Читать книгу Literaturgeschichte des Alten Testaments - Konrad Schmid - Страница 6
ОглавлениеSicut enim a perfecta scientia procul sumus,
levioris culpae arbitramur saltem parum,
quam omnino nihil dicere.
Hieronymus (Patrologia Latina, 25, 380B)
Vorwort
Die nachfolgende Darstellung zu Voraussetzungen, Hintergründen, Gang und Vernetzungen der alttestamentlichen Literaturgeschichte (zum Verhältnis von „Altem Testament“ und „Hebräischer Bibel“ siehe unten S. 31–35) – gemeint ist damit eine auf vor allem auf Entwicklungslinien und Bezugnahmen achtende Geschichte der im Alten Testament enthaltenen Literatur – will entsprechend ihrem Titel nicht mehr sein als eine Einführung. Sie verfolgt nicht den Zweck, ihren Gegenstand erschöpfend zu behandeln. Das ist in der gegenwärtig weitverzweigten Forschungslage kaum zu leisten, schon gar nicht von einem Einzelnen und innerhalb eines beschränkten Darstellungsrahmens. Gleichwohl versteht sich das Nachfolgende weder als pures Wagnis noch als bloßes Fragment. Die Diffusität der Forschungslage wird heute zwar gerne heraufbeschworen, aber in bestimmter Hinsicht oft auch überschätzt: Natürlich kennt die alttestamentliche Wissenschaft eine Vielzahl von untereinander oft schwer vermittelbaren Vorschlägen zur Genese und historischen Einordnung der Bücher und Texte des Alten Testaments, auf die eine Literaturgeschichte grundsätzlich in einem gewissen Mindestmaß abstellen können muss, doch scheinen in der jüngsten Forschungsdiskussion Konturen neuer Teilkonsense sichtbar zu werden, die sich doch auf einige wichtige Grundentscheidungen erstrecken und so das Projekt einer Literaturgeschichte des Alten Testaments keineswegs von vornherein unmöglich machen, vielmehr insofern fordern, als es für das Verstehen des Einzelnen ebenso des Ganzen bedarf, wie dessen Verständnis auf dem des Einzelnen beruht. In diesem Punkt sollte die Bibelwissenschaft, zu deren Tugenden die kritische Selbstreflexion nicht immer in ausreichendem Maß gehört, nicht hinter Schleiermacher zurückfallen.
Übergreifende Perspektiven sind also auch für die Diskussion von einzelexegetischen Problemen von Bedeutung und gerade das Einbringen literaturgeschichtlicher Überlegungen kann bestimmte Entscheidungen in diesem Bereich stützen oder auch unwahrscheinlich machen. In der gegenwärtigen Forschungssituation kann die literaturgeschichtliche Fragestellung nicht einfach das Zusammentragen bereits vorliegender einleitungswissenschaftlicher Erkenntnisse bedeuten, sondern sie ist gewissermaßen auch Teil, Fortführung und Absicherung dieser selbst. Nur eine ganz positivistische Zugangsweise zur historischen Bibelwissenschaft könnte fordern, dass das Projekt einer alttestamentlichen Literaturgeschichte erst dann angegangen werden könne, wenn die einzelexegetischen Ergebnisse auf dem Tisch liegen. Denn diese Ergebnisse sind in Tat und Wahrheit zunächst einmal Hypothesen, deren Plausibilität eben nicht nur von ihnen selbst, sondern auch von den zugehörigen Referenzrahmen abhängt. Wenn man für diese nicht einfach die forschungsgeschichtliche Gewöhnung einsetzen will, dann dispensiert nichts davon, auch übergreifenden Fragestellungen wie literaturgeschichtlichen Synthesemöglichkeiten Aufmerksamkeit zu schenken. Diese wären freilich ebenso positivistisch missverstanden, wenn sie nun als Determinanten der sie nur noch illustrierenden Einzelexegese ausgegeben würden. Beide Zugangsweisen müssen grundsätzlich revisionsoffen sein und die Frage der Verbindbarkeit ihrer vorläufigen Resultate bleibt eine fortwährende Aufgabe der Bibelwissenschaft.
