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2.Forschungsgeschichte
ОглавлениеDie literaturgeschichtliche Fragestellung am Alten Testament ist nicht neu. Wie ist ihre Geschichte verlaufen und welche Möglichkeiten und Probleme haben sich dabei gezeigt (vgl. Schmid 2007c; Eisen/Gerstenberger 2010)?
Literaturgeschichtlich zu fragen setzt den Beginn der historisch-kritischen Forschung am Alten Testament und damit das Bewusstsein der Divergenz zwischen biblischer Selbstdarstellung und historischer Rekonstruktion voraus. So sprach sich bereits 1670 Baruch de Spinoza in seinem Tractatus theologico-politicus für die Notwendigkeit einer literaturgeschichtlichen Behandlung des Alten Testaments aus, da dieses die nationale und natürliche Entwicklung des hebräischen Volksgeistes darstelle. Ansätze literaturgeschichtlichen Fragens finden sich auch bei Richard Simon (1685), Robert Lowth (1753), Johann Gottfried Herder (1782/83) und anderen. In der Zeit vor den vor allem mit dem Namen Julius Wellhausen verbundenen Umbrüchen verblieb die Rekonstruktion der alttestamentlichen Literaturgeschichte allerdings eng bei den biblischen Vorgaben, und es bildete sich – trotz des vehementen Votums von Hermann Hupfeld aus dem Jahr 1844 („Der eigentliche und allein richtige Name der Wissenschaft in ihrem heutigen Sinn ist demnach Geschichte der heiligen Schriften Alten und Neuen Testaments, oder der biblischen Literatur, wie sie schon R. Simon nannte“, Hupfeld 1844, 12–13; vgl. Kaiser 2005) – keine eigene literaturgeschichtliche Subdisziplin der alttestamentlichen Wissenschaft heraus.
Eine eigentliche, terminologisch so angezeigte und methodisch reflektierte Literaturgeschichte des Alten Testaments legte erstmals Ernst Heinrich Meier mit seiner „Geschichte der poetischen National-Literatur der Hebräer“ im Jahr 1856 vor, die allerdings ein völliges Außenseiterwerk blieb und kaum Beachtung fand (Meier 1856). Dieses Geschick und der Umstand, dass es sich bei dieser Literaturgeschichte um das Werk eines Nichtalttestamentlers, eines Orientalisten, handelt, kann nachgerade als ein prophetischer Vorverweis auf die nahezu durchgängige Marginalität der literaturgeschichtlichen Fragestellung in der späteren alttestamentlichen Wissenschaft gedeutet werden. Entsprechend seiner Zeit ging Meier die alttestamentliche Literaturgeschichte dezidiert von der Frage nach der hebräischen „National“-Literatur her an (VI). Für ihn zerfiel die hebräische Literatur, die er bibelnah beschrieb, in drei Epochen: eine „Vorbereitungsepoche, von Mose bis zum Beginn des Königtums“, sie „bezeichnet das Werden des hebräischen Staates“, eine zweite Epoche erstreckt sich von „der Stiftung des Königthums bis zum Ende des Exils“, hier „erreicht der Volksgeist seine eigentliche Blüte“, während die dritte Epoche vom „Anfang des persischen bis ins makkabäische Zeitalter“ reicht, sie ist zugleich die Periode der „Vollendung und des Verfalls“ (24).
Noch näher am biblischen Bild der Literaturgeschichte des Alten Testaments blieb das zweibändige Werk von Julius Fürst (1867/70), das ursprünglich auch die neutestamentliche Literatur miteinschließen sollte, dann aber nur bis zur Behandlung der frühpersischen Zeit fertiggestellt wurde. Fürst folgte in der Pentateuchforschung der älteren Urkundenhypothese, die Psalmen sind für ihn davidischen und die Sprüche salomonischen Ursprungs. Die Propheten sind literaturgeschichtlich im Wesentlichen für ihre Bücher insgesamt verantwortlich. In all diesen alttestamentlichen Schriften ist aber auch älteres Quellenmaterial verarbeitet. Deshalb liest sich Fürsts Literaturgeschichte auf weite Strecken hin wie eine Darstellung der in die biblischen Bücher eingegangenen, älteren Vorgaben.
