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6.Das Problem eines „Urtextes“ des Alten Testaments
ОглавлениеVor allem seit den Qumranfunden ist deutlich geworden, dass das herkömmliche Bild eines „Urtexts“ der Hebräischen Bibel, der bei der Kanonisierung ihrer Bücher jeweils fixiert worden wäre, erheblich zu differenzieren ist (Dahmen u. a. 2000; Flint 2001; Fabry 2006; Tov 2006; Lange/Tov 2016; 2017; Schmid/Schröter 2019, 43–63). Die Bibelhandschriften in Qumran, aber auch die antiken Versionen zeigen eine breitgefächerte Überlieferung verschiedener Textgestalten derselben biblischen Bücher, so dass man mit Blum zunächst festhalten muss: „Es gibt in etwa so viele Endgestalten wie Textzeugen“ (Blum 1991, 46) – der biblische Text liegt nirgends vor, schon gar nicht fixiert in einem bestimmten Textzeugen. Die Diversität der Textüberlieferung um die Zeitenwende kann man sich vielleicht entsprechend dem heutigen Nebeneinander moderner Bibelübersetzungen vorstellen: Sie sind als Ausgaben derselben Bücher erkennbar, aber in ihrem Wortlaut und ihren Bücheranordnungen nicht immer identisch.
Man muss sich jedenfalls davor hüten, die Verhältnisse der einlinigen und buchstabengetreuen Textüberlieferung der rabbinischen Zeit auf die Zeit davor zurückzuprojizieren. Dass die von Qumran bezeugte Textvielfalt zugunsten eines Standard-Konsonantentexts, wie er in der frühmittelalterlichen masoretischen Handschriftenlage bezeugt ist, gewichen ist, verdankt sich keiner bestimmten lehramtlichen Entscheidung, sondern, wenn auch nicht ausschließlich, so doch hauptsächlich dem Umstand, dass die (pharisäisch-)rabbinische Richtung, der maßgebliche Traditionsstrang des Judentums nach dem Jüdischen Krieg (66–70 n. Chr.), die nachmalig masoretische Texttradition benutzte und pflegte.
Allerdings darf man sich von der divergenten Überlieferungslage in Qumran auch nicht täuschen lassen. Vor allem Adam S. van der Woude (1992) hat ganz zu Recht darauf hingewiesen, dass die Verhältnisse in Qumran nicht für das Judentum vor 70 n. Chr. verallgemeinerbar sind. Schon die Textfunde in Masada und im Wadi Murabbaʿat (Tov 1997) bezeugen nicht dieselbe Vielfalt wie Qumran, sondern einen Konsonantentext, der zur protomasoretischen Texttradition gehört, und die griechische Zwölfprophetenrolle aus Naḥal Ḥever, die in die zweite Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. zu datieren ist, bietet bereits eine LXX-Revision in protomasoretischem Sinn (van der Woude 1992, 161). Das bedeutet aber, dass neben der Textvielfalt, die Qumran bezeugt, auch eine Tendenz im Judentum vor 70 n. Chr. festzustellen ist, die darauf hindrängte, den Bibeltext zu standardisieren (vgl. Schwartz/Weiss 2012). Van der Woude (1992, 63 Anm. 33) rechnet damit, dass vor allem am Zweiten Tempel in Jerusalem eine relativ einheitliche, nämlich die nachmalig masoretische Texttradition gepflegt wurde. So ist in gewandelter Hinsicht die Annahme eines „Urtextes“ der Hebräischen Bibel beizubehalten: Die reine kanonische Form des Bibeltextes hat es zwar nie gegeben, da kanonische Fixierung offenbar nicht Schutz des Buchstabens in jeder Hinsicht bedeutete, wohl aber protomasoretische Vorformen des nachmaligen Standardtextes, die in den für die Entstehung der Hebräischen Bibel maßgeblichen Kreisen am Zweiten Tempel geprägt und tradiert wurden.
Anhand einer ganzen Reihe von biblischen Büchern – wie etwa Josua, Samuel und Könige, Jeremia, Ezechiel – ist dabei der textgeschichtlichen Forschung deutlich geworden, dass in diesen Fällen die aus der Septuaginta erschließbare hebräische Vorlage dieser Bücher dem protomasoretischen Standardtext näher kommen als die bisweilen weiter entwickelten hebräischen Editionen dieser Bücher (Stipp 1994; Tov 1997; de Troyer 2005; Schenker 2006; Kreuzer 2016). Entsprechend sind die Grenzen zwischen literarischer Vorstufenkritik und textgeschichtlicher Forschung fließend geworden.