So versteht sich dieser Beitrag weder als ein End-, noch als ein Anfangspunkt der literaturgeschichtlichen Forschung am Alten Testament, sondern als ein erster Zwischenhalt, der die literaturgeschichtliche Fragestellung als solche und einige vorläufige Perspektiven inhaltlicher Art dazu präsentieren will. Er ist weder willens noch in der Lage, den entstehungsgeschichtlichen Forschungsstand zum Alten Testament angemessen oder gar abschließend zu würdigen und zu synthetisieren. Es geht ihm vielmehr darum, die historisch-kritische Rekonstruktion des Gesprächs zwischen den wichtigsten seiner Texte bzw. Textkorpora als historische und theologische Aufgabe der wissenschaftlichen Erforschung des Alten Testaments zurückzugeben.
Nicht unproblematisch mag manchen Leserinnen und Lesern der durch die Gliederung des Buches erkennbare literaturgeschichtliche Raster erscheinen, der in verschiedener Weise Klassifizierungen vornimmt: Auf der allgemeinsten Ebene werden literaturgeschichtliche Epochen voneinander unterschieden (vorassyrische, assyrische, babylonische, persische, ptolemäische und seleukidische Zeit), eine zweite Ebene differenziert jeweils innerhalb dieser Epochen nach unterschiedlichen Literaturbereichen (kultische und weisheitliche, erzählende, prophetische und rechtliche Überlieferungen), während schließlich auf einer dritten Ebene die konkreten literarischen Werke und Positionen besprochen werden. Am kontroversesten werden die auf dieser dritten Ebene vorgenommenen Zuordnungen sein, während über Fug und Recht der Klassifizierung der Literaturgeschichte des Alten Testaments nach den jeweils vorherrschenden Hegemonialmächten in der südlichen Levante mit dem von ihnen geprägten Kulturdruck in der gegenwärtigen Diskussionslage vermutlich nicht mehr grundsätzlich gestritten werden muss. Ebenso dürften auch die Zuteilungen zu verschiedenen Literaturbereichen wenig Widerspruch hervorrufen, zumal sie von untergeordneter inhaltlicher Bedeutung sind und eher der Übersichtlichkeit der Darstellung dienen. Was nun die konkreten literaturgeschichtlichen Einordnungen der alttestamentlichen Texte und Schriften betrifft, so bleibt – bei allen sofort zuzugestehenden Unsicherheiten in der Forschungsdiskussion – zweierlei grundsätzlich zu bedenken. Zum einen lassen sich hinter und neben allen Konfusionen und Streitigkeiten einige jedenfalls in einem solchen Maß anerkannte historische Einordnungen von Teilen der alttestamentlichen Literatur feststellen, so dass eine Rekonstruktion der Grundlinien einer Literaturgeschichte des Alten Testaments eben möglich – und nicht vielmehr unmöglich – erscheint. Dazu gehört im Bereich des Pentateuch die Ausgrenzung und Einordnung der Priesterschrift, mit Einschränkungen auch des literaturgeschichtlichen Kerns des Deuteronomiums, im Bereich der Vorderen Propheten die Identifizierung, neu aber auch der redaktionsgeschichtlichen Differenzierung der „deuteronomistischen“ Deuteperspektiven, im Bereich der Propheten die Unterscheidung von Erstem und Zweitem Jesaja sowie die Erkenntnis der langfristigen Redaktionsgeschichte der Prophetenbücher, auch im Bereich der Psalmen sowie der Weisheitsliteratur erscheint es als nicht von vornherein aussichtslos, etwa königszeitliche von nachkönigszeitlichen Positionen zu unterscheiden. Natürlich bleibt so auf das Ganze gesehen mehr umstritten als unumstritten, doch liegt dies in der Natur des Projekts einer Literaturgeschichte und kann nicht im Ernst gegen den Versuch des Unterfangens als solchen angeführt werden. Im Übrigen unterscheidet sich eine Literaturgeschichte des Alten Testaments diesbezüglich nicht grundsätzlich von der alttestamentlichen Einleitungswissenschaft, deren Legitimität ja auch nicht von den vorliegenden kontroversen Ergebnissen her bestritten wird.
