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7.Redaktion als innerbiblische Rezeption
ОглавлениеDas Argument der vielfältigen Interaktionen zwischen den alttestamentlichen Texten und Schriften lässt sich noch weiter zuspitzen: Seit die alttestamentliche Exegese zum einen die vormals gern diffamierten „Ergänzungen“ in den biblischen Büchern in vielen Fällen als Manifestationen innerbiblischer Schriftauslegung zu verstehen gelernt hat und zum anderen erkannt hat, dass diese „Ergänzungen“ textlich sehr umfangreich sein können, ja in vielen Fällen die Hauptmasse eines Buches ausmachen, wird mehr und mehr deutlich, dass das literarische Wachstum der biblischen Bücher diese nicht nur marginal, sondern in der Substanz geprägt hat (vgl. Fishbane 1985; O’Day 1999; Schmid 2000b; Tull 2000).
Die Redaktion der biblischen Bücher ist kein sachlich unkontrollierter Prozess der Textvermehrung, sondern in aller Regel ein textlich produktiver Vorgang innerbiblischer Rezeption und Auslegung vorgegebenen Textguts. In den Schriften des Alten Testaments sind in der Regel Text und Kommentar vereint, erst nach dem Abschluss des Kanons tritt die Auslegung neben den Text. Redaktionsgeschichte ist also als innerbiblische Rezeptionsgeschichte beschreibbar, deren Rekonstruktion die innerbiblischen theologischen Diskurslagen in ihren historischen Differenzierungen wieder zum Vorschein bringen kann.
Ein Weiteres kommt hinzu: Die in vielen Bereichen der Bibel erkennbaren Vorgänge innerbiblischer Schriftauslegung sind dafür verantwortlich, dass ihre Texte überhaupt über längere Zeit hinweg überlebt haben. Hätte man sie nicht aktiv fortgeschrieben und jeweils auf neue Situationen hin aktualisiert, wären sie alsbald vergessen gewesen und verlorengegangen. Nur dieser Zuschreibung einer übergeschichtlichen Sinnhaftigkeit verdanken die Bibeltexte ihre jahrhundertelange Tradierung und Existenz, die nicht nur die Antike, sondern auch das Mittelalter und – wenn man so will – sogar die Moderne überdauert hat. In besonderem Maß zeigt sich das Phänomen innerbiblischer Schriftauslegung bei Texten, die als Ausdruck göttlichen Willens oder Planens verstanden wurden, so etwa bei den Gesetzen des Pentateuch (vgl. Schmid 2011a; 2016a; 2016b; Gertz 2014). Das hat seinen Grund vor allem darin, dass das legislative Material des Pentateuch im Laufe seiner literaturgeschichtlichen Entwicklung, wie wir bereits gesehen haben, schon bald als Gottes Gesetz interpretiert worden ist. Die ältesten Rechtssätze des Bundesbuches waren, altorientalischer Gepflogenheit entsprechend, in der dritten Person formuliert und galten als Königsgesetz. Erst mit dem Deuteronomium kam die Vorstellung auf, Gott als legislative Instanz zu proklamieren. Dies brachte eine entscheidende Folge mit sich: War das Gesetz einmal mit göttlicher Qualität ausgestattet, konnte es nicht mehr unbesehen verändert werden. Nur durch innerbiblische Auslegung war es möglich, ein solches Gesetz zu aktualisieren und in eine neue Gestalt zu bringen. Insofern ist die schriftgelehrte Auslegung eines Gesetzes eine unmittelbare Folge der Behauptung seines göttlichen Ursprungs.
In der Prophetenliteratur liegt eine der Rechtsüberlieferung vergleichbare Situation vor: Auch hier müssen mit göttlicher Autorität ausgestattete Aussagen im Laufe der Zeit aktualisiert, ergänzt oder korrigiert werden. Offenkundig kommen dabei in der Prophetie auch Techniken zur Anwendung, die aus der Rechtstradition stammen (Otto 1991). Ein Prophetenwort galt als erfüllungsoffen, es konnte auch mehrere sukzessive Erfüllungen finden, die sich in entsprechenden Fortschreibungen niederschlagen konnten. Nachgerade eine „Fortschreibungskette“ findet sich beispielsweise in Jer 23,1–6. Sie setzt ein mit einer eigenständigen Einheit in 23,1–2, die formgeschichtlich als prophetisches Gerichtswort gestaltet und mit der Gottesspruchformel abgeschlossen ist. Sie beinhaltet ein Gerichtswort gegen die Könige Judas („Hirten“), die sich der Zerstreuung ihres Volkes schuldig gemacht haben.
