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3.Literatursoziologische Aspekte der Literaturproduktion und -rezeption

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Für das Verständnis des literaturgeschichtlichen Werdens des Alten Testaments ist es unabdingbar, sich den Umstand vor Augen zu führen, dass dessen Texte im Rahmen vergleichsweise enger Zirkel, die des Lesens und Schreibens in ausreichendem Maß kundig waren, innerhalb einer weitgehend analphabetischen Gesellschaft produziert und rezipiert worden sind (Niditch 1996; Ben Zvi 1997; Young 1998; 2005; Niemann 1998; van der Toorn 2007, 10–11; für die Spätzeit vgl. Alexander 2003; Hezser 2001; zur Medienfrage Frevel 2005). Vergleichsmaterial aus Griechenland und Ägypten deutet in dieselbe Richtung (Baines 1983; Haran 1988; Harris 1989; anders Lemaire 2001; Millard 1985; 1995; Hess 2002; 2006). Wenn so zwar die Lese- und Schreibfähigkeit auf einen kleinen Teil der Bevölkerung beschränkt war, so belegt umgekehrt die Existenz eines professionellen Schreiberstands nicht die vollkommene Illiteralität der Restbevölkerung. Es ist vielmehr zu differenzieren: Es gibt keine genaue Grenze zwischen Literarität und Illiteralität; das Beherrschen von Lesen und Schreiben war damals wie heute ein gradueller Prozess. Eine kleine Liefernotiz für Güter, wie sie etwa die Samaria-Ostraka bezeugen, konnte zweifellos von einem größeren Kreis rezipiert werden als die Siloah-Inschrift oder gar ein Prophetenbuch.

Entgegen dem Selbstzeugnis des Alten Testaments, das bereits kleinere Abschnitte des Pentateuch auf Mose als Schreiber zurückführt (vgl. Ex 17,14; 24,4; 34,28; Num 33,2), scheint sich die Schrift- und Schreibkultur in Israel erst seit dem 9., in Juda erst seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. in einem Maß ausgeprägt zu haben, dass mit der Herstellung von umfangreicheren Literaturwerken gerechnet werden kann: „Die hebräische Literatur aber erblühte erst in dieser Periode [sc. in dem Jahrhundert von 850–750]“ (Wellhausen 1880/1965, 40). Darauf weist, neben allgemeinen Befunden zur kulturgeschichtlichen Entwicklung der südlichen Levante, die sich mit der Frage der Schriftkultur verbinden lassen (Jamieson-Drake 1991; vgl. Vieweger 2019b), die historische Distribution der althebräischen Inschriften, die keine fundstatistischen Gründe hat, sondern offenbar etwas mit dem Aufkommen von Literalität zu tun hat.

Anzahl althebräischer Inschriften in Israel (Niemann 1998, vgl. Lemaire 2004):

10. Jahrhundert 4 Inschriften
9. Jahrhundert 18 Inschriften
erste Hälfte 8. Jahrhundert 16 Inschriften
zweite Hälfte 8. Jahrhundert 129 Inschriften
erste Hälfte 7. Jahrhundert 50 Inschriften
zweite Hälfte 7. Jahrhundert 52 Inschriften
Anfang 6. Jahrhundert 65 Inschriften

Der Umkehrschluss, dass aufgrund der in der persischen Zeit fehlenden hebräischen Inschriften anzunehmen sei, dass das Alte Testament im Wesentlichen in der vorexilischen Zeit entstanden sei (Schniedewind 2004, 167–172), hat alle historische Wahrscheinlichkeit gegen sich. Da die perserzeitlichen Inschriften in der damaligen lingua franca, nämlich auf Aramäisch abgefasst sind, ist ihre Anzahl natürlich bedeutend größer als die der hebräischen Inschriften (vgl. Lemaire 2002; 2007). Grundsätzlich gesehen bestätigt so der numerische Befund der perserzeitlichen Inschriften eher die Betonung der Wichtigkeit der persischen Epoche für die Entstehung der alttestamentlichen Literatur, als dass er ihr entgegenstehen würde.