Das zweibändige Werk von David Cassel (1872/73) systematisiert sehr viel stärker nach formalen Gesichtspunkten. Der Aufriss ist nicht in erster Linie chronologisch geordnet, sondern strebt eine gattungsmäßige Sortierung an. Cassel unterschied poetische, prophetische, gesetzliche und historische Literatur. Durchgeführt ist die literaturgeschichtliche Darstellung aber nur für die beiden erstgenannten Bereiche, wobei – der Natur der Sache entsprechend – nur die prophetische Literatur in sich wirklich geschichtlich differenziert wird. Auch Cassel notierte die Kontextverflochtenheit der Hebräischen Bibel, hielt aber in der Regel die Bibel für den gebenden Teil.
Julius Wellhausen, der die historische Bibelkritik mit der Spätdatierung der Priesterschrift neu fundierte, hat keines seiner Bücher mit dem Titel „Literaturgeschichte“ überschrieben, doch tragen sowohl seine „Prolegomena“ (1883/61927) wie auch einzelne Paragraphen der „Israelitischen und jüdischen Geschichte“ (1904) Züge literaturgeschichtlicher Zugangsweisen. Man kann vermuten, dass es nicht zuletzt die historisch-synthetische Präsentation der bibelkritischen Resultate von Wellhausens Forschung war, die ihr ihren Erfolg in der alttestamentlichen Wissenschaft sicherte.
Die bekannte Synthese von Eduard Reuss (1881; vgl. dazu Vincent 1990) aus dem Jahr 1881 verstand sich programmatisch als Weiterführung der bisher erreichten Bibelkritik vor allem nach Karl Heinrich Graf, Julius Wellhausen und Abraham Kuenen. „Denn das beste was bis jetzt gethan ist, sie nennen’s die historisch-kritische Einleitung ins Alte Testament, ist nicht das Haus selber, sondern erst der statistische Bericht über die Vorarbeiten in der Bauhütte und Werkstatt“ (21). Reuss’ eigene Darstellung ist chronologisch geordnet und klassifiziert die Literaturgeschichte etwas schematisierend in vier Epochen: die „Zeit der Helden“, die „Zeit der Propheten“, die „Zeit der Priester“ und die „Zeit der Schriftgelehrten“ (XIII–XV). Immerhin aber zeichnete Reuss vor, was die in den nächsten Jahrzehnten vorgelegten Darstellungen der alttestamentlichen Literaturgeschichte dann entsprechend prägte. Er fand in den Hymnen wie etwa dem Deboralied die vorstaatlichen Anfänge der alttestamentlichen Literatur, die sich dann über die großen Schriftsteller der Königszeit wie den Jahwisten oder Jesaja fortsetzte, um dann vor allem mit der priesterlichen und gesetzlichen Literatur der nachexilischen Epoche zu enden. Dieser Dreischritt – alte poetische Einzeltexte als Anfänge der Literaturgeschichte, die klassischen Propheten und die frühen pentateuchischen Quellenautoren als ihr Kulminationspunkt und die Gesetze als ihr Ausklang – spiegelt gewissermaßen den literaturgeschichtlichen common sense des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts.
1893 erschien Gerrit Wildeboers Literaturgeschichte in holländischer Sprache, zwei Jahre später in deutscher Übersetzung. Es handelt sich bei ihr um eine weitere synthetische Zusammenschau der Entstehung der alttestamentlichen Literatur nach den durch Reuss, Kuenen und Wellhausen verursachten Umwälzungen in der Pentateuchforschung, die auch für das Gesamtbild der altisraelitischen Literatur und ihrer Geschichte von weitreichender Bedeutung sind. So hielt Wildeboer einleitend fest: „Will man den Wert und die Bedeutung der israelitischen Litteraturgeschichte recht verstehen, so muss man vor allem von der Wahrheit durchdrungen sein, nicht nur dass es das nachexilische Judentum gewesen ist, das uns diese Litteratur übermittelt hat, sondern auch dass für einen großen Teil derselben die Verfasser in dieser Periode zu suchen sind und endlich, dass die Überlieferung älterer Schriften nicht ohne oft eingreifende Veränderungen statt hatte.“ (1, vgl. 105) Das klingt zwar programmatisch, in der Durchführung blieb Wildeboers Buch allerdings weitgehend den Datierungsansätzen der zeitgenössischen Forschung verhaftet. Wenig Gewinn zog Wildeboer zudem aus der literaturgeschichtlichen Fragestellung als solcher – seine Darstellung wirkt auf weite Strecken hin wie eine chronologisch umgeordnete Einleitung in das Alte Testament.
