Читать книгу Herzbrecher - K.P. Hand - Страница 10

6

Оглавление

Als Norman den verlassenen Bahnhof betrat, dämmerte es bereits, aber immerhin hatte der Regen aufgehört. Frischer Wind war aufgezogen, doch es war nur ein leichtes Lüftchen, das ihm durch das volle, dunkle Haar wehte, das er im Wagen vor dem Aussteigen noch einmal mit den Fingern durchkämmt hatte, in der Hoffnung, er würde dadurch etwas besser aussehen.

Tat er nicht.

Aber um so auszusehen, wie er sich dem anderen nun gerne zeigen würde, bräuchte er vermutlich eine Woche Schlaf, einen Schönheitschirurgen und zehn Jahre weniger auf dem Buckel. So gerne er auch als jener Mann diesen Bahnhof betreten würde, der er vor sieben Jahren gewesen war, er musste sich zeigen, wie er war: verbraucht und alt.

Er erklomm die Stufen zu einer Verbindungsbrücke über den Gleisen, die Bahnsteig A mit Bahnsteig B verband. Und dort oben stand er. Angestrahlt vom letzten fahlen Licht des verregneten Tages, die trainierten Unterarme auf das dünne Schutzgeländer gestützt, das mittlerweile von Kletterpflanzen eingenommen worden war.

»Du kommst spät.« Mehr sagte er nicht, er sah Norman nicht einmal an.

Das ärgerte Norman etwas. Er blieb gut zwei Meter von dem anderen entfernt stehen und dachte gar nicht daran, sich zu rechtfertigen.

Die Wahrheit war, dass er vom Fundort der Leiche bis zum anderen Ende der Stadt zu dieser verlassenen Bahnhofstation, deren Instandsetzung sich die Stadt seit Jahren nicht leisten konnte, schon eine halbe Stunde gebraucht hatte. Und davon abgesehen, hatte er weitere zwanzig Minuten versucht, sein Äußeres ansehnlicher wirken zu lassen, indem er an einer Tankstelle gehalten und sich in den Kundenwaschräumen das Gesicht nass gespritzt hatte.

Und jetzt sah ihn der andere nicht einmal an.

Norman vergrub die Hände in seiner Hose. »Du bist wieder da.«

»Ich war nie weg.«

Noch immer kein Blick.

Norman senkte den Kopf. »Ich weiß, ich meinte ja auch, du sprichst wieder mit mir.«

»Ich würde mich nicht wieder daran gewöhnen.«

Norman nickte stumm und enttäuscht. Aber was hatte er denn bitte erwartet? Tränen? Ein Feuerwerk der Wiedersehensfreude? Hatte er vergessen, mit wem er es hier zu tun hatte?

»Wir müssen wirklich reden.«

Norman sah ihn Hoffnungsvoll an. »Sandro, ich ...«

»Nicht darüber!« Endlich sah Alessandro ihn an und richtete sich auf. Seine grünen Augen begegneten Normans braunen, dessen Innenleben sich sofort zusammenkrampfte vor Sehnsucht.

Alessandro Martin, Enio Martins kleiner Bruder, ehemaliger Auftragsmörder, Normans einzig verlässliche Hilfe, als er damals gegen den Sklavenhändler Franklin Bosco ermittelt hatte. Ohne Alessandro hätte Norman den Scheißkerl niemals einbuchten können. Alessandro, dessen Name Norman nicht einmal denken konnte, ohne vor Sehnsucht zu vergehen.

Als Alessandro ihn endlich ansah, konnte Norman in seinem Blick deutlich erkennen, wie schockierend Normans Anblick für ihn war. Mit offenem Mund sah Alessandro ihn an und blinzelte, als glaubte er, sich in einem Traum zu befinden. Keinem schönen Traum.

»Du siehst scheiße aus.«

Norman schnaubte sarkastisch. »Danke für das Kompliment. Ich hatte schon ganz vergessen, wie erfrischend ehrlich du sein kannst.«

Beinahe gelangweilt lehnte sich Alessandro seitlich gegen das Geländer und zuckte gleichgültig mit einer Schulter. »Ich bin nicht hier um dein Aussehen zu bewundern.«

»Anders als früher, hm?«, versuchte sich Norman an einem Flirt. Doch von seinem früheren Charme war nicht mehr genug übrig um Alessandro daran zu erinnern.

