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4.Das Alte Testament als Ausschnitt der Literatur des antiken Israel

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Eine am Textmaterial des Alten Testaments durchgeführte Literaturgeschichte unterscheidet sich zwar nicht in der Methode, aber doch in ihrem Gegenstand erheblich von anderen entsprechenden Zugangsweisen zu nichtbiblischen Literaturen, etwa einer Geschichte der neueren deutschen Literatur. Der Grund dafür liegt darin, dass das Alte Testament nicht die literarische Hinterlassenschaft des antiken Israel umfasst, sondern nur einen Teil daraus, der aufgrund einer bestimmten Selektion und/oder Reinterpretation zur „Hebräischen Bibel“ oder zum „Alten Testament“ geworden ist (vgl. Stolz 1997, 586; Schmid 2019, 113–122). Es wird kaum mehr möglich sein festzustellen, in welchem quantitativen Verhältnis diese nachmalig kanonischen Größen zur ehemaligen Literatur des antiken Israel stehen. Unbestreitbar ist aber, dass es diese weitergreifende Literatur gegeben hat. Man denke zum Vergleich nur an die zahlreichen antiken Schriften außerhalb Israels, von denen man lediglich durch Nennungen oder Zitate bei verschiedenen Schriftstellern Bescheid weiß.

Das epigraphische Textgut gibt, wenn man die transjordanischen Nachbarn Israels und Judas miteinbezieht, bei aller Fragmentarität noch eine recht gute Anschauung dessen, was man sich vorzustellen hat (Renz/Röllig 1995–2003; Smelik 1987). Vielleicht am eindrucksvollsten, wenn auch nach wie vor schwer verständlich ist das „Buch Bileams“ (TUAT II, 138–148; vgl. Blum 2008a; 2008b; 2019), von dem eine Abschrift als Wandinschrift im ostjordanischen Tell Deir ʿAlla erhalten geblieben ist, dessen Incipit als spr („Buch[rolle]“) darauf hinweist, dass es sich bei diesem Text ursprünglich um eine Buchrolle gehandelt hat. Die Mescha-Inschrift (TUAT I, 646–650) basiert auf Annalenexzerpten und belegt damit bereits das Vorhandensein einer auslegenden Schriftkultur (Knauf 1994, 129; vgl. Dearman 1989). Auch die Siloah-Inschrift (TUAT II/4, 555–556) ist wohl ein Exzerpt, was aus der fehlenden Dedikation und der ausgesparten Nennung des Bauherrn hervorgeht (Knauf 2001c). Aus Ammon ist auf einer Bronzeflasche ein Stück Lyrik überliefert (Thompson/Zayadine 1974; Coote 1980; Knauf 1994, 127):

Die Werke Amminadabs, Königs der Ammoniter,

Sohnes des Hassilʾil, Königs der Ammoniter,

Sohnes des Amminadab, Königs der Ammoniter:

der Weingarten und Obstgarten und die Terrassenmauer(n) und ein Wasserreservoir.

Möge er jauchzen und fröhlich sein viele Tage und lange Jahre.

Man mag allerdings zögern, bei diesen Beispielen von „Literatur“ zu sprechen, da sich mit diesem Begriff ein gewisser quantitativer Umfang sowie ein qualitativer Anspruch der entsprechenden Texte verbindet. Doch lässt sich von diesen Funden her, die aufgrund der materialen Schriftträger notgedrungen nicht sehr umfangreiche Beschriftungen bezeugen, mit Fug und Recht vermuten, dass es weitere, umfangreichere Texte auf Papyrus und Leder im antiken Israel gegeben hat. Diese haben – bis auf wenige Ausnahmen (Schmid 1996a, 36 Anm. 164) – nicht überlebt, ihr ehemaliges Vorhandensein ist aber wahrscheinlicher als ihre Nichtexistenz. Ja, das Alte Testament kennt selber einige Quellenangaben, die jedenfalls nicht in ihrer Gesamtheit fiktiv sind: So werden etwa genannt (1) das Buch der Kriege JHWHS (Num 21,14), (2) das Buch des Aufrechten (yšr) (Jos 10,13; 2Sam 1,18) (Keel 2007, 139–140), (3) das Buch des Liedes (šyr) (1Kön 8,53a LXX), (4) das Buch der Geschichte Salomos (1Kön 11,41), (5) das Buch der Geschichte der Könige von Israel (1Kön 14,19), (6) das Buch der Geschichte der Könige von Juda (1Kön 14,29) (vgl. Christensen 1998; Haran 1999; Vriezen/van der Woude 2005, 3–8; Naʾaman 2006). Das Buch des „Aufrechten“ und des „Liedes“ sind wahrscheinlich identisch: Der determinierte, aus sich kaum verständliche Titel „des Liedes“ ist vermutlich aufgrund einer Verschreibung von yšr „aufrecht“ zu šyr „Lied“ zustande gekommen (Keel 2007, 139). Ob es ein Buch der Geschichte Salomos gegeben hat, mag man aufgrund der kulturgeschichtlichen Schwierigkeiten dieser Annahme sehr bezweifeln. Immerhin wird aus dem Verweis aber deutlich, dass in den Büchern der Geschichte der Könige von Juda bzw. von Israel wohl nichts über Salomo stand.