Eine knappe Darstellung der Literaturgeschichte des Alten Testaments findet sich dann bei Emil Kautzsch, zunächst als Beilage zu seiner Übersetzung des Alten Testaments, dann „nicht ohne anfängliche Bedenken“ als Separatdruck erschienen (1897, III). Sie periodisierte die Literaturgeschichte nach den innenpolitischen Zäsuren in der Geschichte Israels: „Die vorkönigliche Zeit“, „Die Zeit des ungeteilten Königtums“, „Die Zeit des geteilten Reichs bis zur Zerstörung Samarias“, „Von der Zerstörung Samarias bis zum Exil“, „Die Zeit des Exils“, „Die nachexilische Zeit“ (V–VI). Trotz ihrer Knappheit fixierte sie den materialen Stand der literaturgeschichtlichen Diskussion auch in einer gewissen Detailliertheit für die nächsten Jahre. Gleichwohl bleibt für das Schattendasein der literaturgeschichtlichen Fragestellung in der deutschsprachigen Wissenschaft bezeichnend, dass Kautzsch’ Darstellung als kleiner Appendix konzipiert war, während die späteren literaturgeschichtlichen Entwürfe von Hermann Gunkel, Karl Budde und Johannes Hempel als Teile übergreifender Darstellungen oder Reihen (Hermann Gunkel: „Die orientalischen Literaturen“ in „Die Kultur der Gegenwart“, I/7; Karl Budde: „Die Litteraturen des Ostens in Einzeldarstellungen“, Band 7; Johannes Hempel: „Handbuch der Literaturwissenschaft“) erschienen – also gewissermaßen durch fachfremde Initiativen generiert wurden.
Wenn auch das Projekt einer Literaturgeschichte des Alten Testaments nie in das Zentrum des Faches rücken konnte, so bleibt es forschungsgeschichtlich mit dem Namen Hermann Gunkels verbunden (1906a.b; vgl. Klatt 1969, 166–192; Liwak 2004/2013, IX–XXXI; Witte 2010; Schmid 2011c), der die breitesten, originellsten und – relativ gesehen – auch folgeträchtigsten Anstrengungen zu dessen Weiterentwicklung unternahm, auch wenn er zeitlebens nur eine knappe Skizze mit 50 Seiten Umfang als material entwickelte Darstellung publizieren konnte. Eine besondere Rolle kam dabei der von ihm maßgeblich mitentwickelten (aber nicht so genannten [Blum 2006, 85]) Fragestellung der Formgeschichte zu: Die Literaturgeschichte des Alten Testaments ist bei Gunkel als Geschichte seiner Gattungen gefasst (Gunkel 1913, 31). Dahinter stand die Vorstellung, dass die alttestamentlichen Texte weithin auf mündliche Vorstufen zurückgehen und dass sich die geistige Geschichte des antiken Israel vor allem über den geschichtlichen Wandel der im Redeleben beheimateten und später auch für die Niederschrift verwendeten Gattungen beschreiben lasse. Im Grunde genommen war diese Literaturgeschichte nicht an den Texten selbst, sondern an den hinter ihnen stehenden Prägeelementen interessiert. Literaturgeschichte als Gattungsgeschichte betrieben fragte nach dem jeweiligen „Sitz im Leben“ einer Gattung und öffnete so, das war jedenfalls die Meinung Gunkels, den Blick in das religiöse Geistesleben Israels. Zu diesem methodischen Programm trat bei Gunkel eine Gliederung der altisraelitischen Literaturgeschichte, die eine charakteristische Gewichtung erkennen lässt: Gunkel unterschied drei Epochen, zunächst beschrieb er „[d]ie volkstümliche Literatur bis zum Auftreten der großen Schriftsteller (bis ca. 750)“ ([1906b] 1963, 5), dann folgten „[d]ie großen Schriftstellerpersönlichkeiten (ca. 750–540)“ (26) und schließlich „[d]ie Epigonen“ (43). Gunkel reproduzierte mit dieser Gliederung die besonders im 19. Jahrhundert geläufige Trennung zwischen dem vorexilischen, prophetischen „Hebraismus“ und dem nachexilischen, gesetzlichen „Judaismus“. Die religiösen Genies, auf die die großen geistigen Entwürfe des Alten Testaments zurückgehen, gehörten in die Zeit zwischen Jesaja und Deuterojesaja, danach folgten nur noch „Epigonen“. Gunkels Entwurf war zu seiner Zeit keine erfolgreiche Aufnahme beschert (Bertholet 1907), was mit zum weiteren Schattendasein der von ihm verfolgten literaturgeschichtlichen Fragestellung beigetragen haben dürfte. Für seine Rezipienten war offenbar vor allem das unklare Verhältnis der beiden Fragen nach den Gattungen und nach den Schriftstellerpersönlichkeiten problematisch; für Gunkel ergänzten sie sich, für seine Leser aber trat, den Besprechungen nach zu schließen, der von Gunkel eingebrachte Gattungsfokus zu stark in den Vordergrund.