Dennoch lag auf Alessandros schmalen Gesichtszügen nun ein leichtes Lächeln, das er jedoch schnell mit einem kurzen Schütteln seines Kopfes verschwinden ließ, als habe er sich rechtzeitig besonnen.

Norman musterte ihn eingehend. Er sah aus wie immer. Groß und schlank. Schlaksig, drahtig. Stramme aber schlanke Muskeln verborgen unter einem locker sitzenden, einfachen, schwarzen T-Shirt, kräftige und lange Beine, die von einer perfekt sitzenden Jeans umschlungen waren. Seine Augen leuchteten grün und waren von dunklen Wimpern umrundet, sein Haar war noch immer braunschwarz, seine Wangen frisch rasiert, seine Lippen hatten eine kühle Blässe, die einladend wirkte. Genau wie vor fünfzehn Jahre, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, damals, als Norman ihn verhört hatte.

Wie viel Zeit seither vergangen war. Wie viel geschehen war. Die Geschehnisse vor sieben Jahre hatten sie zusammengeführt und zusammengeschweißt, trotz, dass sie zu Anfang gegeneinander gespielt hatten. Jetzt war die ganze Welt hinter Alessandro her, weil er aufgeflogen war, obwohl er Franklin gefasst hatte, nicht Norman.

Und obwohl Norman für das Gesetzt arbeitete, schützte er Alessandro und versuchte, alles in seiner Macht Stehende, um diesen vor seinem Bruder Enio Martin zu beschützen. Denn Alessandro wurde von beiden Seiten gejagt, da er zwar ein ehemaliger Verbrecher aber trotzdem ein Verräter war. Er hatte alle verraten. Er hatte auf Freiheit gehofft, die er nicht bekommen hatte. Für ihn war alles umsonst gewesen. Er lebte einen Alptraum, das wusste Norman.

Norman fühlte sich deshalb schuldig, denn er schuldete Alessandro alles. Umso schlimmer war für ihn, dass er nach sieben Jahren immer noch nichts erreicht hatte, um ihm zu helfen.

Es war, als könnte er diese offene Rechnung zwischen ihnen nie begleichen. Dabei war er der einzige, der es als offene Rechnung ansah. Alessandro hatte nie etwas von ihm verlangt.

Mit einem schüchternen Blick bemerkte Norman: »Du trägst die Haare wieder glatt.«

Alessandro hatte von Natur aus gelocktes Haar. Norman hatte es immer gemocht. Vor allem, wie es die letzten sieben Jahre immer halb über seinen Ohren und in seiner Stirn gehangen hatte. Aber auch die glatt geföhnten Haare mit der Spitze in der Stirn und den abrasierten Seiten standen ihm unheimlich gut. So gut, das Normans Haut vor Begierde zu prickeln begann.

Alessandro rieb sich den Nacken, als müsste er überprüfen, was Norman meinte. »Ja ... ich dachte, ob gelockt oder glatt, wenn ich meinem Bruder auf der Straße begegne, erkennt er mich ohnehin, egal, welche Frisur ich trage.«

Norman lächelte ihn schüchtern an. »Du siehst gut aus.«

»Was man von dir nicht behaupten kann.«

Autsch. Okay, Norman hatte Ablehnung verdient.

Er atmete tief durch, um nicht wütend zu werden, und sah Alessandro dann wieder bemüht ruhig ins Gesicht. »Du wolltest mich sprechen. Hast du Probleme? Brauchst du Geld?«

Schockiert sah Alessandro ihn an. »Was? Nein!«

Gelogen! Norman wusste, dass es gelogen war. Alessandro brauchte immer Geld. Mit dem, was er in diesem kleinen Chinarestaurant als Koch verdiente, konnte er nicht einmal die halbe Miete zahlen.

»Wie viel?«

»Ich will dein Geld nicht«, zischte Alessandro eingeschnappt. »Und ich brauche es auch nicht.«

»Das wäre mir neu.«

»Ich habe nie Geld von dir verlangt!«

»Wer spricht denn von ›verlangen‹, ich biete es dir an!«

Alessandro drehte sich schnaubend fort und zeigte Norman seine ansehnliche Rückseite.

Norman breitete die Arme aus und fragte verständnislos: »Stehst du lieber auf der Straße als mich um Geld zu bitten?«

»Ganz ehrlich?« Alessandro wandte sich wieder zu Norman um. »Ja!«

Auch das tat weh.

