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ОглавлениеBWV 107
Was willst du dich betrüben
7. Sonntag nach Trinitatis, 23 Juli 1724, Thomaskirche
Liedautor: Johann Heermann 1630
1. Traversflöte I/II, Oboe d’amore I/II, Streicher, Jagdhorn mit Sopran
Was willst du dich betrüben,
O meine liebe Seel?
Ergib dich, den zu lieben,
Der heißt Immanuel!
Vertraue ihm allein,
Er wird gut alles machen
Und fördern deine Sachen.
Wie dir’s wird selig sein!
2. Rezitativ Bass Oboe d’amore I/II
Denn Gott verlässet keinen,
Der sich auf ihn verlässt.
Er bleibt getreu den Seinen.
Die ihm vertrauen fest.
Lässt sich’s an wunderlich,
So lass dir doch nicht grauen!
Mit Freuden wirst du schauen,
Wie Gott wird retten dich.
3. Arie Bass Streicher
Auf ihn magst du es wagen
Mit unerschrocknem Mut,
Du wirst mit ihm erjagen,
Was dir ist nütz und gut.
Was Gott beschlossen hat,
Das kann niemand hindern
Aus allen Menschenkindern;
Es geht nach seinem Rat.
4. Arie Tenor Continuo
Wenn auch gleich aus der Höllen
Der Satan wollte sich
Dir selbst entgegenstellen
Und toben wider dich.
So muss er doch mit Spott
Von seinen Ränken lassen,
Damit er dich will fassen;
Denn dein Werk fördert Gott.
5. Arie Sopran Oboe d’amore I/II
Er richt’s zu seinen Ehren
Und deiner Seligkeit;
Solls sein, kein Mensch kann’s wehren.
Und wär’s ihm doch so leid.
Will’s denn Gott haben nicht,
So kann’s niemand forttreiben.
Es muss zurücke bleiben,
Was Gott will, das geschicht.
6. Arie Tenor Traversflöte I/II
Drum ich mich ihm ergebe,
Ihm sei es heimgestellt;
Nach nichts ich sonst mehr strebe
Denn nur was ihm gefällt.
Drauf wart ich und bin still,
Sein Will der ist der beste.
Das glaub ich steif und feste,
Gott mach es, wie er will!
7. Choral
Herr, gib, dass ich dein Ehre
Ja all mein Leben lang
Von Herzensgrund vermehre,
Dir sage Lob und Dank!
O Vater, Sohn und Geist,
Der du aus lauter Gnaden
Abwendest Not und Schaden,
Sei immerdar gepreist.
Über den 6. Trinitatissonntag hatte Bach ein Engagement an seiner vorigen Wirkungsstätte Köthen, daher gab es dazu keine neue Kantate. Am Folgesonntag präsentierte er als Besonderheit eine Kantate mit allen Liedstrophen im Original. Ungewöhnliche Textvarianten und die sonst nicht vorhandene Gloria-Schlussstrophe verweisen auf das in Köthen gebräuchliche Gesangbuch als Quelle. Vielleicht hatte Bach auf der Reise nach Köthen das Libretto zum Komponieren vergessen und er griff notgedrungen zum dortigen Gesangbuch. Vielleicht war es vorab seine Entscheidung, dieses ihm von Köthen her vertraute Lied im Original zu vertonen.
Wieder ist das unbedingte Vertrauen in Gottes Willen Thema, explizit gegründet auf den »Gott mit uns«, Immanuel (Strophe 1, Zeile 4). Das Speisungswunder im Evangelium Markus 8,1 – 9 bietet dafür zumindest einen Referenzpunkt. Den sieben Broten und Körben (mit Speiseresten) in der Erzählung korrespondieren sieben Liedstrophen/Kantatensätze. Da die gleichförmige Strophenform dem Rezitativ fremd ist, gestaltet Bach nur Strophe 2 als Rezitativ, ansonsten folgen Arien aufeinander, die allerdings keine Cantus firmus-Bearbeitung enthalten.
Im Eingangssatz macht die Instrumentalmusik die persönliche Liebe zum Immanuel schmackhaft mit spezieller Bläserfärbung durch Traversflöten und Oboen d’amore. Der Ernst der kontrapunktisch komplexen h-Moll-Musik scheint das Betrüben der Menschen aufzugreifen. Die skalenweise aufsteigenden vier Viertel des Hauptthemas zitieren den Melodieanfang (heute verbunden mit Von Gott will ich nicht lassen), aber ohne die Auftakt-Quarte. Den Gegenpol der Hoffnung markieren die von der oberen Oktave absteigende Gegenstimme sowie aufwärts gerichtete gebrochene Dreiklänge später. Unisono-Achtelrepetitionen der Streicher lassen sich motivisch verbinden mit der Liedzeile Vertraue ihm allein. Das Lied selbst wird in nur kurzen Passagen eingefügt, zwei oder drei Liedzeilen zusammengefasst. Separat als Kernaussage steht Vertraue ihm allein, profiliert durch Verzicht auf jede Verzierung. Sonst zeigt die stets vorab einsetzende Melodie den Gestus der leicht verzierten (Solo-)Aria, Gattung für fromme, intime Herzensgesänge. Auffallend ist die mehrfache Immanuel-Skandierung in den Unterstimmen. So kommt diese Passage zu Liedzeile 3 und 4 auf 83 IMMANUEL-Töne.
