denn sie sprechen ohne Scheu:

Trotz dem, der uns will meistern!

4. Rezitativ Bass Streicher

Die Armen sind verstört,

Ihr seufzend Ach,

ihr ängstlich Klagen

Bei soviel Kreuz und Not,

Wodurch die Feinde

fromme Seelen plagen,

Dringt in das Gnadenohr

des Allerhöchsten ein.

Darum spricht Gott:

Ich muss ihr Helfer sein!

Ich hab ihr Flehn erhört,

Der Hilfe Morgenrot,

Der reinen Wahrheit

heller Sonnenschein

Soll sie mit neuer Kraft,

Die Trost und Leben schafft,

Erquicken und erfreun.

Ich will mich ihrer Not erbarmen,

Mein heilsam Wort soll sein

die Kraft der Armen.

5. Arie Tenor Oboe I/​II mit Streichern

Durchs Feuer wird das Silber rein,

Durchs Kreuz das Wort

bewährt erfunden.

Drum soll ein Christ zu allen Stunden

Im Kreuz und Not geduldig sein.

6. Choral

Das wollst du, Gott, bewahren rein

Für diesem arg‘n Geschlechte;

Und lass uns dir befohlen sein,

Dass sich’s in uns nicht flechte.

Der gottlos Hauf sich umher findt,

Wo solche lose Leute sind

In deinem Volk erhaben.

Luthers Lied zu Psalm 12 (EG 273), das in den Anfängen der Reformation eine große Stoßkraft und Breitenwirkung in den Auseinandersetzungen mit den Altgläubigen hatte, wurde in Gesangbüchern der Barockzeit auch dem 2. Sonntag nach Trinitatis zugewiesen. Als Hilferuf ob der verbreiteten Ungläubigkeit passt es zum Sonntagsevangelium Lukas 14,16 – 24, wo die unfassliche Ablehnung der Einladung zum großen Abendmahl erzählt wird. Bach und sein Librettist wollten wohl möglichst bald ein Lied Martin Luthers einspielen, um »ad fontes« zu gehen, zum Ursprung evangelischen Kirchengesangs. In der Thomaskirche stellte dieses Lutherlied nun die erste Choralkantate.

In stilistischem Kontrast zur modernen Kantate am Sonntag zuvor verkörpert der Eingangssatz prototypisch den Klang des Alten. Eine große Motette nach alter Väter Sitte ist zu vernehmen. Die Melodie in der phrygischen Kirchentonart liegt nicht im Sopran, sondern in der Mittelstimme des Altes, von beiden Oboen demonstrativ verstärkt. Den Gesamtsound prägen die neben den Streichern in allen Stimmen mitlaufenden Posaunen, Kennzeichen des Kirchenstils vergangener Zeiten. Jeder der sechs Liedstrophen entspricht ein Kantatensatz. Auf den Eingangschor mit Luthers Text und Melodie folgen je zwei umgedichtete Rezitative und Arien. Am Ende steht wie stets die unveränderte Schlussstrophe im vierstimmigen Choralsatz.

Der Eingangssatz umfasst alleine 167, also ein Drittel der insgesamt 400 Takte, und erhält auch durch die kunstvolle Ausarbeitung im strengen Fugato aller Liedzeilen ein besonderes Gewicht. Es ist einer der grandiosen Sätze Bachs im »Alla breve« des »stile antico«, vornehmlich zum Topos Buße auch im Orgelwerk zu finden, etwa bei den »Kyrie«-Sätzen in Clavierübung III (1739). Auch hier lässt Bach ein großes »Kyrie« anstimmen. Demgemäß profiliert er mit chromatischen Zwischennoten das Wort erbarmen. Ein stilistisch modernes Element ist der bewegtere Basso continuo, der im Namenssinn als »fortlaufender Bass« agiert. Zunächst überwiegend als Gegenstimme zu den Melodiezeilen geführt, hebt sich das Oktaven-Unisono mit dem Vokalbass bei erbarmen deutlich ab, eine weitere Akzentuierung des Kyrie-Topos. Ab der fünften Liedzeile wird der Continuo mit einer Art Trotzrhythmus prägnanter und zieht den Vokalbass in seinen Sog. Bei der Glaub ist auch verloschen gar setzen nicht nur die Singstimmen mehrfach abrupt aus, auch die Bassinstrumente pausieren einen Takt lang, nachdem 459 Töne gespielt sind, also 3x153 (9x17), Symbolzahl für den Christusglauben nach Johannes 21,11. Die Gesamtsumme der Continuo- wie der Vokalsatztöne ist jeweils ein Vielfaches von 17, insgesamt sind es 1734 = 6x172 Töne. Darin nimmt dieser Kyrie-Ruf in potenzierter Weise die heilvolle Präsenz Christi, die Wirksamkeit seines Erbarmens in Anspruch.