Karl Buddes Darstellung der Literaturgeschichte war für ein breiteres Publikum konzipiert (1906). Doch Budde gelangte nicht über eine Zusammenfassung einleitungswissenschaftlicher Ergebnisse heraus, das Buch ist ein Abschluss seiner eigenen, entstehungsgeschichtlich ausgerichteten Arbeiten, markiert aber keinen wissenschaftsgeschichtlichen Neuanfang.
Im englischsprachigen Raum legte Harlan Creelman 1917 eine chronologisch geordnete Einleitung in das Alte Testament vor. Ihr Anspruch auf Innovation war allerdings vergleichsweise bescheiden: Sie richtete sich an ein breiteres Publikum und verzichtete weitestgehend auf historische Urteilsbildung. Sie verstand sich vielmehr als eine Synthese bisheriger Forschung am Alten Testament. Das Gesamtbild von Creelmans Darstellung blieb stark den biblischen Vorgaben verhaftet.
Die 1919 von Johannes Meinhold verfasste und in der Folgezeit mehrfach aufgelegte Einleitung verstand sich zwar nicht als Literaturgeschichte, war aber de facto doch mehr als eine herkömmliche Einleitung, da sie zum einen die Literatur des Alten Testaments nach Epochen – und nicht nach der kanonischen Abfolge – besprach und zum anderen auch jeweils eigene Abschnitte zur Darstellung der historischen Epochen selbst bot.
Recht einflussreich war die literaturgeschichtliche Darstellung von Julius A. Bewer (1922), eines in Deutschland geborenen Alttestamentlers am Union Theological Seminary in New York, der der amerikanischen Forschung wichtige Erkenntnisse der deutschsprachigen historischen Bibelkritik und der Gattungsforschung vermittelte.
Die im deutschen Sprachraum des 20. Jahrhunderts vielleicht bekannteste und ausgearbeitetste Darstellung einer Literaturgeschichte stammt von Johannes Hempel aus dem Jahr 1930. Sie gliedert sich in ein einleitendes Kapitel („Voraussetzungen“, 1–23), das die Forschungsgeschichte der Einleitungswissenschaft mit besonderer Emphase auf Wellhausen sowie die kulturgeographischen Determinanten behandelt, und zwei Hauptteile („Formen“, 24–101, und „Der Gang der Geschichte“, 102–194), die deutlich den Einfluss Gunkels zeigen: Der Untersuchungsgegenstand wird zunächst formgeschichtlich und erst in einem zweiten Schritt literaturgeschichtlich angegangen. Zunächst behandelte Hempel die Gattungen der alttestamentlichen Literatur und ihre Geschichte, dann die konkreten Texte in ihrer historischen Abfolge. Bemerkenswert ist bei Hempel die Überzeugung von der kulturgeschichtlichen Vernetzung des Alten Testaments: „Die israelitische Literatur ist weithin nur als Glied der ‚altorientalischen Weltliteratur‘ verständlich“ (11). Doch bei aller Energie und Innovativität, die diesem Entwurf innewohnt, ist er doch nicht genrebildend geworden: Die alttestamentliche Literaturgeschichte blieb nach wie vor ein Randprojekt.