Entmutigt fielen Normans Schultern herab. »Hasst du mich denn so sehr?«

Sie sahen sich einen Momentlang in die Augen.

Alessandro wandte sich als erster ab und kratzte sich unbehaglich an der Schläfe. »Pass auf«, begann er und wechselte das Thema, »ich wollte lediglich wissen, ob es etwas Neues über meinen Bruder gibt. Bei den Ermittlungen gegen ihn, meine ich.«

Mit einem Mal fühlte sich Norman wieder wie der größte Versager. Es war schon schwer genug sich selbst und Kollegen gegenüber eingestehen zu müssen, nichts erreicht zu haben, es vor jemanden zuzugeben, den man sehr mochte und vor dem man immer gut dastehen wollte, war geradezu Folter.

Beschämend schüttelte Norman den Kopf. »Nein. Nichts.«

Alessandro schloss gequält die Augen.

Norman wandte sich ab, um die Sorgen des anderen nicht vor Augen zu haben. Er lehnte sich so wie Alessandro zuvor mit den Armen über das überwucherte Geländer und blickte hinab auf die stillgelegten Gleise. »Zuletzt überprüften wir einen Franco Pisani. Schon mal von ihm gehört?«

Alessandro schüttelte den Kopf, als Norman sich über die Schulter blickte.

Norman nickte. »Habe ich mir gedacht. Er ist ein Antiquitätenhändler. Angeblich hat dein Bruder den Laden eine Weile übernommen und die Schulden getilgt. Er verkaufte das Geschäft wieder an Franco, als es schwarze Zahlen schrieb.«

Alessandro erwiderte: »Klingt nach meinem Bruder.«

»Dann könnte die Geschichte stimmen?«

»Wenn für ihn etwas dabei heraussprang, ja.«

»Wie meinst du das?«

Alessandro kam ein paar Schritte näher, seine Arme waren vor der Brust verschränkt. »Enio hat den Laden vielleicht als Geldwäsche benutzt. Er hat viele solcher Läden oder ist Partner oder Investor, wie sonst sollte er sein Vermögen erklären? Aber es könnte auch sein, das Enio nur einem Cousin, dem Sohn, Vater oder Bruder von Pisani einen Gefallen getan hat, indem er ihm geholfen hat. Ich will damit sagen, Pisani ist nicht unbedingt ein Verbrecher, nur, weil er mit Enio zu tun hatte.«

Norman nickte grimmig.

»Was ist da passiert?«, fragte Alessandro plötzlich neugierig.

Noch bevor Norman begriff, was genau Alessandro ansprach, stand dieser plötzlich neben ihm und hielt Normans Hand in seiner. Eingehend betrachtete Alessandro Normans verkrustete Fingerknöchel. Die Berührung und die Nähe ließen Normans Blut kochen.

Norman beäugte seine Hand als wäre sie ihm fremd. »Ach das? Ich war bei Franklin.«

Alessandro sah ihm in die Augen und für einen Moment waren sich ihre Gesichter so nahe, dass sie den Atem des jeweils anderen spüren konnten.

Lächelnd ließ Alessandro Norman los und trat einen Schritt zurück. »Wie geht es Franky?«

»Nach meinem Besuch?« Norman zog die Augenbrauen hoch. »Nicht so gut.«

»Ich kann nicht sagen, dass er mir leidtut.«

Norman musste schmunzeln. Von allen Menschen war Alessandro der einzige, der verstand, weshalb Norman bei Franklin die Faust ausrutschte.

»Er hätte Schlimmeres verdient.«

Norman warf ein: »Glaub mir, das Knastleben ist die Hölle für ihn. Er wird von Insassen vermöbelt, die Wärter schikanieren ihn, er wurde bisher zweimal von eingeschleusten Killern angegriffen. Er bekommt, was er verdient, keine Sorge.«

Norman und Alessandro vertraten beide die Meinung, dass hinter Gittern die schlimmere Strafe war als der Tod. Vor allem für Frank Bosco!

Alessandro starrte zu Boden.

Als Norman ihn musterte, fiel deutlich auf, dass den ehemaligen Killer etwas beschäftigte, mehr als sonst.

»Also ... hat man noch immer rein gar nicht gefunden, um ein Verfahren gegen Enio einzuleiten? Nichts?«, fragte Alessandro besorgt.

