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5.Das zeitgenössische Publikum der alttestamentlichen Literatur
ОглавлениеFür wen sind die alttestamentlichen Texte und Schriften verfasst worden? Diese Frage ist nur sehr schwer zu beantworten und wird weitgehend offenbleiben müssen. Wahrscheinlich sind verschiedene Erzählungen, Sprüche oder Lieder, die nachmals in die erzählenden Bücher, in die Propheten, in die Psalmen oder in die Sprüche eingegangen sind, mündlich vor verschiedenen Auditorien vorgetragen worden, bevor oder während sie schriftlich fixiert wurden. Publikation durch Verlesung etwa wird von Hab 2,2 vorausgesetzt (van der Toorn 2007, 14.179):
Habakuk 2:
2 Und JHWH hat mir geantwortet und gesagt:
Schreibe auf, was du geschaut hast,
und schreibe es deutlich auf die Tafeln,
damit der Vorleser damit herumlaufen kann.
Bei weitem nicht das ganze Alte Testament ist aber von vornherein oder ausschließlich mündliche Literatur oder zur Verlesung bestimmt gewesen, das ist vor allem gegen die klassische Formgeschichte im Anschluss an Gunkel zu betonen. Über die mündliche Verwendung alttestamentlicher Texte, wo man mit ihr rechnen darf, lässt sich kaum mehr Sicheres ausmachen. Die hier verfolgte Fragestellung kann sich auf den Aspekt beschränken, wer denn die Texte des Alten Testaments in ihrer schriftlichen Form – gehen sie nun auf mündliche Vorstufen zurück oder nicht – gelesen hat. Auch wenn hier wiederum wenig Belastbares erschließbar ist, so wird man doch wohl urteilen müssen, dass die alttestamentliche Literatur über weite Strecken von Schriftgelehrten für Schriftgelehrte – ob sie nun am Tempel oder am Palast beschäftigt waren – geschrieben worden ist, das Publikum also im Wesentlichen mit der Autorschaft zusammenfällt. Das ergibt sich vor allem aufgrund des hohen Intertextualitätsgrades der alttestamentlichen Literatur, die offenbar auf eine besonders ausgebildete Rezipientenschaft hin ausgerichtet ist (Schmid 2011a).
Wie hat man sich Lesevorgänge im Rahmen altisraelitischer Schriftgelehrsamkeit vorzustellen? Einen Hinweis vermag Psalm 1,2 abzugeben: Der hier beschriebene Schriftgelehrte „sinnt“ oder – wie man das hebräische Verb hgh genauer zu übersetzen hat – „murmelt“ über der Schrift Tag und Nacht. Natürlich ist dieses Bild zugespitzt, doch der hier in den Blick genommene Lesevorgang als sinnierendes „Murmeln“ ist insofern aufschlussreich, als „Lesen“ in diesem kulturgeschichtlichen Zusammenhang offenbar nicht einfach bedeutet, einen Text von vorn nach hinten einmal durchzulesen, sondern vielmehr, ihn – durch halblautes Lesen – zu studieren. Stummes Lesen war in der Antike sehr ungebräuchlich (Knox 1968).
Dieses Schriftstudium war die unentbehrliche Voraussetzung für die Tätigkeit der Schriftgelehrten: Diese hatten – nach kulturgeschichtlichen Analogien zu urteilen – beim Abfassen ihrer traditionsgebundenen Texte wohl nicht immer und wahrscheinlich sogar nicht in der Regel die schriftlichen Werke vor sich, aus denen sie schöpften und auf die sie sich bezogen. Vielmehr scheinen sie anhand der klassischen Literatur als Schreiber trainiert worden zu sein und die wesentlichen Texte memoriert zu haben (vgl. Carr 2005; 2006; 2015; B. U. Schipper 2005). Die Texte des Alten Testaments waren für die Schriftgelehrten des antiken Israel so zwar sehr präsent, aber nicht notwendigerweise in materialer als vielmehr in mentaler Hinsicht. Ein besonders deutliches Beispiel einer schriftgelehrten „Patchwork“-Prophetie findet sich in Jeremia 49,7–22. Sie ist am ehesten damit zu erklären, dass der Verfasser verschiedene Prophetenstellen aus dem Gedächtnis kombinierte (van der Toorn 2007, 194):
Jeremia 49,7 | Obadja 8 |
Jeremia 49,8 | Jeremia 49,30.32 |
Jeremia 49,9–10 | Obadja 5–6 |
Jeremia 49,12–13 | Jeremia 25,15–29; 25,8–11 |
Jeremia 49,14–16 | Obadja 1–4 |
Jeremia 49,17–18 | Jeremia 50,13.40 |
Jeremia 49,19–21 | Jeremia 50,44–46 |
Jeremia 49,22 | Jeremia 48,40–41 |
Wie sehr Lesen und Memorieren in der Schriftkultur Israels zusammenhängen, lässt sich schließlich mit dem Ostrakon III aus Lachisch illustrieren, in dem sich ein militärischer Befehlshaber damit rühmt, dass er einen Brief, sobald er ihn gelesen habe, auswendig rezitieren kann (Z. 11–13, vgl. van der Toorn 2007, 12):
Jeden Brief, der je zu mir kommt, wenn ich ihn gelesen habe, [dann] kann ich ihn wiederholen bis ins Detail. (TUAT I, 621)