Aus der Mitte des 20. Jahrhunderts ist weiter die Literaturgeschichte von Adolphe Lods zu nennen (1950). Lods stellte einleitend in seiner Darstellung fest, dass die literaturgeschichtliche Fragestellung in der alttestamentlichen Wissenschaft bislang ein Schattendasein fristete (11). Er identifizierte im Wesentlichen drei Gründe dafür. Zunächst stelle der „caractère composite des livres actuels“ (11) ein elementares Problem dar, das weiter dadurch verschärft werde, dass die Forschung den Werdegang dieser Bücher oft nur auf unsichere Weise rekonstruieren könne (13). Schließlich sei darauf hinzuweisen „que nous ne possédons de cette littérature que des fragments minimes“ (14). Doch dürften diese Aspekte nach Lods nicht dazu verleiten, die literaturgeschichtliche Fragestellung aufzugeben, denn es reiche nicht zu, den „caractère composite des livres actuels“ lediglich literarkritisch zu analysieren, sondern der literarische Werdegang der alttestamentlichen Bücher müsse auch synthetisch rekonstruiert werden. Was die Unsicherheiten in der literarhistorischen Rekonstruktion betrifft, so betonte Lods auch hier, dass bei allen Schwierigkeiten im Einzelnen die grundsätzlichen Befunde durchaus erhebbar seien, und auch die Fragmentarität der althebräischen Literatur unterscheide sie nicht grundsätzlich von jener der griechischen oder lateinischen. Literarkritisch war Lods von Wellhausen beeinflusst, religionsgeschichtlich von Greßmann, entsprechend folgte er der Neueren Urkundenhypothese im Zuschnitt Wellhausens und betont die religionsgeschichtliche Kontextualisierung der althebräischen Literatur. An Lods’ Darstellung sind drei wesentliche Eigenarten hervorzuheben. Zum einen fällt der späte Einsatzpunkt auf: Zwar mit Blick zurück auf frühe poetische Stücke und mündliche Traditionen, begann Lods erst mit der Assyrerzeit. Damit ist er eigentümlich modern, rechnet doch die neuere Forschung erst von dieser Zeit an mit einer so weit entwickelten Schriftkultur im antiken Israel, die auch größere Texte hervorbringen kann. Dann wird bei Lods, zumindest in einigen Bereichen, deutlich das Bemühen greifbar, intertextuelle Einflüsse zu thematisieren. So behandelte er etwa eigens die prophetischen Einflüsse auf Zusätze in J oder in E (305–323). Schließlich finden sich bei ihm breite Erörterungen zu Parallelerscheinungen aus der altorientalischen Literatur. Lods’ Buch war also durchaus zukunftsweisend, doch als französischsprachiger Protestant blieb Lods sowohl im eigenen Land wie auch außerhalb wenig gehört.
Vom Beginn der fünfziger Jahre bis in die achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts wurde es noch stiller um das Projekt einer alttestamentlichen Literaturgeschichte. Klaus Koch konnte 1964 feststellen, dass „das Unternehmen einer Literaturgeschichte mit Gunkels Tod sang- und klanglos unterging und gegenwärtig völlig vergessen ist“ (Koch 1964, 114). Der Begriff „Literaturgeschichte“ tauchte kaum auf, es entstanden auch keine neue Synthesen, und dies in einer Zeit, die jedenfalls in der deutschsprachigen protestantischen Theologie als eine Blütezeit der alttestamentlichen Wissenschaft gilt (Ebeling 1972, 26–27). Vermutlich sind verschiedene Faktoren für diesen doch auffälligen Befund verantwortlich: Zum einen stand die literaturgeschichtliche Fragestellung auch in den Literaturwissenschaften damals am Rande des Interesses. So hielt etwa Jauss in seiner Konstanzer Antrittsvorlesung 1967 fest:
Literaturgeschichte ist in unserer Zeit mehr und mehr, aber keineswegs unverdient in Verruf gekommen. Die Geschichte dieser ehrwürdigen Disziplin beschreibt in den letzten 150 Jahren unverkennbar den Weg eines stetigen Niedergangs. Ihre Gipfelleistungen gehören allesamt in das 19. Jahrhundert. Die Geschichte einer Nationalliteratur zu schreiben, galt zu den Zeiten von Gervinus und Scherer, De Sanctis und Lanson als das krönende Lebenswerk des Philologen … Dieser Höhenweg ist heute schon eine ferne Erinnerung. Die überkommene Form der Literaturgeschichte fristet im geistigen Leben unserer Gegenwart nur mehr ein kümmerliches Dasein. (Jauss, 21970, 144)