Konsultiert man die epigraphischen Funde aus dem frühen 1. vorchristlichen Jahrtausend, so wird schnell deutlich, dass im 10. und 9. Jahrhundert v. Chr. die kulturelle Entwicklung der Schrift und des Schreibens im Bereich von Israel und Juda noch nicht sehr weit vorangeschritten sein konnte. Allerdings ist zu bedenken, dass die meisten in dieser Zeit entstandenen Schriftstücke auf Materialien niedergeschrieben worden sind, die die Jahrhunderte nicht überlebt haben (besonders Papyrus), und dass die erhaltenen Inschriften, etwa auf Ostraka, die Schriftkultur nur gebrochen spiegeln.

Abb. 1: Der Gezer-Kalender (10. Jahrhundert v. Chr.)

Eines der ältesten Schriftdokumente aus dem antiken Israel ist der sogenannte Gezer-Kalender (siehe Abb. 1), der sich ins 10. Jahrhundert v. Chr. datieren lässt. Sein Inhalt lautet in Übersetzung (vgl. Weippert 2010, 225; am unteren linken Rand des Textes findet sich noch ein Personenname [„Abija“ oder „Abijahu“], der aber möglicherweise erst später hinzugesetzt wurde):

yrḥw ʾsp yrḥw z Zwei Monate des Einheimsens, zwei Monate der S…
rʿ yrḥw lqš …aat, zwei Monate der Spätsaat,
yrḥ ʿṣd pšt (ein) Monat des Heraus-/Abhackens des Flachses,
yrḥ qṣr śʿrm (ein) Monat der Gerstenernte,
yrḥ qṣrw kl (ein) Monat der Ernte und des Abmessens,
yrḥw zmr zwei Monate des Schneitelns,
yrḥ qṣ (ein) Monat der Obsternte.
ʾ by[h] Abihu

Es ist allerdings nicht ganz sicher, ob man diesen Text schon als hebräisches Dokument ansehen kann, denn seine Sprache zeigt starke Einflüsse des Phönizischen (Weippert 2010, 224). Sein Schriftbild zeigt die vergleichsweise rudimentäre Darstellung der Buchstaben.

Abb. 2: Krugscherbe aus Jerusalem (11./10. Jahrhundert v. Chr.)

Abb. 3: Baal-Inschrift aus Bet Schemesch (ca. 12. Jahrhundert v. Chr.)

Abb. 4: Ostrakon aus Khirbet Qeiyafa (ca. 10. Jahrhundert v. Chr.)

Vom Gezer-Kalender unterscheidet sich die Inschrift auf einem Krug, der in Jerusalem im Ophel-Areal gefunden wurde (siehe Abb. 2), noch deutlich: Sie stammt aus dem 11. oder 10. Jahrhundert v. Chr. und enthält acht Buchstaben (m, q, p, ḥ, n, m, ṣ, n), die Leserichtung ist allerdings nicht klar (Lehmann/Zernecke 2013, 437–450).

Ähnlich rätselhaft bleibt die sogenannte Baal-Inschrift aus Bet Schemesch in der Nähe von Jerusalem (siehe Abb. 3), deren Datierung sich auf das 12. Jahrhundert v. Chr. ansetzen lässt (McCarter 2011). Darin ist der Name „Baʿal“ zu lesen, doch der Rest der Inschrift ist nicht eindeutig entzifferbar. Das Schriftbild zeigt eine ähnlich ungeübte Schrift wie die Krug-Inschrift vom Ophel.

Ein Ostrakon, das man in Khirbet Qeiyafa, einer Ortslage über dem Elah-Tal in der Schefela, gefunden hat (siehe Abb. 4), wird in der Regel in das 10. Jahrhundert v. Chr. datiert (Schroer/Münger 2017). Obwohl verschiedene Übersetzungsvorschläge vorliegen, muss der Inhalt des Ostrakons nach wie vor als unklar gelten. Es lassen sich einige Wörter identifizieren, doch eine klare Lesung ist nicht möglich. Jedenfalls lassen sich aus diesem Textfund keine grundlegenden Folgerungen zur Entwicklung der Schriftkultur in Juda ableiten, zumal bestritten wird, ob Khirbet Qeiyafa überhaupt eine judäische Ortslage war.

