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9.Neuere Forschungstendenzen in der alttestamentlichen Wissenschaft und ihre Konsequenzen für eine alttestamentliche Literaturgeschichte
ОглавлениеGegenwärtig lässt sich ein gewisser Umbruch in der alttestamentlichen Wissenschaft beobachten, der für die literaturgeschichtliche Fragestellung von Bedeutung ist und der sich vor allem von drei Faktoren her bedingt: Zunächst hat sich der Blick auf die zeitgeschichtlichen Entstehungsumstände der alttestamentlichen Schriften namentlich in kultur- und religionsgeschichtlicher Hinsicht durch neue archäologische Funde erheblich verändert (siehe oben S. 37). Weiter haben sich – nicht zuletzt durch die neuen religionsgeschichtlichen Rahmenbedingungen inspiriert – besonders in der Forschung zu den Geschichtsbüchern, zur Prophetie, aber auch zu den Schriften (vor allem den Psalmen) neue entstehungsgeschichtliche Perspektiven ergeben, die sich von den herkömmlichen Annahmen der alttestamentlichen Wissenschaft im 20. Jahrhundert doch erheblich unterscheiden (Gertz 2019). Schließlich ist die Theologie insgesamt pluralistischer geworden. Zurückgegangen ist besonders der starke Einfluss der Dialektischen Theologie, der die alttestamentliche Wissenschaft in der Mitte des letzten Jahrhunderts vielerorts zu religionsgeschichtlichen Projektionen der Grundunterscheidung von Offenbarungstheologie und natürlicher Theologie auf Israel und seine Nachbarn verleitet hatte; auf die literarischen und archäologischen Befunde des antiken Israel ermöglicht dieser Rückgang unvoreingenommenere Blicke, deren eigene zeitgeschichtliche Bedingtheiten Spätere beschreiben mögen.
Die sich neu abzeichnenden Rahmenannahmen eines Gesamtbildes der Literatur- und Theologiegeschichte des Alten Testaments sind dabei keine Neuentdeckungen. Das Alte Testament stellt im Wesentlichen eine Urkunde des antiken Judentums der persischen und hellenistischen Zeit dar und interpretiert die in ihm thematisierten geschichtlichen Vorgänge unter der Maßgabe der religiösen Zentraldaten Monotheismus, Bund und Gesetz, die aufgrund ihrer hervorragenden Bedeutung an den Anfang der biblischen Geschichte Israels gesetzt worden sind. Diese Problematik ist seit dem 19. Jahrhundert wohlbekannt, die Forschung hat aber die Diskussion darüber zunächst in stark pauschalisierter Form und mit extremen Spätdatierungen (vgl. Lemche 2001; Diebner 1992/1993 und jeweils frühere Arbeiten) eher behindert als befördert und sie erst in den letzten Jahren genügend erst genommen. Die jüngere Forschung am Alten Testament scheint allerdings wiederum hie und da der Gefahr zu erliegen, mit einfachen Dichotomisierungen etwa zwischen der vorexilischen und der nachexilischen Zeit, zwischen Polytheismus und Monotheismus, zwischen altem Israel und Judentum (vgl. dazu Brettler 1999), zwischen Naturreligion und Offenbarungsreligion sich vom historisch Wahrscheinlichen zu entfernen. Dass sich die alttestamentliche Wissenschaft aber grundlegend verändert hat, bleibt davon unberührt.