Jeremia 23:
1 Wehe den Hirten, die die Schafe meiner Weide zugrunde richten und zerstreuen! Spruch JHWHs. 2 Darum, so spricht JHWH, der Gott Israels, über die Hirten, die mein Volk weiden: Ihr habt meine Schafe zerstreut und versprengt und euch nicht um sie gekümmert. Seht, ich werde mich um die Bosheit eurer Taten kümmern! Spruch JHWHs.
Daran schließt sich in Jer 23,3–4 ein Stück an, das offenkundig aus anderer Hand stammt, denn hier sind es nicht die Könige, die ihr Volk „versprengt“ haben, sondern Gott selbst ist der Akteur hinter diesem Vorgang. Hier wird also mit aller Deutlichkeit klargestellt, dass die Deportation aus Juda kein Versehen, sondern letztlich Teil von Gottes Geschichtsplan ist, der dann auch die Sammlung der Diaspora umfassen wird:
Jeremia 23:
3 Und ich selbst werde den Rest meiner Schafe sammeln aus allen Ländern, wohin ich sie versprengt habe, und ich werde sie zurückbringen auf ihren Weideplatz, und sie werden fruchtbar sein und sich mehren. 4 Dann lasse ich Hirten über sie auftreten, und diese werden sie weiden, und sie werden sich nicht mehr fürchten und nicht mehr erschrecken, und keines wird vermisst werden. Spruch JHWHs.
Die Folgeverse in Jer 23,5–6 setzen sich noch einmal vom Voraufgehenden ab und tragen die Präzisierung nach, dass die neuen Hirten, die Gott über sein Volk setzen wird, Davididen sein werden:
Jeremia 23:
5 Siehe, es kommen Tage, Spruch JHWHs, da lasse ich für David einen gerechten Spross auftreten, und dieser wird als König herrschen und einsichtig handeln und Recht und Gerechtigkeit üben im Land. 6 In seinen Tagen wird Juda gerettet werden, und Israel wird sicher wohnen. Und dies ist sein Name, den man ihm geben wird: JHWH ist unsere Gerechtigkeit!
Die Fortschreibungssequenz spiegelt so den literarisch-produktiven Umgang des Jeremiabuches mit der Grundaussage in Jer 23,1–2 wider, die im Verlauf der Zeit als aktualisierungsbedürftig angesehen wurde. So musste Jer 23,3–4 dem Missverständnis entgegentreten, Gott habe mit der Zerstreuung Judas unter die Völker nichts zu tun, und Jer 23,5–6 ergab sich aus der Notwendigkeit, die künftigen Könige aus der Daviddynastie zu rekrutieren. Es ist sogleich klar, dass diese Fortschreibungen nicht Auslegungen des jeweiligen Vorgängertextes im engen Sinn darstellen, denn sie beschränken sich nicht auf die Entfaltung impliziter Sinnpotentiale, sondern formulieren neue Gesichtspunkte, die über die jeweiligen Vorgaben inhaltlich hinausgehen.
Das innerbiblische Auslegungsgeflecht der Bibel vernetzt deren Texte untereinander in komplexer Weise. Die Bibel bezeugt so einen historisch und sachlich differenzierten Umgang mit den theologischen Fragen, die sie thematisiert. Nur für ein fundamentalistisches Bibelverständnis kann dieser Befund theologisch problematisch sein. Tatsächlich dürften diese innerbiblischen Differenzierungen letztlich dafür verantwortlich sein, dass die Bibel sich langfristig und global als normativer Text durchsetzen konnte: Eine gewisse Komplexität verbindlicher Schriften ist die Bedingung dafür, dass diese von ihren Auditorien über längere Zeiten hinweg als maßgeblich rezipiert werden können. Die literaturgeschichtliche Fragestellung trägt also keine den Büchern fremde Fragestellung an sie heran, sondern sie macht eine Tiefenstruktur deutlich, die diese Werke im Innersten zusammenhält.