Wichtiger in dieser Hinsicht ist das Abecedarium aus Tel Zayit in der judäischen Schefela (siehe Abb. 5), das sich in das 10. Jahrhundert v. Chr. datieren lässt (Carr 2008). Es enthält alle Buchstaben des hebräischen Alphabets, allerdings nicht in der später üblichen Reihenfolge: waw steht vor heʾ, ḥet vor zayin und lamed vor kaph. Diese Variationen in der Reihenfolge sind nicht ganz ohne Parallele. Zwar geht man davon aus, dass lamed vor kaph auf einen Fehler zurückgeht, die anderen beiden Differenzen sind aber aus anderen Abecedarien bekannt. Als Schreibübung lässt dieser Text auf einen Ausbildungskontext schließen, der für das ländliche Juda im 10. Jahrhundert v. Chr. bemerkenswert ist.

Ein weiterer wichtiger Fund für die Frage nach der Entwicklung der Schriftkultur ist die 1967 entdeckte Wandinschrift aus Tell Deir ʿAlla (siehe Abb. 6), einer kleinen Siedlung im Ostjordanland nahe der Mündung des Jabbok in den Jordan (Blum 2008a; 2008b; 2019). Der Text lässt sich archäologisch in das 9. Jahrhundert v. Chr. datieren. Aufgrund der Zerstörungen durch ein Erdbeben ist er nur noch fragmentarisch erhalten, doch es ist erkennbar, dass er den auch aus der Bibel bekannten „Bileam, Sohn des Beor“ erwähnt (vgl. Numeri 22–24). Es spricht vieles dafür, den Raum, in dem diese Wandinschrift entdeckt wurde, als Schreiberschule zu identifizieren; dies legen architektonische Parallelen zu der Anlage in Tell Deir ʿAlla nahe.

Abb. 5: Ausschnitt aus dem Abecedarium aus Tel Zayit (10. Jahrhundert v. Chr.)

Abb. 6: Bileam-Inschrift aus Tell Deir ʿAlla (9. Jahrhundert v. Chr.)

Da die Inschrift in einem Dialekt, der dem Aramäischen nahesteht, abgefasst ist und auch keine religionsgeschichtliche Nähe zu Israel und Juda zeigt, kann man davon ausgehen, dass diese Schule ein Außenposten von Aram war. Gleichwohl ist sie im Blick auf die Entwicklung und Einschätzung der Schriftkultur im antiken Israel von großer Bedeutung, da sie zeigt, dass bereits im 9. Jahrhundert v. Chr. auch in der politischen Peripherie die Abfassung recht umfangreicher Texte möglich gewesen ist.

In eine ähnliche Richtung deutet die sogenannte Mescha-Stele (siehe Abb. 7), die 1868 in Dibon, südlich des heutigen Amman, im Ostjordanland entdeckt wurde (Weippert 2010, 242–248). Sie lässt sich in das 9. Jahrhundert v. Chr. datieren. Auf einer Länge von 34 Zeilen gibt sie Auskunft über die Geschichte des Königtums Moab unter ihrem König Mescha, der auch in der Bibel erwähnt wird (2Kön 3,4). Die Mescha-Stele nennt ihrerseits König Omri von Israel sowie den Gott Israels, JHWH. Abgefasst ist die Stele auf Moabitisch, einer mit dem Althebräischen eng verwandten kanaanitischen Sprache.

Abb. 7: Mescha-Inschrift (9. Jahrhundert v. Chr.)

Eine Königsinschrift ist auch die Tel-Dan-Inschrift, die ebenfalls in das 9. Jahrhundert v. Chr. gehört (Athas 2003). Sie geht wahrscheinlich auf Hasaël von Damaskus zurück, der sich damit rühmt, die Könige Joram und Ahasja getötet zu haben, was in der Bibel allerdings Jehu (2Kön 9,14–28) zugeschrieben wird. Der Text ist in aramäischer Sprache geschrieben.

Abb. 8: Siloah-Inschrift (8. Jahrhundert v. Chr.)

