Читать книгу Literaturgeschichte des Alten Testaments - Konrad Schmid - Страница 14

8.Grundlagen, Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen der historischen Rekonstruktion

Оглавление

Das Alte Testament ist kein Buch, sondern eine Bibliothek, und die „Bücher“ in dieser Bibliothek stellen keine Bücher im modernen Sinn dar, die auf je einen Autor (oder eine Autorin? vgl. Schroer 2003) zurückgehen würden. Entsprechend altorientalischer Gepflogenheit handelt es sich bei den „Büchern“ des Alten Testaments um Traditions- und nicht um Autorenliteratur (Tigay 1985; Blenkinsopp 2006, 1–4; van der Toorn 2007; Mroczek 2016; Blum 2019). Dieser Umstand ist der Bibel selbst bekannt und wird von ihr auch explizit thematisiert. Ein besonders deutliches Beispiel findet sich in der Erzählung Jeremia 36, die von der Herstellung einer zweiten Rolle mit Worten von Jeremia berichtet, nachdem der König Jojakim eine erste Rolle verbrannt hatte:

Jeremia 36:

32 Und Jeremia nahm eine andere Rolle und gab sie Baruch, dem Sohn des Nerija, dem Schreiber, und nach dem Diktat Jeremias schrieb dieser darauf alle Worte der Schrift, die Jojakim, der König von Juda, im Feuer verbrannt hatte, und viele ähnliche Worte wurden ihnen hinzugefügt.

Die passivische Formulierung schließt zwar nicht aus, dass diese „ähnlichen Worte“ von Jeremia stammen, öffnet aber doch deutlich den Horizont auch für die Möglichkeit nachjeremianischer Fortschreibungen. Im Jeremiabuch kann man also nachlesen, dass dieses nicht von Jeremia allein stammt, sondern später in beträchtlichem Ausmaß weiter fortgeschrieben worden ist.

Ein ähnliches Beispiel für Fortschreibungsvorgänge, die in der Bibel explizit gemacht werden, findet sich in Jes 16,13–14. Nach einer Klage über das Leid des Nachbarvolks Moab findet sich folgende Abschlussnotiz:

Jesaja 16:

13 Dies ist das Wort, das JHWH damals gesprochen hat über Moab.

Sie wird gefolgt von folgender Erläuterung:

Jesaja 16:

14 Nun aber spricht JHWH: Binnen dreier Jahre, den Jahren eines Söldners gleich, wird die Herrlichkeit Moabs verachtet sein, bei all dem gewaltigen Tosen, und der Rest wird winzig klein sein, machtlos.

Jes 16,13–14 versucht also, aus einer veränderten zeitgeschichtlichen Situation heraus, Moab nicht mehr empathisch, sondern kritisch zu beurteilen. Dass es sich bei diesem Stück um eine Fortschreibung handelt, zeigt es selbst durch die Kombination von abschließender Unterschrift (16,13) und Neudeutung (16,14) an.

Diesen Befunden korrespondiert, dass der erste namentlich bekannte Autor eines biblischen Buches erst um 180 v. Chr. mit Jesus Sirach bezeugt ist (Sir 50,27). Ansätze zu einem Autorenbewusstsein lassen sich bereits etwas früher aus der Verwendung des „Ich“ bei Kohelet erkennen (vgl. auch Koh 12,9–10, siehe Kaiser 2000b, 13–14; Höffken 1985). Natürlich wird eine Reihe von alttestamentlichen Büchern in dem jeweiligen Incipit, also dem einleitenden Buchvers, bestimmten Personen zugeschrieben, doch handelt es sich hier nicht um historische Autorenangaben, sondern um Angaben der Autorität, auf die sich die in diesem Buch vorliegenden Überlieferungen zurückbeziehen (vgl. Schniedewind 2004, 7–11; Wyrick 2004; Schmid 2007a; van der Toorn 2007, 27–49). So stellt sich auch die Verschriftungsszene in Jeremia 36 – wie legendarisch diese nun sein mag oder auch nicht – die Sachlage so vor, dass Jeremia kein Wort seines Buches selbst aufgeschrieben hat. Die „Worte Jeremias“ im Jeremiabuch sind nicht vom „Autor“ Jeremia, sondern von Jeremias Schreiber Baruch niedergeschrieben worden. Jeremia ist also nicht der Autor, sondern die Autorität seines Buches (vgl. Knauf 1998).

