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A. Aufgabe, Geschichte und Probleme einer alttestamentlichen Literaturgeschichte I.Weshalb eine alttestamentliche Literaturgeschichte? 1.Aufgabenstellung
ОглавлениеEine Literaturgeschichte bezeichnet den Versuch, literarische Werke nicht bloß je für sich, sondern sie in ihren inneren Zusammenhängen, Vernetzungen und historischen Entwicklungen darzustellen und zu interpretieren (Köpf 2002). Diese Aufgabenstellung bezeichnet in all ihrer Knappheit bereits Problematik und Chance der Literaturgeschichtsschreibung zugleich. Durchaus zu Recht wurde in der literaturwissenschaftlichen Diskussion darauf hingewiesen, dass das synthetische Vorgehen einer Literaturgeschichte nachgerade zwingend zu einer Vernachlässigung der Einzelwerke führen muss: „Man muß zugeben, daß die meisten Literaturgeschichten entweder Sozialgeschichten, Geschichten des in der Literatur zum Ausdruck kommenden Denkens oder mehr oder minder chronologisch angeordnete Eindrücke und Urteile über einzelne Werke sind“ (Wellek/Warren 1949/1971, 276, Hervorhebung K. S.). Man kann Wellek und Warren zufolge nicht beides zugleich haben: eine systematisierende, literaturgeschichtliche Zusammenschau verschiedener Werke aus verschiedenen Zeiten, die gleichzeitig auch jedem Einzelwerk angemessen Rechnung trägt. Entsprechend wollte Wellek am Ende seines Wirkens das Projekt einer Literaturgeschichte ganz aufgeben (Wellek 1979). Auch David Perkins neigt in seinem literaturtheoretischen Buch „Is Literary History Possible?“ dazu, die Titelfrage zu verneinen (Perkins 1992, 17). Gleichwohl liegt es auf der Hand, dass historische Einordnungen bestimmter Werke innerhalb ihrer literaturgeschichtlichen Kontexte ihrem Verständnis durchaus förderlich sein können. Außerdem ist auch eine literaturgeschichtliche Zusammenschau als solche – abgesehen von der Frage nach den Einzelwerken – eine in sich legitime und weiterführende Aufgabe, auch wenn sie um den Preis einer verkürzenden Darstellung ihrer Konstituenten erfolgt.
Diese Diskussionen mögen für die nichtbiblischen Literaturen hier auf sich beruhen bleiben. Für das Alte Testament liegt es jedoch auf der Hand, dass die vielfältige Interaktion unter seinen Texten es in besonderer Weise dafür qualifiziert, literaturgeschichtlich befragt zu werden. Ja, das Alte Testament selbst entwirft sich – in seinen verschiedenen kanonischen Anordnungen in unterschiedlicher Weise (siehe unten S. 31–35) – als Literaturgeschichte (vgl. Utzschneider 2002; Bosshard-Nepustil 2015).
Wie aber ist das Projekt einer Literaturgeschichte des Alten Testaments als kritische, wissenschaftliche Disziplin anzugehen? Es kann als ein Versuch verstanden werden, herkömmliche Teildisziplinen der alttestamentlichen Wissenschaft neu zusammenzubringen – nicht als Ersatz einer bestehenden Teildisziplin, sondern als Ergänzung dazu. Die von ihrer Fragestellung her engsten Beziehungen bestehen naturgemäß zur Einleitungswissenschaft, diese aber wird zum einen integral mit Elementen einer Geschichte Israels und einer Theologie des Alten Testaments (nämlich der Eruierung der theologischen Konzeptionen in den alttestamentlichen Schriften in ihrer jeweiligen historischen Verankerung) zusammengesehen und folgt zum anderen – anders als die Einleitungswissenschaft – nicht der Abfolge des Kanons, sondern der Geschichte Israels. Dabei werden die Texte der Bibel in erster Linie historisch verstanden: Sie entstammen bestimmten Zeiten und sprechen in bestimmte Zeiten hinein, die zunächst ihre eigenen sind. Gerade im Fall der Bibel aber sind die Texte auch in sich verändernden Zeiten neu gelesen und fortgeschrieben worden (vgl. Jeremias 1996, 20–33; Steck 1996; 2001; Schmid 2016a). Das ist ein theologisch höchst bedeutsamer Vorgang, dem es zudem zu verdanken ist, dass wir das Alte Testament überhaupt kennen: Ohne den Prozess fortwährender Ab- und Fortschreibung der Texte wären die Erstausgaben alsbald verrottet. Länger als etwa 200 Jahre halten sich antike Schriftrollen unter normalen Umständen nicht.
Diesem Umstand entsprechend hat eine Literaturgeschichte des Alten Testaments nicht nur die mutmaßlichen Primärgestalten der alttestamentlichen Texte in ihren historischen Entstehungskontexten zu behandeln, sondern auch ihre Rezeptionsgestalten während der Gesamtzeit der Entstehung des Alten Testaments zu berücksichtigen. Das Buch Jesaja etwa ist für beinahe alle Epochen der alttestamentlichen Literaturgeschichte relevant – und zwar nicht nur deswegen, weil es vom 8. bis ins 2. Jahrhundert v. Chr. auf seine jetzige Gestalt hin angewachsen ist und deshalb Textanteile aus verschiedenen geschichtlichen Situationen in sich vereinigt, sondern weil auch seine älteren Bestandteile immer wieder neu gelesen und verstanden worden sind (Steck 1992b; 1996; Blenkinsopp 2002; Berges/Beuken 2016; Berges 2018). Der historische Blick auf die alttestamentliche Literatur darf sich also nicht auf punktuelle Untersuchungen und Einordnungen von Einzelperikopen beschränken, sondern muss darüber hinaus – gewissermaßen in resultativer Hinsicht – fragen: Wie sind traditionelle und redaktionelle Partien eines Textes gemeinsam in den unterschiedlichen Phasen seines literarischen Wachstums und seiner Überlieferung verstanden worden?