Die erste eindeutig hebräische Inschrift aus dem antiken Israel und Juda ist die Siloah-Inschrift (siehe Abb. 8) aus dem späten 8. Jahrhundert v. Chr. (Weippert 2010, 328–329). Sie berichtet über den Durchstich des Siloah-Tunnels in Jerusalem, der unterirdischen Wasserleitung von der Gihon-Quelle zum Siloah-Teich, der von zwei Seiten her ausgehauen wurde. Die Datierung der Inschrift sowie des Tunnels ist allerdings unsicher. Sie hängt an der Zuweisung des Tunnels an Hiskia von Juda (2Kön 20,20; 2Chr 32,3–4.30; vgl. Sir 48,17), die archäologisch nicht unwahrscheinlich, aber auch nicht beweisbar ist (Knauf 2001c). Erstaunlich ist allerdings, dass diese Inschrift selbst weder einen König nennt noch an einem öffentlichen Ort angebracht wurde, also kaum einem offiziellen Kontext entstammt: Sie wurde 1880 sechs Meter vor der östlichen Öffnung des Tunnels entdeckt. Vielleicht ist sie auch ein Hinweis darauf, dass die Literalität der judäischen Bevölkerung nicht nur wie im Vorderen Orient üblich auf die Schreiberkaste beschränkt war.

Auf Basis des epigraphischen Befundes scheint es kulturgeschichtlich denkbar, dass die schriftliche Überlieferungsbildung der nachmaligen biblischen Texte im 9. oder 8. Jahrhundert v. Chr. einsetzte (vgl. Richelle 2016; siehe auch Blum 2019). Auch wenn man – etwa angesichts der Bileam-Inschrift aus Tell Deir ʿAlla – mit strikten geschichtlichen Grenzziehungen vorsichtig sein muss, so bleibt dieser Gesamteindruck doch signifikant, zumal er sich mit zwei weiteren Beobachtungen deckt.

Zum einen ist der Befund zu nennen, dass die Schriftprophetie in Israel und Juda zu keinem anderen Zeitpunkt aufkommt, als er auch für das Entstehen einer gewissen literalen Kultur in Anschlag gebracht werden muss, nämlich im 8. Jahrhundert v. Chr. Bereits Wellhausen bemerkte (1880/1965, 40), dass von Elia kein eigenes Buch überliefert worden ist, von Jesaja aber schon. Zwischen ihnen liegt das Aufkommen einer Schriftkultur, die immerhin so weite Kreise zog, dass diese Jesaja, aber auch Amos oder Hosea und/oder ihre Tradenten miteinschlossen.

Abb. 9: Brief des Jerusalemer Stadtkönigs Abdi-Ḥepa an den Pharao in Amarna (14. Jahrhundert v. Chr.)

Zum anderen konvergiert mit demselben Zeitpunkt der Umstand, dass erst von nun an Israel und etwas später Juda in altorientalischen Quellen als Staaten wahrgenommen werden (TUAT I, 367–409), was umgekehrt auf einen gewissen Entwicklungsstand, der nicht zuletzt eben auch die Schriftkultur betrifft, schließen lässt.

Es sind allerdings auch gegenläufige Befunde zu konstatieren: So stammen die umfangreichsten Inschriften aus der südlichen Levante – die Mescha-Stele (TUAT I, 646–650) und die Bileam-Inschrift von Tell Deir ʿAlla (TUAT II, 138–148) – zum einen eher aus der Frühzeit (9. bzw. 8./7. Jahrhundert v. Chr.) und zum anderen, geographisch gesehen, eher aus der Peripherie. Sie widerraten einer allzu engen und mechanischen Koppelung von fortgeschrittener Staatlichkeit und Schriftlichkeit, sind aber auch ihrerseits nicht als die allein gültigen Parameter anzusehen (vgl. Blum 2019).

Zudem ist in Rechnung zu stellen, dass Jerusalem bereits in der Bronzezeit eine vergleichsweise bedeutende Stadt war (Naʾaman 1992). Mit der sogenannten Amarnakorrespondenz (siehe Abb. 9) ist sogar ein intensiver Briefwechsel zwischen dem Jerusalemer Stadtkönig Abdi-Ḥepa mit dem Pharao in Amarna belegt, der von einem entwickelten Schreiberwesen in Jerusalem zeugt (Weippert 2010, 138–145).