Beim Rezitativ wiederholen die beiden Oboen Einwürfe mit vier Achteln. Vom Eingangssatz her kann man das mit ver-trau-e ihm unterlegt hören. Ab vertrauen fest weiten sich die bisherigen Tonrepetitionen zu Raum öffnenden, gebrochenen Dreiklängen. Der Bass füllt diesen mit Koloraturen auf die Zentralworte Freuden und retten, ein schönes Beispiel für Bachs plastische Rezitativgestaltung.
Die erste Arie verlangt höchste Virtuosität von den ersten Violinen und vom Bassisten. Im Text ist von wagen und jagen die Rede. Die Vivace-Anweisung verlangt tatsächlich unerschrocknen Mut von den Ausführenden. Das A-Dur-Thema mit Auftakt-Quarte steht der Melodie nahe. Beim zuerst einsetzenden Continuo ist Auftaktigkeit Grundprinzip, der »Beat« auf der Takteins fehlt. So komponiert Bach das »Prinzip Hoffnung«, Vertrauen nicht auf Vorfindliches, sondern auf von Gott Zukommendes.
Die Arie an Mittelposition 4 ist, obwohl nur mit Tenor und Continuo besetzt, der aufregendste Satz. Der Satan ist im Spiel als Widerpart des Gottvertrauens, musikalisch herrscht das Prinzip Gegenläufigkeit. Der jambische, also auftaktige Liedtext wird widersinnig volltaktig deklamiert. Das ebenfalls volltaktige Continuo-Motiv steht mit der Betonung des vierten Achtels dem Dreier-Takt entgegen. Die durchgängige Gegenbewegung von Tenor und Continuo ist sehr evident. Bei denn dein Werk fördert Gott wendet sich dies jedoch signifikant in gleichgerichtete Imitation. Das 13 Töne umfassende, vielfach wiederholte Hauptmotiv im Continuo und insgesamt 845=5x132 Töne rekurrieren hier wohl auf die alte Symbolik der 13 als Satans-Zahl.
Große Gelassenheit verkörpert demgegenüber Satz 5, ein 12/8-Takt mit staccato-Leichtigkeit im Continuo. Die Oboen spielen ihre Sechzehntel überwiegend in Terz- und Sextparallelen: Gott wird’s richten und zwar zu seinen Ehren und deiner Seligkeit. Das Anfangsmotiv von Oboe wie Sopran ist eine verzierte Variante des Melodieanfangs. Der Sopran singt als erste Phrase 29 Töne, Äquivalent von SDG wie JSB, insgesamt 174 = 6x29 Töne. Die Komplementarität von zu Gottes Ehre und zu meiner Seligkeit sieht Bach offensichtlich in dieser Zahlenentsprechung verbürgt. In das Oboennachspiel hinein setzt er mit den Cantus firmus-Tönen die Schlusszeile als Pointe: was Gott will, das geschicht (geschieht). Die ersten drei Töne entsprechen transponiert der Tonfolge (E)S-D-G.
Noch mehr quasi himmlische Leichtigkeit zeigt die nächste Arie. Jetzt spielen die ätherischen Traversflöten im Unisono mit den durch Dämpfer klanglich entrückten ersten Violinen. Der nur nachklappende Continuo lässt im Pizzicato alle Erdenschwere hinter sich. Nichts Irdisches soll dem Gottvertrauen im Wege stehen. Die vergleichsweise stille Musik repräsentiert die Tugend des wart ich und bin still – auf das, was Gott schenken will.
Am Ende steht nicht der übliche Choralsatz, sondern ein idyllisches Orchester-Siciliano im 6/8-Takt, in das die Liedzeilen choralsatzmäßig eingebaut sind in derselben Aufteilung wie im Eingangssatz. Gottes gnädige Abwendung von Not und Schaden erschließt die Musik als Idylle. Die Instrumente spielen 938 = 7x134 Töne, Äquivalent von SOLI DEO GLORIA. Die Spitzentöne g-fis-h der Oberstimme im Vorspiel markieren wieder die S-D-G-Tonfolge. Die Anrufung der Trinität in der separierten Kern-Liedzeile umfasst 29 SDG-Töne, dazu kommen weitere 270 = 10x33 trinitarische Vokaltöne. So bis ins Detail präzise gestaltet löst Bach die Verpflichtung zum »Soli Deo Gloria« all mein Leben lang hier paradigmatisch ein.