Besonderen Anteil an diesem Umbruch haben die Perspektivenverschiebungen in der Pentateuchforschung (vgl. Dozeman/Schmid/Schwartz 2011; Gertz u. a. 2016; einseitig für den traditionellen Ansatz der Urkundenhypothese vgl. Baden 2009; 2012). Der erstaunliche Erfolg der Neueren Urkundenhypothese bis weit in das 20. Jahrhundert hinein, die mit dem sukzessiven Ineinanderarbeiten der drei Quellen „J“ (Jahwist), „E“ (Elohist) und „P“ (Priesterschrift) rechnete, die inhaltlich ungefähr das Gleiche erzählen, aber literarisch unabhängig voneinander entstanden sein sollen, ist im Grunde genommen nur dadurch zu erklären, dass sie ebenso elementar wie exklusiv auf die anfänglichen Beobachtungen der historischen Bibelkritik – den Wechsel von JHWH und Elohim zur Bezeichnung Gottes sowie die Beobachtung von textlichen Dubletten – abstellte und sich danach einer langfristigen forschungsgeschichtlichen Gewöhnung erfreuen konnte. Tatsächlich aber implizierte die Neuere Urkundenhypothese einige Grundannahmen, die bei Lichte besehen außerordentlich problematisch sind: Zunächst einmal formuliert sie mit der Überzeugung, dass die übergreifenden Synthesen (der bei Wellhausen königszeitliche und seit von Rad sogar salomonische „J“ enthalte eine Geschichtsdarstellung, die von der Schöpfung bis zur Landnahme gereicht haben soll) am Anfang der Überlieferungsbildung gestanden haben sollen, eine These, die einen Sonderfall innerhalb der alttestamentlichen Überlieferung postuliert: Sowohl bei den Vorderen Propheten (Josua bis 2. Könige) als auch bei den Hinteren Propheten (Jesaja bis Maleachi) wie auch bei den Schriften wird fraglos damit gerechnet, dass die jeweiligen Bücher auf jeweils weniger umfangreiche Quellenstücke zurückgehen, die sukzessive redaktionell gesammelt und erweitert worden sind – eine Annahme, die sich vom Textbefund her nahezu von selbst aufdrängt. Im Pentateuch sollen die Dinge gemäß der Neueren Urkundenhypothese grundsätzlich anders liegen. Dass sich dies so nicht verhält, beginnt sich in der Forschung erst im Gefolge der einflussreichen Studien Erhard Blums zur Komposition der Erzelterngeschichte und des Pentateuch (Blum 1984; 1990) langsam durchzusetzen, die konsensfähig immerhin so viel gezeigt haben, dass auch für die literarischen Anfänge des Pentateuch mit Quellen von begrenztem literarischem Horizont zu rechnen ist, die erst in der (exilischen oder) frühnachexilischen Zeit in übergreifende Zusammenhänge eingestellt worden sind (nach Blum im Rahmen einer „deuteronomistischen“ und einer „priesterlichen“ Kompositionsschicht, gefolgt etwa von Albertz 1992).
So lässt sich heute bereits für einen nicht mehr nur marginalen Forschungsstrang, der die Komposition des Pentateuch ohne einen vorpriesterlichen Zusammenhang namentlich von Erzvätern und Exodus erklären will, ein „Abschied vom Jahwisten“ erkennen (vgl. Gertz u. a. 2002; Dozeman/Schmid 2006). Natürlich ist es noch nicht ausgemacht, ob diese Zugangsweise nachhaltig sein wird. Doch auch für viele alternative, neuere Modelle liegt auf der Hand, dass die großen heilsgeschichtlichen Entwürfe im Pentateuch nicht am Anfang der Überlieferungsbildung liegen, sondern erst gegen deren Ende entstanden sind. Dasselbe gilt für die inneralttestamentlichen, credoartigen Zusammenfassungen der Heilsgeschichte (Gertz 2000a). Man kann also Israels Religion(en) der Königszeit nicht nach dem Diskontinuitätsparadigma interpretieren, wonach Israel an den einen, nicht darstellbaren (Niehr 1997; Uehlinger 1998b.c; vgl. Keel 2007, 305–307.478–482, der zwar nicht mit einem anthropomorphen Kultbild JHWHS, wohl aber mit einem der Aschera im ersten Tempel rechnet) Gott glaubt, der sich in der Geschichte offenbart, während die Nachbarreligionen den Naturkreislauf vergötterten, den sie auf das Wirken verschiedener Gottheiten zurückführten (vgl. Schmid 2000a). Im Gegenteil: Die jüngere Pentateuchforschung ermöglicht es nicht nur, sondern zwingt nachgerade dazu, die vorexilische Religionsgeschichte Israels in die Religionsgeschichte des Vorderen Orients einzuzeichnen (vgl. Kratz 2000a, 318), wobei auch hier vor der Gefahr zu warnen ist, sie axiomatisch in sie hineinzunivellieren.
