Читать книгу Dein ist allein die Ehre - Konrad Klek - Страница 30
ОглавлениеBWV 93
Wer nur den lieben Gott lässt walten
5. Sonntag nach Trinitatis, 9. Juli 1724, Thomaskirche
Liedautor: Georg Neumark 1657 zu Jesus Sirach 11,11 – 24
1. Oboe I/II, Streicher
Wer nur den lieben Gott lässt walten
Und hoffet auf ihn allezeit,
Den wird er wunderlich erhalten
In allem Kreuz und Traurigkeit.
Wer Gott, dem Allerhöchsten, traut,
Der hat auf keinen Sand gebaut.
2. Rezitativ Bass
Was helfen uns die schweren Sorgen?
Sie drücken nur das Herz
Mit Zentnerpein, mit tausend
Angst und Schmerz.
Was hilft uns unser Weh und Ach?
Es bringt nur bittres Ungemach.
Was hilft es, dass wir alle Morgen
mit Seufzen von dem Schlaf aufstehn
Und mit beträntem Angesicht
des Nachts zu Bette gehn?
Wir machen unser Kreuz und Leid
Durch bange Traurigkeit nur größer.
Drum tut ein Christ viel besser,
Er trägt sein Kreuz
mit christlicher Gelassenheit.
3. Arie Tenor Streicher
Man halte nur ein wenig stille,
Wenn sich die Kreuzesstunde naht,
Denn unsres Gottes Gnadenwille
Verlässt uns nie mit Rat und Tat.
Gott, der die Auserwählten kennt,
Gott, der sich uns ein Vater nennt,
Wird endlich allen Kummer wenden
Und seinen Kindern Hilfe senden.
4. Duett (und Choral) Sopran/Alt Streicher
Er kennt die rechten Freudenstunden,
Er weiß wohl, wenn es nützlich sei;
Wenn er uns nur hat treu erfunden
Und merket keine Heuchelei,
So kömmt Gott, eh wir uns versehn,
Und lässet uns viel Guts geschehn.
5. Rezitativ Tenor
Denk nicht in deiner Drangsalhitze,
Wenn Blitz und Donner kracht
Und dir ein schwüles Wetter bange macht,
Dass du von Gott verlassen seist.
Gott bleibt auch in der größten Not,
Ja gar bis in den Tod
Mit seiner Gnade bei den Seinen.
Du darfst nicht meinen,
Dass dieser Gott im Schoße sitze,
Der täglich wie der reiche Mann,
In Lust und Freuden leben kann.
Der sich mit stetem Glücke speist,
Bei lauter guten Tagen,
Muss oft zuletzt,
Nachdem er sich an eitler Lust ergötzt,
»Der Tod in Töpfen« sagen.
Die Folgezeit verändert viel!
Hat Petrus gleich die ganze Nacht
Mit leerer Arbeit zugebracht
Und nichts gefangen:
Auf Jesu Wort kann er noch einen Zug erlangen.
Drum traue nur in Armut, Kreuz und Pein
Auf deines Jesu Güte
Mit gläubigem Gemüte;
Nach Regen gibt er Sonnenschein
Und setzet jeglichem sein Ziel.
6. Arie Sopran Oboe I
Ich will auf den Herren schaun
Und stets meinem Gott vertraun.
Er ist der rechte Wundermann.
Der die Reichen arm und bloß
Und die Armen reich und groß
Nach seinem Willen machen kann.
7. Choral
Sing, bet und geh auf Gottes Wegen,
Verricht das Deine nur getreu
Und trau des Himmels reichem Segen,
So wird er bei dir werden neu;
Denn welcher seine Zuversicht
Auf Gott setzt, den verlässt er nicht.