Nicht nur Jerusalem, sondern die Levante insgesamt war in der Bronzezeit durch eine ausgeprägte Stadtkultur gekennzeichnet, in der es selbstredend auch Schreiber gab, die anhand von klassischen Texten ausgebildet wurden. Davon zeugt besonders eindrücklich ein Tontafelfragment des Gilgamesch-Epos aus dem 14. Jahrhundert v. Chr., das in Megiddo gefunden wurde (siehe Abb. 10). Bemerkenswerterweise zeigt eine Materialanalyse, dass es sich um einheimischen Ton handelt: Die Tafel wurde also nicht aus Mesopotamien importiert, sondern im Bereich des südlichen Juda hergestellt und deshalb auch aller Wahrscheinlichkeit nach im Land selbst beschrieben (Goren 2009).

Gleichwohl besteht keine direkte Kontinuität dieser bronzezeitlichen Kultur zum Schreiberwesen in Israel und Juda, das sich, wie gesehen, vom 9. und 8. Jahrhundert an zu entwickeln beginnt: Die Stadtkönigtümer in Kanaan gingen gegen Ende der Bronzezeit, im 11. Jahrhundert v. Chr., unter. In der Forschung des 20. Jahrhunderts brachte man diesen Niedergang oft mit dem sogenannten „Seevölkersturm“, dem Aufkommen der Philister, in Zusammenhang, während man heute eher mit verschiedenen, auch natürlichen Faktoren rechnet, etwa einer ausgedehnten Dürreperiode, die sich archäobotanisch nachweisen lässt (Fritz 1996b).

Abb. 10: Fragment des Gilgamesch-Epos aus Megiddo (14. Jahrhundert v. Chr.)

Für die Literaturproduktion im antiken Israel und Juda ist weiter von Bedeutung, dass die alttestamentlichen Bücher vermutlich in der Regel zunächst als Unikate abgefasst worden sind. Darauf deutet schon ihr Charakter als „agglutinierende“ Auslegungsliteratur. Es wäre kaum vorstellbar, wie ein mehrstufiger Fortschreibungsprozess an biblischen Büchern – ihn an sich zu bestreiten verbietet schon der Überlieferungsbefund – technisch vonstatten gegangen sein soll, wenn die Bücher in zahlreichen Kopien umgelaufen wären (vgl. Lohfink 1995; van der Toorn 2007, 146–147). Diese Vermutung lässt sich weiter stützen durch Nachrichten aus dem Alten Testament selber. Bezeichnend ist etwa die Bestimmung Dtn 17,18:

Deuteronomium 17:

18 Und wenn er [der König] dann auf seinem Königsthron sitzt, soll er sich die Abschrift dieser Weisung in ein Buch schreiben nach dem, das sich bei den levitischen Priestern befindet.

Dieser Text fordert nicht, dass sich der König eine Kopie des deuteronomischen Gesetzes machen soll, vielmehr geht er davon aus, dass die Abschrift, die der König herstellen lassen soll, die einzige Kopie neben dem Original bleibt. In eine ähnliche Richtung, die auf eine sehr limitierte Verbreitung alttestamentlicher Bücher in alttestamentlicher Zeit deutet, lassen sich 2Chr 17,7–9; Neh 8,1–2 und 2Makk 2,13–15 auswerten, wobei 2Makk 2,15 zeigt, dass im 2. Jahrhundert v. Chr. nicht einmal die jüdische Gemeinde in Alexandria eine vollständige Bibel besessen hat (van der Toorn 2007, 237–242; Lange 2007; vgl. auch Stemberger 1996). Die limitierte Verbreitung biblischer Schriften ist insofern nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, dass deren Herstellung ein aufwendiger Vorgang war und Schriftrollen entsprechend teuer waren. Eine neue Jesajarolle dürfte in rabbinischer Zeit etwa ein halbes Jahreseinkommen eines Schreibers ausgemacht haben (van der Toorn 2007, 16–20).