Im Bereich der Prophetie lässt sich ein ähnlicher Umbruch feststellen, auch wenn er etwas weniger offensichtlich erscheint (vgl. dazu Schmid 1996b; Steck 1996; Kratz 2003b; 2011; Becker 2004; Nissinen 2017). Das klassische Bild beschrieb die Propheten als geistbegabte, genialische Einzelpersonen, die den ihnen unmittelbar mitgeteilten, bisweilen auch aufgenötigten Gotteswillen unbedingt und kompromisslos gegenüber ihren Adressaten vertreten. Gewonnen wurde dieses Prophetenbild von der Exegese des 19. und 20. Jahrhunderts durch die Scheidung von prophetischen Originallogien von sekundären Ergänzungen. Die Exegese der Prophetenbücher bestand im Wesentlichen in der Unterscheidung von „echtem“ und „unechtem“ Textgut, ihr Resultat in der Präsentation der Propheten als religiöser Genies.
Geistesgeschichtlich ist dieses klassische Prophetenbild vor allem vom Idealismus und der Romantik her inspiriert. Es beherrschte das ganze 19. Jahrhundert und wurde durch die Spätdatierung des Gesetzes hinter die Propheten durch Wellhausen (lex post prophetas), die die Propheten von der Last befreite, Gesetzesausleger zu sein, noch erheblich gefördert. Die grundlegende Charakterisierung, dass die Botschaft der Propheten nicht von dieser Welt sei, kam der dialektischen Theologie sehr gelegen und wurde von ihr in das 20. Jahrhundert hinein verlängert. Noch deutlich tritt der isolierte Status der Prophetie als ihr zentrales Merkmal in der epochalen „Theologie des Alten Testaments“ Gerhard von Rads (1957/1960) zutage: Die Prophetie lässt sich nach von Rad mit den übrigen Glaubensvorstellungen Israels nicht verbinden, deshalb behandelte er sie, gesondert von allen anderen Überlieferungen, in einem zweiten Band.
Neben diesem klassisch geprägten Forschungsstrang gab es jedoch auch schon früh andere Stimmen (vgl. Hertzberg 1936; Gelin 1959). Sie fragten bewusst nicht nur nach den Propheten und ihren „echten“ Worten, sondern auch nach den sekundären Ergänzungen als solchen und versuchten, diese als innerbiblische Auslegungsarbeit plausibel zu machen.
Dieser Fragehinsicht – die sogenannte redaktionsgeschichtliche Fragestellung (Marxsen 1956) – gelang innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft dann insbesondere durch Walther Zimmerlis Ezechielkommentar 1969 der Durchbruch und gehört heute zu den dominanten Arbeitsweisen in der Prophetenforschung. Sie fragt entschieden nicht mehr nur ausschließlich nach der Verkündigung der Propheten, sondern auch nach den unterschiedlichen Akzenten und Aussagelinien ihrer Bücher, die sich erst der literarischen Nachgeschichte der aufgezeichneten Prophetensprüche verdanken.
Im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert tendierte die Prophetenforschung dahin, die von den Überschriften der Bücher für die dahinterstehenden Propheten reklamierten Texte auf ein (nach welchen Maßgaben auch immer beurteiltes) kritisch gesichertes Maß zu reduzieren, wobei die Substanz des Selbstzeugnisses so gewahrt blieb – das Jesajabuch stammt von „Jesaja“, das Jeremiabuch von „Jeremia“ usw. Demgegenüber haben sich in der heutigen Forschung die Gewichte von den Propheten auf ihre Bücher, von ihren Sprüchen auf die Texte des Buches verlagert. Die Prophetenbücher kommen vermehrt als sinntragende Größen in den Blick und nicht mehr nur als zufällige Zusammenstellungen sogenannter „kleiner Einheiten“, die allein theologisch Wertvolles enthalten. Man kann hierbei geradezu von einem Paradigmenwechsel in der Prophetenforschung sprechen, wenn auch die Nachfrage nach prophetischen Originallogien nach wie vor ihr relatives Recht behalten muss.
Die exegetische Beschäftigung mit den herkömmlicherweise als unecht betrachteten Stellen in den Prophetenbüchern macht mehr und mehr deutlich, dass sie sich nicht in Glossen und Textfehlern erschöpfen, sondern vielfach, ja meistenorts als sinntragende Nachinterpretationen vorgegebenen Textmaterials zu deuten sind. Man hat es also bei den „Ergänzern“ nicht mit stümperhaften Glossatoren, sondern mit schriftgelehrten Redaktoren zu tun, die ihrerseits insofern als „Propheten“ gelten können, als sie zum einen in ihrer schriftgelehrten Tätigkeit eine erstaunliche sachliche Innovativität zeigen und zum anderen in ihrer anonymen Unterordnung unter die namengebenden Gestalten der Bücher, an denen sie arbeiten, sich von ihrem Selbstverständnis her selbst als prophetisch wirkend zu erkennen geben.