Mit der sechsten Kantate starten Bach und sein Librettist ein neues Konzept der Choralübertragung, das wieder in fünf Kantaten erprobt wird. Während im Eingangssatz die Melodie jetzt stets im Sopran liegt, werden die Binnenstrophen stärker zum Experimentierfeld. Sie können in Text wie Melodie vers- und strophenweise zitiert und mit teilweise umfänglichen Erweiterungen kommentiert werden, das Verfahren der Tropierung, angewandt bereits im Mittelalter bei liturgischen Gesängen (z. B. Kyrie eleison). Zudem kann eine weitere Strophe unverändert (und unkommentiert) bleiben, was eine Arie als Cantus-firmus-Bearbeitung fordert. Es wird speziell Bachs Interesse gewesen sein, musikalisch mit der Liedsubstanz noch mehr zu arbeiten über die Rahmensätze hinaus.
Dem siebenstrophigen, damals wie heute beliebten Lied entsprechen wieder sieben Kantatensätze. Der Mittelsatz behält Strophe 4 wörtlich bei. Satz 2/3 und 5/6 sind analog geformt als Rezitativ-/Ariepaar. Das Rezitativ bringt jeweils Tropierungen, bei Satz 2 zu vier, bei Satz 4 zu allen sechs Liedzeilen.
Beim Choral im Mittelsatz lässt Bach wie bei Satz 5 der Vorgängerkantate die Liedmelodie instrumental ausführen, von allen Streichern im Unisono, während die Singstimmen, wie dort im Duett geführt, die Liedworte profilieren in freier, aber an die Melodie angelehnter Stimmführung. Mit dem auch im Continuo präsenten »Freudenmotiv« (ein Achtel, zwei Sechzehntel) dominiert die Metapher Freudenstunden den ganzen Satz, der gleichwohl in c-Moll steht. Die letzte Zeile und lässet uns viel Guts geschehn ist stärker gewichtet, indem sie schon zur Melodie der vorausgehenden Liedzeile in den Singstimmen artikuliert wird.
Bei den Rezitativen verbindet Bach die Liedzitate mit der Melodie in verzierter Fassung. So unterstreicht er einzelne Worte, z. B. Weh und Ach mit Seufzern. Der Walking bass dazu im Continuo und die Adagio-Spielanweisung grenzen ab von der rhythmisch freien, bisweilen dramatischen Rezitativgestaltung über einzelnen Harmonietönen. Der Wechsel von Lied und Kommentierung ist so gut nachvollziehbar. Im ersten Rezitativ bleibt die Melodie in der Tonart g-Moll, im zweiten aber reißt das Rezitativ sie mit in den Strudel der Drangsale. Von Zeile zu Zeile wandert sie aus es-Moll über weitere finstere b-Tonarten nach c-Moll. Bei die Folgezeit verändert viel ändert sich mit a-Moll die Klangsphäre.
Die Anspielung auf den (Dank Jesu Zuspruch) ergiebigen Fischzug des Petrus aus dem Evangelium Lukas 5,1 – 11 beschert dem Tenor den Spitzenton a´´ (auf Zug wie Sonnenschein) und eine strahlende D-Dur-Kadenz, ehe in die Tonart der Folgearie g-Moll eingelenkt wird. Dieses Rezitativ ist ein Bachsches Kabinettstück in der genialen Verschränkung von drastischer Rezitativgestaltung und Choraldiktion.
Auch in den Arien lässt Bach die Liedmelodie durchscheinen. Das Fünfton-Motiv zu Beginn der ersten bringt die Anfangstöne der Melodie in Dur. Die für eine Arie untypische Wiederholung der ersten vier Zeilen lehnt sich an die Liedform an, wo der »Stollen« wiederholt wird. Bei der zweiten Arie mündet die Sopranpartie in ein (wiederholtes) Zitat der beiden Melodie-Schlusszeilen zu Er ist der rechte Wundermann und nach seinem Willen machen kann (letzteres nicht aus dem Lied zitiert). Das Durchhören der Melodie im kunstreichen musikalischen Geschehen bedeutet mehr als einen Kunstgenuss. Es ist Symbol des Vertrauens, das sich auf die Durchsetzung des Willen Gottes (»cantus firmus«) verlassen kann.