Wie es scheint, hat der Jerusalemer Tempel eine besondere Rolle bei der Literaturproduktion gespielt. Man kann damit rechnen, dass hier die Musterexemplare aufbewahrt waren, die ihrerseits den wieder fortgeschriebenen Abschriften zugrunde gelegt wurden (Klijn 1977; Beckwith 1988, 40–45; Sarna 1989; Schmid 1996a, 40–41 mit Anm. 204; Ben Zvi 1997; van der Kooij 1998). 2Makk 2,13–15 spricht von einer durch Nehemia gegründeten Bibliothek in Jerusalem, deren Bücherbestand („die Bücher über die Könige und der Propheten, die Schriften Davids und königliche Briefe über Weihegaben“, V. 13) aber – wie das auffällige Fehlen der Tora anzeigen könnte – offenbar nur eklektisch beschrieben oder aber im Sinne eines Ensembles von Enneateuch (die Tora wäre dann die Prophetie des Mose) und Hinteren Propheten sowie Psalmen charakterisiert wird (van der Toorn 2007, 237–240; Lange 2007). Es wird sich dabei um die Bibliothek des Jerusalemer Tempels gehandelt haben. Auch die Erzählung des Buchfundes im Tempel durch den Priester Hilkija (2Kön 22,3–20) weist auf die Vorstellung eines Bücherbestands im Tempel hin (vgl. 1Sam 10,25).

Wie umfangreich dieser Bücherbestand war, ist nur schwierig zu bestimmen. Die meisten Bibliotheken im Alten Orient waren Auswahlbibliotheken mit einer bescheidenen Sammlung von Texten (Pedersén 1998; Michalowski 2003; Lange 2006; van der Toorn 2007, 240; Kratz 2013). Für die Tempelbibliothek im ägyptischen Edfu sind etwa 35 Titel belegt (Wessetzky 1984). Diese Bibliotheken waren nicht öffentlich, sondern dem Tempel- und Schulbetrieb vorbehalten, so dass im Alten Orient zwischen Bibliothek und Archiv oft nicht strikt getrennt werden kann. Daneben gab es offenbar, allerdings sehr viel seltener, Sammelbibliotheken, die darauf ausgerichtet waren, möglichst alle erreichbaren Texte aufzunehmen. Beispiele hierfür sind die Bibliothek Assurbanipals, die Bibliothek von Alexandria, aber wahrscheinlich auch diejenige von Qumran. Welchen Umfang die Jerusalemer Bibliothek gehabt hat, ist nur schwierig zu bestimmen. 2Makk 2,13–15 weist darauf hin, dass sie wahrscheinlich mehr als nur die nachmalige alttestamentliche Literatur enthielt. Das ist auch von den Qumranschriften her weiter zu stützen: Es ist schwer vorstellbar, dass die weit über das Alte Testament hinausgreifende Bibliothek von Qumran größer gewesen sein soll als die Jerusalemer Tempelbibliothek (van der Toorn 2007, 241–242).

Es legt sich nicht nahe, mit einem homogenen Milieu von Jerusalemer Schriftgelehrten zu rechnen: Obwohl die für die Entstehung der alttestamentlichen Bücher verantwortlichen Kreise wohl sehr überschaubar und geographisch zumindest seit der Perserzeit zumeist in Jerusalem angesiedelt waren, scheinen sie doch theologisch eine vergleichsweise breite Spannbreite von Auffassungen vertreten zu haben. Darauf deuten jedenfalls die zum Teil nahezu konträren sachlichen Profile hin, die in den biblischen Büchern nun zusammenstehen.