Insgesamt dürften die Texte des Alten Testaments – lässt man einmal die in bestimmten Überlieferungsbereichen nach wie vor wahrscheinlichen mündlichen Vorstufen beiseite (vgl. Kirkpatrick 1988; Niditch 1996) – über einen Zeitraum von knapp 800 Jahren entstanden sein.

Einen literarhistorisch einseitig hervorgehobenen Akzent auf die vorexilische Zeit legen Finkelstein/Silberman 2002 und Schniedewind 2004. Natürlich spielt besonders das 7. Jahrhundert v. Chr. eine wichtige Rolle in der literarischen Formierung des Alten Testaments, doch es kann keine Rede davon sein, dass es in dieser Epoche bereits im Wesentlichen abgeschlossen vorlag. Die historisch-kritische Bibelwissenschaft hat genügend Indizien gesammelt, dass die alttestamentlichen Bücher in ihrer vorliegenden Gestalt deutlich von der Theologie des perserzeitlichen und hellenistischen Judentums geprägt sind (vgl. z. B. Levin 2001; Gertz 2019, 193–533; Kratz 2013), was die Inkorporierung älteren Materials nicht ausschließt, gleichzeitig aber auch deutlich macht, dass die entscheidenden Formierungsvorgänge der alttestamentlichen Literatur in eine spätere Zeit als das 7. Jahrhundert v. Chr. gehören.

Die ältesten literarisch fixierten Texte des Alten Testaments stammen wahrscheinlich aus der frühen Königszeit (Jamieson-Drake 1991; Niemann 1998) – ihre mündliche Vorgeschichte mag allerdings erheblich älter sein –, die jüngsten (datierbaren) Texte finden sich im makkabäerzeitlichen Danielbuch, in der Weltzeitordnung (d. h. in der sich vor allem aus den Lebenszeiten der Vorväter ergebenden Chronologie der Weltgeschichte) in den Geschichtsbüchern, in einigen vielleicht hasmonäerzeitlichen Psalmen sowie im masoretischen Sondergut des Jeremiabuches (vgl. Jer 33,14–26). Aus den Schriftfunden von Qumran (vgl. Flint 2001) gewinnt man den Eindruck, dass das Alte Testament um 100 v. Chr., nicht in Bezug auf seinen Buchstaben, wohl aber, was seinen Inhalt betrifft, im Wesentlichen „fertig“ vorlag. Deutlich ist in jedem Fall: Die allermeisten Bücher des Alten Testaments sind Kompositliteratur und als solche über längere Zeit hinweg auf ihren jetzigen Textbestand hin angewachsen. Jedenfalls ist kein Buch des Alten Testaments in seiner vorexilischen, königszeitlichen Gestalt erhalten geblieben. Das vorliegende Alte Testament ist ein Produkt des perserzeitlichen und hellenistischen Judentums.

Wie nun lassen sich literarische Vorstufen alttestamentlicher Bücher innerhalb ihrer Eckdaten rekonstruieren? Die alttestamentliche Wissenschaft hat hierzu ein differenziertes Instrumentarium entwickelt, das hier nicht im Einzelnen darzustellen ist (vgl. Steck 141999; Becker 2005b). Einige Bemerkungen zu ausgewählten Problemen sind jedoch angebracht. Zunächst ist festzuhalten, dass keine alttestamentlichen Texte aus alttestamentlicher Zeit erhalten geblieben sind. Auch die Handschriften aus Qumran sind nachalttestamentlich (die ältesten Danielmanuskripte, 4QDanc.e, sind allerdings lediglich ein halbes Jahrhundert jünger als der Abschluss des Buches, liegen also noch recht nahe bei den ersten Autographen des Buches, vgl. Ulrich 2000, 171), zudem sind sie für die Mehrzahl der alttestamentlichen Schriften nur sehr fragmentarisch enthalten. Der älteste, vollständig erhaltene Textzeuge des Alten Testaments ist nach wie vor der Codex Leningradensis (B 19A) aus dem Jahr 1008 n. Chr.