Zum anderen ist hervorzuheben, dass eine bestimmte Zuordnung einer Position zu einer bestimmten Zeit in der Regel nur eine relative ist: Viele alttestamentliche Texte und Schriften verfügen ebenso über eine mündliche oder auch schriftliche Vorgeschichte, wie auch über eine Nachgeschichte bereits innerhalb des Alten Testaments, so dass ihre Besprechung im Kontext dieser und nicht jener literaturgeschichtlichen Epoche nicht heißen soll: Die hier verwendeten und verarbeiteten Stoffe und Texte sind in dieser oder jenen Schrift zum ersten Mal und von Grund auf neu konzipiert worden und danach nicht mehr verändert worden. Vielmehr ist das Alte Testament grundsätzlich als Traditionsliteratur (vgl. Schmid 2011a; Mroczek 2016; Blum 2019) zu charakterisieren, so dass etwa die Behandlung der Mose-Exodus-Geschichte im Kontext der neuassyrischen Zeit nicht aus-, sondern einschließt, dass diese Erzählung ebenso über ältere Vorstufen verfügt, wie sie später noch ausgiebig literarisch erweitert worden ist. Die neuassyrische Zeit ist aber mutmaßlicherweise die ihrer ersten literarischen Formierung. Deshalb erscheint sie an dieser und nicht an anderer Stelle.
Die der im engeren Sinn literaturgeschichtlichen Darstellung jeweils beigegebenen Notizen zu geschichtlichen und einleitungswissenschaftlichen Sachfragen sind nur so weit ausgeführt, als sie für die literaturgeschichtliche Fragestellung von Belang sind. Für weiterführende Informationen sind die neueren Darstellungen zur Einleitung in das Alte Testament und zur Geschichte Israels zu konsultieren. Die im Text angegebenen Literaturverweise mögen als nicht spärlich erscheinen, sind aber angesichts der Breite der Fachdiskussion gleichwohl nicht mehr als exemplarischer Natur.
Einige Passagen dieses Buches verarbeiten – in unterschiedlich modifizierter Form – bereits an anderer Stelle publizierte Beiträge: Der Abschnitt zur Forschungsgeschichte (I. 3.) basiert auf einer stark gekürzten Version von Schmid 2007c. In den Überlegungen zu den literatursoziologischen Aspekten der Literaturproduktion und -rezeption (II. 3.) ist die Darstellung Schmid 2004a aufgenommen und stark erweitert worden. Das Unterkapitel über die Anfänge der deuteronomistischen Königsbücher (III. 2. a) lehnt sich teilweise an Schmid 2004b an, und einige der Abschnitte zur prophetischen Literatur greifen in zum Teil verkürzender und zum Teil erweiternder Form sowie, wo immer möglich, in literaturgeschichtlich vernetzender Weise auf meine einleitungswissenschaftliche Darstellung zu den „Hinteren Propheten“ in Gertz 2019, 313–412 zurück.
Ich danke der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt, meiner Mitarbeiterin Luise Oehrli und meinen Mitarbeitern Jürg Hutzli und Martin Leuenberger in Zürich, der alttestamentlichen Sozietät in Zürich, meinen Gesprächspartnern im Fach, namentlich Uwe Becker (Jena), Jan Christian Gertz (Heidelberg) und Markus Witte (Frankfurt am Main) und vor allem Ernst Axel Knauf (Bern), der mich in vielen Fragen beraten und vor einer Reihe von Irrtümern bewahrt hat, die aber vermutlich mit der Menge der möglichen Irrtümer noch lange nicht deckungsgleich ist. Zu danken habe ich auch dem Center of Theological Inquiry in Princeton, nicht nur für die Möglichkeit eines einjährigen Forschungsaufenthalts, sondern vor allem auch für die intensive Begegnung mit einer von der deutschsprachigen Diskussion in mehreren Aspekten doch deutlich unterschiedenen amerikanischen Bibelwissenschaft.
Zürich, im Februar 2008
Konrad Schmid
Zur dritten Auflage
Für die dritte Auflage ist der Text des Buches durchgesehen, an verschiedenen Stellen erweitert und korrigiert worden und es ist wichtige Literatur aus den Jahren 2014–2020 nachgetragen worden. Für die Korrektur, Überarbeitung und Neugestaltung des Skripts sowie die Erstellung des Registers bin ich Samuel Arnet zu großem Dank verpflichtet.
Zürich, im Dezember 2020
Konrad Schmid