Das historische Wissen um Schreiber und Schreiberschulen im antiken Israel ist sehr begrenzt (Schmid 2004a; Carr 2015; Schniedewind 2019; Vieweger 2019a, 69–71). Dass es professionelle Schreiber gab, ist durch die Bibel sowie erhaltene Siegel(abdrücke) (Avigad 1976; Keel 1995; viele der bei Avigad gesammelten Siegel[abdrücke] sind allerdings Fälschungen, vgl. van der Toorn 2007, 84; zum Problem insgesamt Uehlinger 2007a) von der Königszeit an hinreichend bezeugt (vgl. z. B. 2Sam 8,17; 1Kön 4,3; Jer 36,4.26.32; 45,1 [„Baruch, der Schreiber“]; Esr 7,6.12–26 [„Esra, der Schreiber des Gesetzes des Himmelsgottes“]; Neh 13,13; Sir 38,24–39,11; Mk 11,27–33; Mt 23,13–36). Die Bezeichnungen „Schreiber des Königs“ bzw. „königlicher Schreiber“ (2Kön 12,11; 2Chr 24,11, vgl. Est 3,12; 8,9) weisen darauf hin, dass eine solche Ausbildung wohl zunächst am königlichen Palast angesiedelt war, an dem es laut Jeremia 36,12 eine „Schreiberkammer“ gab. Auch militärische Belange sind von Schreibern dokumentiert worden, wie es das Amt eines „Schreibers des Heerführers“ (2Kön 25,19; Jer 52,25) belegt. Eine Untersuchung von sechzehn Ostraka militärischen Inhalts aus Arad, einem wichtigen Militärstützpunkt im Negev, vom Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. hat gezeigt, dass die Schreibfähigkeit im Militär damals offenbar recht verbreitet war. Die Analyse der Schrift ergibt nämlich, dass die Ostraka nicht auf einen einzelnen professionellen Schreiber zurückgehen, sondern dass mindestens sechs unterschiedliche Hände am Werk gewesen sein müssen (Faigenbaum-Golovin u. a. 2016). Es scheinen also mehrere Personen der militärischen Belegschaft des Schreibens kundig gewesen zu sein.

Die Funktion der Schreiber wandelte sich im Lauf der Geschichte: Sie wurden mehr und mehr zu Schriftgelehrten, die nicht nur für die (aufgrund der beschränkten Lebensdauer der Textträger immer wieder nötige) Aufzeichnung, sondern auch für die fortschreibende Auslegung der von ihnen tradierten Texte zuständig waren (vgl. Jer 36,32; van der Toorn 2007, 78–82).

Seit August Klostermann (1908; vgl. Lemaire 1981; Delkurt 1991, 43–48; Jamieson-Drake 1991; Heaton 1994; Davies 1995; Schams 1998; Knauf 2004; Carr 2015; Schniedewind 2019) rechnet man gerne damit, dass die Schreiber ihre Ausbildung in Schulen, die dem Tempel oder Palast angegliedert waren, genossen haben. Diese werden in der Bibel allerdings kaum je erwähnt (nur Sir 51,23; Apg 19,9), sondern müssen aus kulturgeschichtlichen Analogien erschlossen werden, was allerdings nicht grundsätzlich gegen diese These spricht (Knauf 1994, 225–237; Volk 2000; Gesche 2001; Vegge 2006). Eine strikte Trennung zwischen Tempel- und Palastschulen anzunehmen empfiehlt sich nicht: Der Tempel war keine eigenständige Institution, sondern vom Königshof abhängig (van der Toorn 2007, 82–89). Die talmudische Tradition kennt 480 Schulen in Jerusalem (jMeg 73b; vgl. van der Toorn 2007, 24), was allerdings übertrieben sein dürfte. Immerhin aber wird es seit der hellenistischen Zeit vermutlich eine Mehrzahl von Schulen, vor allem in Jerusalem, gegeben haben. Man muss dabei nicht notwendigerweise an eigene Gebäude solcher Schulen denken. Zentral war die Lehrer-Schüler-Beziehung (1Chr 25,8; Prov 5,12–14; Ps 119,99), die Unterweisung des Schülers kann in Räumen des Tempels oder in den Privaträumen des Lehrers stattgefunden haben (van der Toorn 2007, 89).

Einige Forscher halten gerade die Nichtbezeugung der Schulen im antiken Israel für signifikant und führen die Schreiberausbildung eher auf die Weitergabe des Wissens innerhalb von Schreiber-„Familien“ zurück. Wahrscheinlich wird man beide Annahmen, die sich nicht exklusiv zueinander verhalten, kombinieren müssen, wie sich etwa aufgrund der eng mit Königshof und Tempel verbundenen Jerusalemer Schreiberfamilie der Schafaniden (vgl. 2Kön 22,3; Jer 36,10–12) nahelegt.

Literaturgeschichte des Alten Testaments

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