Diese Überlieferungslage bringt es mit sich, dass Vorstufenrekonstruktionen weitestgehend von inneren Argumenten her begründet werden müssen. Traditionellerweise eruierte die alttestamentliche Literarkritik unterschiedliche Wachstumsstufen der biblischen Bücher vor allem aufgrund der Beobachtung von Dubletten, Brüchen, Spannungen und Widersprüchen im Text (vgl. Carr 1996b; Van Seters 1999, 20–57). Ausschließlich formal-textimmanente Verfahrensweisen haben sich jedoch als unzulänglich erwiesen. Sie stehen in der Gefahr, die literaturästhetischen Ideale aus der Gründerzeit der historisch-kritischen Bibelwissenschaft zu privilegieren (die textgenetische Auswertung etwa von literarischen Redundanzen darf nicht mechanisch vorgenommen werden, sondern ist ein in historischer Perspektive zu prüfender Vorgang [Tigay 1985; Metso 1997]).

Hinzu tritt eine Überlegung aufgrund einer Wahrscheinlichkeitsrechnung: Selbst wenn man damit rechnen dürfte, dass die Rekonstruktion einer literarischen Vorstufe eine Wahrscheinlichkeit von 80 % besitzt, so sinkt diese Rate für Stufe II auf 64 %, für Stufe III auf 51,2 %, während ab Stufe IV der Wert unter 50 % sinkt, das heißt die Rekonstruktion arbiträr wird (Knauf 2005a).

Deshalb sind bei der Rekonstruktion literarischer Vorstufen zusätzlich zu den sprachlichen Beobachtungen theologisch-konzeptionelle Überlegungen miteinzubringen; Literarkritik ist also mit theologiegeschichtlichen Überlegungen zu koppeln. In den Lehrbüchern wird diesbezüglich von der Interdependenz der Methoden gesprochen, was an sich einen selbstverständlichen Aspekt exegetischer Arbeit darstellt, aber gleichwohl in praxi oft vernachlässigt wird.

Namentlich für eine Darstellung alttestamentlicher Literaturgeschichte kommt es weiter entscheidend darauf an, literarische Wachstumsstufen sachlich zu gewichten. Das meint natürlich nicht die Bewertung von theologischen Positionen im Alten Testament aus heutiger Sicht, sondern sachliche Gewichtung bedeutet die Identifizierung theologischer Positionen im Alten Testament, die sich historisch als diskussionsbestimmend erwiesen haben.

Schließlich ist auf die Prüffunktion der Archäologie der südlichen Levante hinzuweisen: Die seit den 1980er Jahren in großem Maß bereitgestellten epigraphischen und vor allem ikonographischen Primärzeugnisse (Weippert 1988; Mazar 1992; Keel/Uehlinger 52001; Zevit 2001; Stern 2001; Hartenstein 2003a; Vieweger 2003; 2019a–c; Köckert 2005, vgl. zur Diskussion Uehlinger 1995, 59–60; Schaper 2000, 18–22; Uehlinger 2001; Keel 2007, 152–153) der altisraelitischen Religion zeigen in ihrer historischen Einordnung gewisse Möglichkeiten und Grenzen dessen auf, was zu einer bestimmen Epoche literatur- und theologiegeschichtlich vorstellbar oder eben nicht vorstellbar ist. Von der Archäologie her lässt sich zwar keine Literaturgeschichte schreiben – das ikonographische Material ist stumm und das epigraphische zu dürftig (Renz/Röllig 1995–2003) –, eine Literaturgeschichte darf aber auch nicht an den von der Archäologie vorgewiesenen kulturgeschichtlichen Rahmenbedingungen vorbeigeschrieben werden.

Literaturgeschichte des Alten Testaments

Подняться наверх