En vogue war vielmehr die „werkimmanente Interpretation“ etwa im Sinne Emil Staigers (1955). Weiter stand die deutschsprachige protestantische Theologie mitsamt den Bibelwissenschaften deutlich unter dem Einfluss der Kerygmatheologie, für die die literaturgeschichtliche Fragestellung von untergeordnetem Interesse war. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass nach dem Krieg eine Vielzahl von Einleitungen in das Alte Testament entstand, deren innerer, offenbar historisch inspirierter Aufbau namentlich im Bereich der Prophetenbücher leicht vom kanonischen Aufbau des Alten Testaments abwich, so dass sie gleichzeitig als Funktionsäquivalente für literaturgeschichtliche Darstellungen dienen konnten (vgl. Anderson 1957; Soggin 1968/69; Schmidt 1979). Selbst die epochemachende Theologie von Rads (1957/1960), in einer frühen Rezension sogar als Einleitung höherer Ordnung charakterisiert (Keller 1958; vgl. von Rad 1957, 7), lässt sich mit Vorbehalten hier einordnen. Ein Bedarf an einer eigenen Literaturgeschichte kam so kaum auf. Möglich und denkbar war dieses Verfahren in der Darstellung einer alttestamentlichen Einleitung allerdings nur so lange, als man von einer weitgehenden Konkordanz der biblischen Darstellung und des historischen Verlaufs der Geschichte Israels ausgehen konnte. Namentlich die Geschichtsbücher Genesis bis 2. Könige galten – vor allem was die Epochenfolge Erzväter, Exodus, Landnahme, Richterzeit, Königtum betrifft – als grundsätzlich vertrauenswürdig, so dass Einleitung und Literaturgeschichte in diesem Bereich parallel gehen konnten. Die Propheten mussten geringfügig umgruppiert werden, das betraf vor allem die Einordnung der drei „großen“ Propheten Jesaja, Jeremia und Ezechiel in ihre historischen Zeiten, während die Schriften generell als Ausdruck nachexilischer Frömmigkeit und Theologie interpretiert werden konnten. Dieses harmonistische Verständnis von Bibel und Literaturgeschichte, das sich auch in der Verhältnisbestimmung von Bibel und Geschichte Israels wiederfinden lässt, kann mit Manfred Weippert als „subdeuteronomistisch“ bezeichnet werden (1993, 73; vgl. Schmid 2018a). Vermutlich ist gerade dieses heute problematisch gewordene Konkordanzmodell für die Blüte alttestamentlicher Wissenschaft zwischen 1950 und 1980 mitverantwortlich gewesen.
Eine gewisse Ausnahme unter den literaturgeschichtlich modifizierten Einleitungen bildete Norman Gottwalds soziohistorische Interpretation des Alten Testaments 1985. Er bemühte sich zwar um eine historische Darstellung der alttestamentlichen Literatur mit breit ausladender Darstellung der vorstaatlichen Traditionen, die aber einem gewissen Biblizismus erlag und gleichzeitig aufgrund seiner eigenwilligen marxistischen Theorievorgaben wenig Wirkung entfaltete.
Eine eigentliche Literaturgeschichte ist dann erst wieder 1989 angegangen worden. Georg Fohrers knapper Abriss nannte seine Vorgänger, hielt diese aber für unzureichend: „Jedoch fehlten vor allem die Formkritik, welche die Redeformen und Gattungen untersucht, die Überlieferungskritik, die nach der Vorgeschichte der Schriften fragt, und die Redaktionskritik, die sich mit der Bearbeitung der schriftlichen Überlieferung befaßt“ (307 Anm. 2). Für Fohrer waren die bisherigen Entwürfe methodisch zu einseitig, zu sehr literarkritisch ausgerichtet – unter Ausblendung der weiteren exegetischen Methoden. Der Vorwurf ist zwar sehr pauschal formuliert, aber nicht ganz unzutreffend. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob damit das wichtigste Problem in der Geschichte der Disziplin „Literaturgeschichte des Alten Testaments“ benannt ist. Fohrers Kritik zielte allein auf die einleitungswissenschaftlichen Defizienzen der von ihm kritisierten Darstellungen, doch er formulierte für eine Literaturgeschichte des Alten Testaments keine grundsätzlich andersartigen Erfordernisse als für die Einleitungswissenschaft. Entsprechend blieb seine Literaturgeschichte eine chronologisch geordnete Einleitung in das Alte Testament, ohne diachrone und synchrone Textrelationen deutlich zu machen.