Norman wurde sauer, aber nur auf sich selbst. Er sah Alessandro nicht an, als er stumm und schuldbewusst den Kopf schüttelte.

»Wie kann das sein?« Alessandro fluchte verhalten und strich sich durchs Haar. »Man sollte doch meinen, dass es einfach wäre, jemanden etwas nachzuweisen, der geradezu in Verbrechen schwimmt! Was ist mit dem Waffenhandel? Das ist sein größter Vertrieb. Es müsste allseits bekannt sein, was er tut. Irgendwer muss doch reden!«

»Dein Bruder besitzt eben viel Geld. Er erkauft sich Schweigen.«

Mehr sagte Norman nicht dazu, er starrte über die Gleise hinweg in die Dämmerung.

Je mehr Alessandro sagte, je mehr fühlte Norman sich wie der größte Nichtsnutz.

»Sieben Jahre, Norman!« Alessandro schüttelte missmutig den Kopf. »Wie viele hast du überprüft? Wie viele mögliche Zeugen nannte Franky dir? Wie viel Komplizen hat er verpfiffen? Und keiner will gegen Enio aussagen?«

»Nein, verdammt noch mal!«, fuhr Norman ihn an. Dabei war er mehr auf seine eigene Unfähigkeit sauer, als auf Alessandro. »Denkst du, ich hätte nicht längst viel mehr unternommen, wenn ich gekonnt hätte?«

Alessandro starrte ihn mit offenem Mund an, doch seine Augenbrauen waren ärgerlich zusammengezogen.

Norman fuhr fort, immer noch mit erhobener Stimme: »Du musst mir nicht sagen, wie viel Zeit vergangen ist! Ich weiß es! Ich habe sieben verdammte Jahre damit verbracht, deinen Bruder zu jagen. Für dich! Nicht für mich. Für dich!«

»Ich habe nie darum gebeten«, erinnerte Alessandro ihn. Seine Stimme war leise aber drohend. »Du sagtest, du regelst das. Ich habe dir dieses Versprechen nicht abgenommen. Also tu nicht so, als hätte ich dich dazu genötigt!«

»Ich wollte dich beschützen!«

»Schwachsinn!« Alessandro verschränkte wieder die Arme vor der Brust und sah Norman anklagend in die Augen. »Du wolltest ein Held sein! So wie immer.«

Norman klappte der Mund auf. Denn dieses eine Mal war es tatsächlich nicht so gewesen. Alessandro täuschte sich. Er täuschte sich gewaltig.

»Ich habe es für dich getan«, beharrte Norman. »Für dich. Und das, obwohl du nicht einmal bei mir bist!«

»Und wessen Schuld ist das?«, fuhr Alessandro ihn an. Seine grünen Augen sprühten Feuer in Normans Richtung. »Bestimmt nicht meine.«

Ausatmend schloss Norman die Augen. »Ich sagte, dass es mir leidtut.«

»Klar, damit ist ja auch alles wieder gut«, konterte Alessandro ironisch.

Norman breitete die Arme aus. »Was soll ich denn sonst tun?«

Sie sahen sich an. Eine gefühlte Ewigkeit rührte sich keiner von beiden, Alessandro blinzelte nicht einmal während er Norman fassungslos anstarrte.

Dann schnaubte Alessandro und fragte provozierend: »Wie geht’s deinem Freund, Norman?«

Norman senkte schuldbewusst den Blick.

»Was würde er wohl sagen, wenn er wüsste, dass du dich hier mit mir triffst?«

»Das geht ihn einfach nichts an«, sagte Norman, obwohl er wusste, dass das nicht stimmte.

Alessandro schüttelte über Norman den Kopf.

Es entstand erneutes Schweigen zwischen ihnen. Norman nutzte die Gelegenheit und musterte Alessandro sehnsüchtig von oben bis unten. Dabei fiel ihm die Spitze eines weißen Briefumschlags auf, der gefaltet aus Alessandros Jeanstasche ragte.

Norman runzelte die Stirn. »Was ist das?« Er nickte auf das Objekt, das ihn neugierig gemacht hatte.

Alessandro sah an sich hinab. Dann schob er den Umschlag in die Hosentasche, bis Norman ihn nicht mehr sehen konnte.

»Nichts. Nur Bargeld.«

Norman nickte, obwohl es ihm doch etwas seltsam vorkam. Andererseits besaß Alessandro kein Konto, sein Gehalt bekam er schwarz auf die Hand, und das ließ er sicher ungern in seiner Bruchbude liegen, wo man leicht einbrechen konnte.