Im Eingangssatz bietet Bach erstmalig in diesem Jahrgang den besonderen 12/8-Takt. Mit vier triadisch untergliederten Werten verknüpft er irdische (vier Himmelsrichtungen) und göttliche Dimension (Trinität). Die charakteristische Sechzehntel-Bewegung der Instrumente wird beim Vokaleinsatz mit walten unterlegt: Gottes vollkommenes, vitales Walten auf der Welt repräsentiert also diese 12/8-Takt-Musik. Wie »call and response« im Spiritual erscheint die virtuose Vorimitation der Choralzeilen durch je zwei Sänger, ehe alle vier Stimmen choralsatzartig die Bestätigung bringen. Beim Abgesang (Zeilen 5/6) sind als Steigerung alle Stimmen an der Vorimitation beteiligt: Wer Gott dem Allerhöchsten traut. Die Virtuosität greift allerdings auch beim Choral in den Unterstimmen alsbald wieder ein. Bach hat demnach nicht das Gegenüber von Solo und Tutti vor Augen, sondern die Komplementarität von göttlicher Virtuosität und darauf gegründetem Gottvertrauen – zu singen von denselben, solistisch agierenden Sängern.
G. Neumark hatte sich für sein in weisheitlichem Sprachduktus gehaltenes Lied auf allgemeine Sentenzen im (apokryphen) Buch Jesus Sirach bezogen. Librettist wie Komponist profilieren diese Liedpredigt aber christologisch. So tragen sie dem Evangelium als Jesusgeschichte Rechnung. Das Gottvertrauen derer mit gläubigem Gemüte gründet konkret in Jesu Güte (Satz 5). Bach wählt als Grundtonart der Kantate c-Moll, wo das tiefe C Christus als Eckpfeiler des Vertrauens symbolisiert (vgl. Psalm 118,22). Bei der hat auf keinen Sand gebaut (Satz 1) erscheint dieses C drei Mal pointiert im Continuo. Das zauberhafte 3/8-Takt-Menuett der ersten Arie in Es-Dur umfasst 112 Takte, Äquivalent für CHRISTUS. Der Sänger singt hier 224 = 2x112 Töne. Der Text dieser Arie setzt ein bei der Kreuzesstunde als Realität allen Lebens. Darin werden die Menschen christusförmig. Dieser Name ist Inbegriff der Hilfe, die Gott seinen Kindern sendet, was Bach den Tenor auf lange Melismen entfalten lässt. Zur menschlichen Erfahrung wird diese Hilfe allerdings nur im passiven Innehalten, was mit köstlichen stille-Pausen jeweils auf dem sechsten Achtel spürbar wird.
Die Choralbearbeitung des Mittelsatzes – Bach wird sie (wie den analogen Satz 5 der vorausgehenden Kantate) in die »Schübler-Choräle« aufnehmen – kommt auf 1180 Töne, erneut Reverenz an Psalm 118, womit im Benedictus der Messe (Ps 118, 26) wie im Evangelium zum 1. Advent der einziehende Messias begrüßt wird (Matthäus 21,9): »So kömmt Gott, eh wir uns versehn und lässet uns viel Guts geschehn« singt das Lied. Auch die letzte Arie meint mit dem rechten Wundermann konkret Christus. Die hier entfaltete arm/reich-Dialektik entnahm der Lieddichter der Sirach-Quelle, jetzt, eine Woche nach der Magnificat-Musik des 2. Juli liegen die Konnotationen näher.
Beim Schlusschoral rekurriert Bach offensichtlich auf Christi Leidenspsalm 22. Der Tenor singt im auffallend verzierten Abgesang 22 Töne, alle Chorstimmen kommen auf 220 Töne. Christi Durchleiden der Gottverlassenheit im Aufschrei am Kreuz (Psalm 22,2) ist Garant dafür, dass für jeden Christen, der seine Zuversicht auf Gott setzt, gilt: den verlässt er nicht.
(Hinweis: »Der Tod in Töpfen«, Satz 5, spielt an auf 2. Könige 4,40, wo die Prophetenjünger von Elisa zunächst ungenießbare Speise erhalten.)