Nicht lange nach Fohrers Buch veröffentlichte Otto Kaiser seinen Artikel zur Literaturgeschichte des Alten Testaments in der Theologischen Realenzyklopädie (1991). Für ihn bildet die „Literaturgeschichte des Alten Testaments die notwendige Ergänzung der analytischen Einleitungswissenschaft, deren Ergebnisse sie aufnimmt und im organischen Zusammenhang mit der politischen, sozialen, kulturellen und vor allem religiösen Geschichte Israels und des frühen Judentums darstellt“ (306). Umso erstaunlicher ist, dass Kaiser dieses Programm in seiner materialen Skizze nicht einlöste, sondern im Wesentlichen einen Kurzabriss einer Einleitung in das Alte Testament gab, die dem Kanon entlangging. Auch in seinem Sammelband, der den Begriff der Literaturgeschichte im Titel trägt (Kaiser 2000b; vgl. auch Ruppert 1994 sowie Vriezen/van der Woude 2005), geht es hauptsächlich um einleitungswissenschaftliche Fragen.
Den bislang ambitioniertesten Versuch einer Literaturgeschichte nicht nur des Alten Testaments, sondern der gesamten christlichen Bibel hat sich das seit 1996 im Erscheinen begriffene, auf alttestamentlicher Seite von Walter Dietrich betreute Projekt „Biblische Enzyklopädie“ vorgenommen (Lemche 1996; Fritz 1996b; Dietrich 1997; Schoors 1998; Albertz 2001; Gerstenberger 2005; Haag 2003; W. Stegemann 2009; E. Stegemann/W. Stegemann 2019), das allerdings den Begriff der Literaturgeschichte nicht prominent verwendet.
Es handelt sich dabei um eine auf zwölf Bände angelegte Reihe, die in neun Bänden die Zeit und Literatur des Alten, und in drei weiteren Bänden diejenige des Neuen Testaments behandeln will. Die jeweiligen Teilbände sind nach einem einheitlichen Grundschema aufgebaut: Zunächst wird das biblische Bild der zu besprechenden Epoche dargestellt, dann folgt ein Versuch ihrer geschichtlichen Rekonstruktion sowie eine Darstellung der zeitgenössischen Literatur, den Abschluss bildet die Frage nach dem theologischen Ertrag. Schon diese Vorgabe in der Stoffdisposition zeigt, dass das Interaktionsverhältnis zwischen der Geschichte und ihrer Darstellung in der Bibel ganz im Zentrum der „Biblischen Enzyklopädie“ steht: Ausgehend von der biblischen Präsentation der Geschichte wird diese mit den historischen Erkenntnissen konfrontiert und literaturgeschichtlich sowie theologisch bedacht.
Für die historischen Fragen benutzen die Bände der Biblischen Enzyklopädie – entsprechend der hier besonders sich wandelnden Forschung – breit die neueren Ergebnisse aus der Bibelkritik, der Archäologie sowie der Altorientalistik, die allerdings nicht zu durchgängig kompatiblen Interpretationen führen. Was die Bibel von den Erzvätern Abraham, Isaak und Jakob oder Mose erzählt, ist für Lemche nicht Geschichte, sondern Fiktion, sind „schöne Geschichten“ (1996, 220), die nach seiner Meinung erst im „5., 4. oder sogar 3. Jahrhundert“ (217), also gut 1000 Jahre später als ihre biblische Ansetzung, entstanden sind. Schoors datiert die Anfänge der Erzelterngeschichte immerhin in das 8. Jahrhundert (176–177), während Dietrich für „Teile der Väter-, jedenfalls aber für die Mosegeschichte“ Entstehungszeiten noch vor der frühen Königszeit vermutet, „bei der Urgeschichte und erst recht beim Sinai“ seien sogar vorstaatliche Vorformen „kaum auszuschließen“ (1997, 228). Den Leserinnen und Lesern der „Biblischen Enzyklopädie“ werden so einige Kohärenzprobleme zugemutet, die zwar durchaus die Disparatheit der gegenwärtigen Diskussionslage widerspiegeln, jedoch nicht argumentativ aufeinander abgestimmt sind.