Zusätzlich zu rechnen ist mit weiteren vorexilischen Überlieferungen, die vor allem nach der Katastrophe Jerusalems im Jahr 587 v. Chr. ausselektioniert worden sind. Besonders zu nennen sind hier heilsprophetische Überlieferungen, von denen nicht auszuschließen ist, dass sie ebenfalls schriftlich vorgelegen haben, wenn man nicht der strikten These zuneigen will, dass Schriftprophetie und Gerichtsprophetie koinzidieren (Kratz 1997b; 2003b). Die neuassyrischen Befunde zeigen jedenfalls, dass auch reine Heilsprophetie schriftlich aufgezeichnet werden konnte, auch wenn sich daraus keine Vorgänge der langzeitigen schriftgelehrten Tradentenprophetie wie in Israel ergaben (Jeremias 1994; Steck 1996). Man kann sogar erwägen, ob nicht die frappante formgeschichtliche Nähe der Heilsorakel Deuterojesajas zu den fast um ein Jahrhundert älteren neuassyrischen Prophetien (TUAT II, 56–82), die nach dem Untergang des neuassyrischen Reiches kaum mehr zugänglich gewesen sein dürften, darauf schließen lässt, dass es königszeitliche Heilsprophetien in Juda nach neuassyrischer Art gegeben hat, die die Deuterojesajaprophetie noch maßgeblich beeinflusst hatten. Diese Texte konnten dann nach der Abfassung von Jes 40–55 im Schulbetrieb ersetzt werden.

Die Literaturgeschichte des Alten Testaments betrifft also lediglich einen Ausschnitt der althebräischen Literaturgeschichte, der nur ex post beschreibbar ist: Die Literaturgeschichte des Alten Testaments behandelt diejenigen Texte, die sich als Gebrauchstexte in der Jerusalemer Tempelschule und nachher sowie deswegen als Heilige Schrift durchgesetzt haben.

Insofern bildet sie – anders als etwa eine Geschichte der deutschen Literatur – ein zwar in vielerlei Hinsicht disparates, aber doch sachlich und wirkungsgeschichtlich zusammenhängendes Korpus. Man kann sogar so weit gehen und festhalten, dass die Literaturgeschichte des Alten Testaments gleichzeitig seine nachmals orthodoxe oder zumindest in orthodoxem Sinn rezipierbare Theologiegeschichte dokumentiert. Die alttestamentliche Literaturgeschichte bildet nicht die Religionsgeschichte Israels ab, die zudem über weite Strecken hin nur über nichtsprachliche Darstellungsformen greifbar ist (vgl. Stolz 1997, 586), sondern bietet deren theologiegeschichtlich differenzierte Interpretation, die bestimmten Selektionskriterien unterworfen war.

Die aus dem ägyptischen Elephantine erhalten gebliebenen jüdischen Texte der mittleren Perserzeit zeigen mit ihrer beschränkt polytheistischen Frömmigkeit und der Erwähnung eines eigenen Tempels demgegenüber ein Beispiel einer religionsgeschichtlichen Verlängerung der Königszeit an: Die Anfänge der Kolonie gehen wahrscheinlich schon auf das 6., vielleicht sogar auf das 7. Jahrhundert v. Chr. zurück, deren Verhältnisse sie offenbar „besser“ bewahrt hat als das Judentum im Mutterland (Keel 2007, 783–784; Granerød 2016; van der Toorn 2019).

Ein literaturgeschichtlicher Zugang zum Alten Testament öffnet also ein Fenster in die zumeist elitären Segmente der religiösen Wirklichkeit des antiken Israel, in die Welt der des Schreibens kundigen Priester, Weisheitslehrer usw. Entsprechend kommt im Folgenden der religionssoziologischen Ebene des Staatskultes die größte Bedeutung zu, während Elemente der besonders in der vorpersischen Zeit weitgehend illiterat funktionierenden Familien-, Lokal- und Regionalkulte nur insofern eine Rolle spielen, als sie im Rahmen des Staatskultes rezipiert worden sind.

Literaturgeschichte des Alten Testaments

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