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6.Elemente formgeschichtlicher Entwicklungen

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Auch wenn eine literaturgeschichtliche Darstellung des Alten Testaments heute nicht mehr wie diejenige von Hermann Gunkel vorgehen kann, so bleibt seine Frage nach der Entstehung und Geschichte der Literaturgattungen von bleibender Bedeutung (Wagner 1996; Blum 2006; Theißen 2007; Blum 2015) – nur, dass man sie nicht als Vehikel für den mittelbaren Einblick in das altisraelitische Geistesleben benutzen kann. Selbst wenn die gegenwärtige Forschung sehr viel mehr Textgut im Alten Testament als von vornherein schriftlich einstuft, als dies noch in den 1970er Jahren der Fall war, so hat die traditionelle Überzeugung – im Anschluss an Gunkel und die skandinavische Bibelwissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts –, das Alte Testament sei im Wesentlichen verschriftete mündliche Tradition, doch nach wie vor insofern einen Anhalt am Alten Testament selbst, als das Alte Testament sich über weite Strecken hin so zu präsentieren scheint.

Besonders deutlich ist dies in den Prophetenbüchern und in den Psalmen zu erkennen. Außer vielleicht Haggai und Jona sehen die Prophetenbücher so aus, als seien sie Sammlungen von ursprünglich selbständigen kleinen Einheiten, von Prophetenworten – auch wenn sie dies literarhistorisch nur zu einem Teil sind. Man mag sogar spekulieren, ob die „kleinen Einheiten“ sogar erst ein Produkt der Niederschrift sind, da sie außerbiblisch nicht wirklich deutlich bezeugt sind (die Ausnahme bilden die neuassyrischen Heilsorakel). Möglicherweise stehen sie mehr dafür, wie man sich Propheten vorgestellt hat, als wie Propheten tatsächlich gesprochen haben. Weiter gewinnt man aus der Psalmenlektüre ohne weiteres den Eindruck, es handle sich bei diesen Texten um Lieder und Gebete. Auch das ist nicht falsch, aber eben als literarhistorisches Generalurteil unzutreffend. Entsprechendes lässt sich im Bereich des dritten hebräischen Kanonteils auch für das Proverbienbuch, die Threni oder das Hohelied sagen. Blickt man in die Geschichtsbücher, so ist trotz des im Großen und Ganzen stimmigen chronologischen und narrativen Fortschritts in Genesis bis 2. Könige deutlich zu sehen, dass die Substanz der hier gebotenen Überlieferung ebenfalls auf kurzen Erzählungen beruht: Einzelne Perikopen, die in sich oft eine auffallende erzählerische Autarkie oder Semiautarkie aufweisen, sind aneinandergereiht worden.

Vor allem Beobachtungen zur intertextuellen Vernetzung und zur Abhängigkeit vom literarischen Kontext vieler dieser Stücke machen es unmöglich, sie als ehedem mündliches Gut einzustufen. Doch was historisch nicht zutrifft, kann sehr wohl Ergebnis einer gewollten literarischen Präsentation sein. Das Alte Testament will sich selbst nicht so sehr als schriftgelehrte, sondern vielmehr als ursprünglich mündliche Literatur darstellen. Der Grund dafür liegt angesichts der antiken Hochschätzung des Altersbeweises (Pilhofer 1990) nahe: Das Alte Testament will traditionelle, nicht innovative Literatur sein, und wenn es dennoch innovativ ist, dann in traditioneller Gestalt.

Blickt man etwas genauer auf die Überlieferung, so ist über diese allgemeinen Bestimmungen hinaus noch weiter zu kommen. Die biblischen Bücher sind ja gleichwohl deutlich mehr als – teilweise konstruierte – Florilegien kleiner Einheiten: Sie haben vielfach auch umfassende Gestaltungsvorgänge erfahren, die zwar ihren Sammelcharakter noch erkennen lassen, ihn aber auch weiterentwickelt haben. So zeigen sich durchaus auch Gesichtspunkte, die auf die Herausbildung innovativer, von vornherein literarischer Gattungen deuten.

So ist etwa bei verschiedenen Prophetenbüchern (oder -buchteilen) wie in Jesaja 1–39, im griechischen Jeremiabuch, in Ezechiel oder Zephanja eine vergleichbare Buchorganisation nach dem sogenannten „dreigliedrigen eschatologischen Schema“ (Gertz 2019, 347) feststellbar, das die kleinen Texteinheiten in übergreifende Zusammenhänge einbindet und dazu dient, die Gattung „Prophetenbuch“ zu etablieren. Der Gesamtpsalter ist im Sinne des chronistischen Geschichtsbilds strukturiert (Kratz 1996). Die Einzelerzählungen und Erzählzyklen der Erzelterngeschichte wurden mittels der Verheißungen zu zusammenhängenden Kompositionen ausgestaltet (Blum 1984). Anstöße zur Ausbildung von neuen literarischen Großgattungen scheinen auch von außerhalb des Alten Testaments erhalten worden zu sein: Das Deuteronomium in seiner Gestalt als „Treueid“ verdankt sich neuassyrischen formgeschichtlichen Konventionen (Otto 1996d; 1999a; Finsterbusch 2012; differenziert Koch 2008). Die Priesterschrift ist möglicherweise von den perserzeitlichen Königsinschriften her inspiriert. Das Hiobbuch scheint nachgerade auf einer formgeschichtlichen Kombination von Ludlul bēl nēmeqi (TUAT III/1, 110–135) und der Babylonischen Theodizee (TUAT III/1, 143–157) zu beruhen. Inwieweit die Josephsgeschichte gattungsmäßig vom ägyptischen Zweibrüdermärchen (der Erzählung von den beiden Brüdern Anubis und Bata) beeinflusst ist (Wettengel 2003), bleibt schwierig zu sagen; immerhin bleibt auffällig, dass sie sich als geschlossener Zusammenhang deutlich von Genesis 12–36 abhebt. In ihrer novellistischen Art scheint sie die Formierung von Büchern wie Esther, Ruth, Judith und Tobit beeinflusst zu haben.

Die literarische Formensprache des Alten Testaments ist so zwar mehrheitlich traditionell, aber durchaus auch interkulturell bestimmt. Die Gestaltungsvorgänge an den biblischen Büchern, in denen bisweilen mehrfach „Buchgestalten“ redaktionell übereinandergelegt worden sind (vgl. Schmid 1996a), basieren zwar nicht immer auftief eingreifenden Redaktionsmassnahmen, aber sie sind doch erkennbar und zeigen ein Bewusstsein der alttestamentlichen Autoren und Redaktoren dafür, dass auch Teil- oder Gesamtbücher Träger theologischer Aussagen sein können.

Schließlich ist auch die Herausbildung eines Kanons als Endpunkt der formgeschichtlichen Entwicklung der alttestamentlichen Literatur zu nennen, die allerdings – bis auf das spätere Neue Testament – ohne wirkliche Parallele in der Alten Welt ist. Wie unten (S. 279–290) darzustellen sein wird, kann kein Zweifel daran bestehen, dass Kanongeschichte und Literaturgeschichte des Alten Testaments keine voneinander, gar in sukzessiver Weise, zu trennende Phänomene sind, sondern vielfach untereinander interagieren. Der alttestamentliche Kanon ist eine sinntragende Größe, dessen übergreifende theologische Perspektiven durch entsprechende Eintragungen auch in seinem Text selber literarisch verankert worden sind (vgl. etwa Dtn 34,10–12; Jos 1,7–8; Mal 3,22; Ps 1,1–3).

Literaturgeschichte des Alten Testaments

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