Die Aufteilung der Epochen in den Bänden der „Biblischen Enzyklopädie“ gibt eine grobe historische Leitlinie ab, die im Wesentlichen dem Geschichtsbild der Bibel selbst folgt und damit – jedenfalls für diese Epochenfolge – eine grundsätzliche Konkordanz zwischen Bibel und Historie insinuiert, die aber gerade in Frage steht: Sind etwa die Erzväter- und die Richterzeit tatsächlich zwei aufeinanderfolgende Epochen, wie es die Bibel will, oder handelt es sich, gerade historisch gesehen, nicht viel eher um zwei Darstellungen, die denselben Zeitraum, aber aus unterschiedlichen Blickwinkeln betreffen?
Auch wäre zu fragen, gerade wenn man so sehr Wert auf Fragen der Entstehung der biblischen Literatur legt, ob die Gewichte in der Epochenaufteilung richtig verteilt sind: Von neun alttestamentlichen Bänden behandeln deren sechs die vorexilische Zeit. Angesichts des Befundes, dass es kein einziges Buch in der Bibel gibt, das in vorexilischer Gestalt auf uns gekommen ist, muss die relative Geringschätzung der in einem einzigen Band abgehandelten Perserzeit erstaunen, die vielleicht als die wichtigste Epoche literarischer Tätigkeit im Alten Testament zu gelten hat.
Die „Biblische Enzyklopädie“ ist ein Projekt, das zweifellos an der Zeit ist, doch der „subdeuteronomistische“ Gesamtaufriss und die mitunter fragmentarische Kohärenz der verschiedenen Bände lassen Fragen offen.
Weiter ist der kurze Entwurf von Christoph Levin (2001) zu nennen, der sich als eine integrierte Literatur-, Religions- und Theologiegeschichte versteht. Levins Credo besteht darin, dass das Alte Testament ein Literaturdokument des frühen Judentums sei; vorperserzeitliche Texte enthalte es nur noch in „Reste[n]“ (27). Die Knappheit der Darstellung und die umfassende Ausrichtung machen es dem Büchlein allerdings unmöglich, literaturgeschichtliche Wechselwirkungen zwischen den unterschiedlichen Positionen des Alten Testaments deutlich herauszuarbeiten.
Schließlich hat Reinhard Kratz (2013) eine Skizze vorgelegt, die einen früheren Entwurf (2006c) aufnimmt und ihn im Zusammenhang mit einem Abriss der Geschichte Israels und der Frage von Archiven im antiken Israel präsentiert.
Man erkennt aus diesem forschungsgeschichtlichen Überblick, dass das Projekt einer Literaturgeschichte des Alten Testaments zum einen nicht sehr häufig angegangen worden ist – für neuere neutestamentliche Gegenstücke lässt sich auf Köster (1971; 1980, eigenartigerweise unter dem Titel „Einleitung“ erschienen), Vielhauer (1975), Strecker (1992) und Theißen (2007; vgl. dazu Wischmeyer 2010) verweisen – und zum anderen in den meisten dieser Zugänge oft kaum mehr unternommen worden ist, als eine Einleitung des Alten Testaments statt in kanonischer nun in historischer Ordnung abzubilden. Eben dadurch verpasst aber eine solche Darstellung ihre genuin literaturgeschichtliche Pointe: Wie verhalten sich denn nun zeitgleiche Texte und Schriften in ihrem historischen Kontext sachlich zueinander? Nehmen sie aufeinander Bezug? Welche Positionen entwickeln sich aus welchen literaturgeschichtlichen Vorgaben? Eine Literaturgeschichte des Alten Testaments ist nur dann sinnvoll, wenn sie einen Mehrwert gegenüber der – für sich genommen vollkommen legitimen, aber eben anders perspektivierten – einleitungswissenschaftlichen Diskussion erbringt.