Das erste Rezitativ beginnt mit einem wörtlichen Liedzitat. Der Tenor singt das im Adagio auf die Melodietöne, der Continuo-Bass folgt ebenso wörtlich in Engführung. Am Zeilenende spielt er nicht die kleine Sekund der Melodie, sondern den rezitativtypischen Quintfall von es nach As und führt so zum Stichwort falsche List in entlegene Tonart. Der Librettist hat die verbreitete Gottfeindlichkeit in barocker Manier dramatisiert. Das von Luther nur angetippte Drohwort Jesu gegen die Pharisäer Matthäus 23,27 ist explizit ausgeführt und mit Grab-Metaphorik lässt er die Hörer erschaudern. Bach setzt zu den drastischen Worten stets »harte« Sänger-Tonsprünge (z. B. Tritonus zu Unflat).

Die erste Arie ist dem Alt zugewiesen, bei Bach signifikant die Stimme des Glaubens, der mit dem Beistand des Heiligen Geistes rechnen kann, hier in der mitwirkenden Solovioline symbolisiert. Der durch Gottlosigkeit und Rationalismus angefochtene Glaube bittet hier: Tilg, o Gott, die Lehren, so dein Wort verkehren. Der Continuo wiederholt unablässig den Sprechrhythmus dieser Anrufung mit Tönen des B-Dur-Dreiklangs wie bei Gott ist gerecht (BWV 20,5). Der Dreiklang steht für die Reinheit des göttlichen Wortes, die triolische Bewegung im Violinpart für das Überwinden der dualistischen irdischen Wirklichkeit in der Kraft des Geistes. Das Ende der Violin-Zwischenspiele bildet stets eine große auf- und absteigende Bewegung analog der trinitarischen Dreiecksform, zweimal mit dem tiefsten Ton g der Geige endend: Gottes Macht reicht bis in die höllische Tiefe der Rottengeister. Deren Versuch, die Oberhand zu behalten, wird von Bach geradezu karikiert, indem er ihrem Trotz dem, der uns will meistern die Liedmelodie als Rettungsanker zuweist.

Das zweite Satzpaar Rezitativ/​Arie bestreitet der Bass, der hier das Erschallen von Gottes Stimme repräsentiert. Als Gottesrede nämlich bezeugen Psalm 12,6 wie Luthers Strophe 4 die Zusage der rettenden Wende. Mit der Formulierung Ich muss ihr Helfer sein greift die Kantate die Bedeutung des Namens »Jesus« (»Gott hilft«) im Hebräischen auf. Mit Einsatz der Gottesrede geht das Rezitativ in ein gleichmäßig schreitendes »arioso« über. Als »accompagnato« mit weit ausgreifender Streicherbegleitung hebt sich dies klanglich ab vom nur deklamierten Jammern im ersten Rezitativ. Im Streicherklang erlebt man, wie das Gnadenohr des Allerhöchsten präsent ist, auch wenn nochmals drastisch von der Verstörung der Armen die Rede ist. Bei den vom Librettisten eingebrachten positiven Signalworten Morgenrot und Sonnenschein lassen die Streicher förmlich die Sonne aufgehen. Die letzten zwei Zeilen schlagen mit dem Reimpaar erbarmen/​Armen den Bogen zum Beginn der Kantate. Gottes Zusage ist die Erhörung jenes Kyrie-Rufes.

Die große Da-capo-Arie thematisiert dann wie Luthers Liedstrophe die Bewährung des Glaubens an Gottes Wort im irdischen Leben gerade durchs Kreuz, in Leid- und Anfechtungserfahrungen. Das den Christen abverlangte geduldig sein betont Bach mit einer »adagio«-Kadenz am Ende des Mittelteils, Kreuz und Not werden in zahlreichen Sprüngen und Seufzerfiguren plastisch, die Stimmführung von Streichern und Continuo hat in ihrer Gegenläufigkeit vielfach Kreuzstruktur. Der Gestus der Arie ist aber nicht klagend, sondern vergewissernd. Die beträchtliche Länge korrespondiert der lebenslang, alle Stunden geforderten Geduld. 720 Töne im Continuo entsprechen 720 Minuten im 12-Stunden-Kreislauf einer Uhr.

Der Schlusschoral in der Ausgangstonart d phrygisch schließt auch im Kirchenstilsound mit Posaunen an den Eingangssatz an. Das arge, irdische Geschlecht brandmarkt Bach nochmals harmonisch. So bleibt der Bußcharakter der Kantate vorherrschend. Ihre 400 Takte spiegeln die 40 Jahre Wüstenwanderung des Volkes Israel als Zeit der Bewährung. Und wahrscheinlich wusste Bach von Anfang an, dass er diesen neuen Kantatenzyklus mit 40 Werken bestücken würde.

Dein ist allein die Ehre

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