Die Prophetie wird so vermehrt als ein kollektives und langzeitiges, nicht mehr historisch-punktuell an eine genialische Einzelgestalt gebundenes Phänomen gesehen, und sie wird wieder bewusst als Schriftprophetie wahrgenommen. Nicht alle Prophetie ist ursprünglich mündlich gewesen, sondern weite Teile der Prophetenbücher haben nie anders als schriftlich existiert (z. B. Jesaja 56–66 [Steck 1991]; Jeremia 30–33 [Schmid 1996a; anders Stipp 2011a]). Für einzelne Prophetenbücher, etwa Joel, Jona oder Maleachi, ist überhaupt zu erwägen, ob sie nicht als Ganze auf schriftgelehrte Tätigkeit zurückgehen. Hinter ihnen steht vermutlich keine prophetische Einzelgestalt, deren verschriftete Verkündigung die Grundlage der weiteren Redaktionsgeschichte des Buches gebildet hätte, vielmehr scheinen diese Bücher vollständige Produkte schriftgelehrter Tradentenprophetie zu sein.
Schließlich ist es hilfreich, sich die Umbrüche der neuesten Psalmenforschung zu vergegenwärtigen. In literaturgeschichtlicher Hinsicht bleibt die Datierung von Psalmen notorisch umstritten. Die jüngere Psalmenforschung konnte jedoch zeigen, wie sehr der Psalter als theologisches Buch geprägt ist (vgl. Wilson 1985; Hossfeld/Zenger 1993; 2000; Millard 1994; Zenger 1998; Hartenstein/Janowski 2003b; Hartenstein 2010; Leuenberger 2004). Das schließt nicht aus, sondern ein, dass darin auch ältere Einzelpsalmen eingegangen sind, die ursprünglich im Kult des ersten und/oder zweiten Tempels Verwendung fanden. In seiner vorliegenden Gestalt ist der Psalter aber ein sorgsam strukturiertes literarisches Ganzes, das seinen Sitz im Leben eher im Schriftstudium als im Kult gehabt haben dürfte. Vergleichbares ist auch für die Weisheitsliteratur im engeren Sinn, etwa das Sprüchebuch, feststellbar (vgl. etwa Krüger 1995/1997; Scoralick 1995; Saur 2012).
Fasst man zusammen, so lassen sich – bei allen Vorbehalten, die man solchen schlagwortartigen Charakterisierungen entgegenbringen muss – als Tendenzen der neuesten Forschung am Alten Testament erkennen: (1) Die Annahme einer heilsgeschichtlichen Prägung der Religion Israels von Anfang an lässt sich in der klassischen Form nicht halten. Namentlich die zu ihrer Begründung wichtige Jahwisten-Hypothese vermag diese Last nicht zu tragen (Gertz u. a. 2002; Dozeman/Schmid 2006). (2) „Subdeuteronomistische“ (Weippert 1990/1997; vgl. Schmid 2018a) Interpretationen des Alten Testaments, die von einer grundsätzlichen Konkordanz zwischen der Epochenfolge des biblischen und des historischen Israel ausgehen, sind kritisch zu befragen. (3) In religionsgeschichtlicher Perspektive lässt sich eine gewisse (Wieder-)Annäherung bei der Bestimmung der königszeitlichen Religion(en) Israels an diejenige der Nachbarreligionen feststellen. (4) Gegenüber traditionellen Bestimmungen werden die exilische und nachexilische Zeit als entscheidende Phasen der Formierung der alttestamentlichen Literatur deutlich aufgewertet. (5) Die im 19. und 20. Jahrhundert gerne supponierten „religiösen Genies“ kommen nicht mehr als Monopolisten für die Literaturproduktion im Alten Testament in Frage. Vielmehr hat sich gezeigt, dass die alttestamentliche Literatur auf weite Strecken hin schriftgelehrte Auslegungsliteratur ist (Schmid 2011a; 2016).