Die alttestamentliche Literaturgeschichte folgt mit ihrer historischen Frageausrichtung zunächst dem Einspruch der Romantik gegen die Aufklärung und hält die Bibel nicht für ein „Bilderbuch ewiger Wahrheiten“, geht aber ihrerseits auch über implizite Grundüberzeugungen der Romantik hinaus, indem sie deren Ursprungsmanie und Dekadenzmodelle nicht übernimmt, sondern versucht, ihren biblischen Gegenstand in historisch angemessener Weise zu verstehen.
Historisch zu fragen beinhaltet auch eine Wahrnehmung und literaturgeschichtliche Auswertung von Faktoren jenseits der bloßen Ereignisgeschichte, unter Einschluss von wirtschafts- und sozialgeschichtlichen bis hin zu geographischen Determinanten geschichtlicher Abläufe, wie sie etwa von der École des Annales vorgeschlagen worden ist (Mohr 1988; Burguière 2006).
Gegen den verbreiteten Trend, die Texte der alttestamentlichen Literatur zu kontextualisieren und vor allem als literarische Reflexionen historischer Konstellationen zu verstehen, ist schließlich auch philosophiegeschichtlich gewissermaßen Max Weber gegenüber Karl Marx ins Recht zu setzen (vgl. Schluchter 2006). Dabei ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Texte nicht nur geschichtliche Erfahrungen verarbeiten, sondern umgekehrt auch Texte geschichtstreibende Kräfte entfalten können: Die Bewältigung des Untergangs Judas in der babylonischen Zeit und die Entstehung des antiken Judentums als eines religiös bestimmten Ethnos (vgl. Blum 1995; Levin 2014) sind etwa ein Beispiel eines solchen Prozesses, der ohne entsprechende Überlieferungsgrundlage nicht plausibel geklärt werden kann. Umgekehrt ist etwa die vorgeschlagene Deutung der Gerichtsprophetie als vaticinia ex eventu (Kratz 1997b; 2003b.c) gerade auch aus historischer Perspektive, etwa angesichts der Bileam-Inschrift aus Tell Deir ʿAlla (TUAT II, 138–148; vgl. van der Toorn 2007, 176; Blum 2008a; 2008b), kein fraglos überzeugender Gedanke: E nihilo nihil fit. Ohne Verankerung der Gerichtsprophetie in Aussagen oder Texten vor ihrer geschichtlichen Bewahrheitung wird ihre Entstehung historisch nicht vollumfänglich erklärt. Das schließt nicht aus, sondern ein, dass in der Tat vielerorts mit Prophetentexten zu rechnen ist, deren Zukunftsperspektive literarisch ex post konstruiert ist. So erweckt zum Beispiel ein großer Teil der prophetischen Völkersprüche gegen die transjordanischen Nachbarstaaten Israels und Judas in der Tat den Eindruck, dass sie deren Untergang nachträglich geschichtsprophetisch rationalisieren wollen.
Eine Literaturgeschichte des Alten Testaments ist nicht bloß eine anders, nämlich historisch statt kanonisch angeordnete Einleitung in das Alte Testament, vielmehr muss sie deren entstehungsgeschichtliche Frage in verschiedener Hinsicht erweitern. Über die Entstehung alttestamentlicher Bücher und Texte hinaus hat sie insbesondere zu fragen, wie diese sich einerseits in geschichtliche Traditionsstränge einordnen und wie sie sich andererseits zu mutmaßlich gleichzeitigen literarischen Gesprächspartnern aus dem Alten Testament verhalten. Sie hat also die diachronen wie auch die synchronen Vernetzungen und Bezugnahmen eines Textes zu verdeutlichen. Damit versucht sie, zum einen das Profil bestimmter theologischer Positionen im Alten Testament durch den Vergleich mit konkurrierenden Positionen zu schärfen, zum anderen theologiegeschichtliche Entwicklungen zu rekonstruieren und plausibilisieren. Es ist hier schon anzumerken, dass die in den nachfolgenden Teilen B.–G. gegebenen Skizzen zu Verlauf und Entwicklung der alttestamentlichen Literaturgeschichte diesen Anspruch nicht immer material einzulösen vermögen – dazu ist die literaturgeschichtliche Forschung am Alten Testament zwar nicht zu jung, wie aus dem nächsten Abschnitt gleich ersichtlich werden wird, aber bislang zu wenig intensiv bearbeitet worden. Gleichwohl werden sich hier und dort deutlichere oder weniger deutliche Perspektiven ergeben, die die literaturgeschichtlichen Vernetzungen der alttestamentlichen Texte und Schriften in ihren historischen Kontexten darzustellen vermögen.