Als die Stille zwischen ihnen anhielt und die Kluft zwischen ihnen immer größer und spürbarer wurde, hielt Norman es nicht mehr aus. Er wollte wegrennen oder auf ihn zu rennen, irgendetwas, nur damit die Situation sich änderte.

Entschuldige dich, forderte er sich selbst auf. Sag ihm, wie sehr er dir fehlt! Fleh ihn an, zurück zu kommen! Tu endlich irgendetwas!

Aber stattdessen brachte er nur kopfschüttelnd hervor: »Ich kann das nicht mehr.«

Alessandro wirkte traurig, als wüsste er, was Norman nun explizit meinte.

»Sie werden die Ermittlungen gegen Enio auf Eis legen«, beichtete er Alessandro und sah ihn entschuldigend an. »Ich fühle mich wie ein Versager. Ich habe nicht nur diesen Fall vermasselt, weil ich nichts gegen Enio vorweisen konnte, ich habe auch alles vermasselt, was dich betrifft. Ich hätte dich vor ihm retten sollen.«

Alessandro runzelte ärgerlich die Stirn. »Norman ... Hör auf, dich selbst zu bemitleiden.«

»Ich wünschte, ich könnte ...«

»Zieh dir diesen Schuh nicht an.« Alessandro klang etwas einfühlsamer. »Er hat mich sieben Jahre lang nicht bekommen, er wird mich auch jetzt nicht in die Finger kriegen. Es ist nicht deine Schuld, du hast alles getan, was du konntest. Jetzt ist es mein Problem. Allein mein Problem! Ich kann auch auf mich selbst aufpassen. Du hättest nur früher sagen müssen, dass du mir nicht mehr helfen kannst. Trotzdem, danke, dass du es versucht hast.«

Bei den letzten Worten verspürte Norman doch tatsächlich eine gewisse Erleichterung. Denn zwischen ihm und Alessandro waren zuletzt immer seltener nette Worte gefallen.

»Wir fanden heute eine Kinderleiche. Einen Jungen.« Norman wusste nicht, warum er es Alessandro erzählte. Er hatte das Bedürfnis, jemanden davon zu berichten.

Nein, nicht jemandem, sondern Alessandro.

»Ermordet?« Alessandros Frage klang trocken. Er war nicht so sentimental wie Norman. Oder er konnte es zumindest immer gut verbergen. Vielleicht lag es auch daran, dass er einfach zu abgebrüht und abgehärtet war vom Leben als Killer. Norman wusste aber, dass trotzdem ein gutes Herz in Alessandros Brust schlug, auch wenn er es nicht zeigte.

Norman nickte auf Alessandros Nachfrage hin nur stumm.

Alessandro kaute nachdenklich auf der Unterlippe. »Wie alt?«

»Fünf oder sechs.«

Wenn jemand ihnen zuhörte, könnte dieser annehmen, sie würden über etwas Belangloses sprechen, über Zugfahrpläne oder den Sommerregen, aber gewiss nicht über ein ermordetes Kind.

Alessandro zog den linken Mundwinkel mitleidvoll nach oben, als er begriff: »In Arnos Alter. Tut mir leid, Norman.«

Norman senkte den Blick und schluckte laut, ehe er weitererzählte: »Als ich dort stand ... war ich wie gelähmt. Und dann ... dann sah ich, wie er einatmete.«

Alessandro runzelte verwirrt die Stirn, er trat neugierig geworden etwas näher.

Norman sah ihn verzweifelt an. »Er war tot und ich dachte ... Nein! Ich habe tatsächlich gesehen, wie er einatmete. Obwohl er tot war! Und ich bin vollkommen ausgeflippt und habe geschrien, dass er noch lebt. Jan und alle anderen hielten mich für verrückt. Tun sie wahrscheinlich jetzt noch.« Norman sprach zu schnell, zu schrill. Er begann, aufgebracht hin und her zu wandern und wild zu gestikulieren. »Ich habe es wirkliche gesehen! Nicht nur im Augenwinkel und nein, es war nicht nur der Wind! Ich habe wirklich geglaubt, diese Bewegung zu sehen! Ich werde wahnsinnig!« Er hatte Tränen in den Augen, als er Alessandro flehend ansah. »Und ich weiß auch warum. Wegen dir! Weil ich dir nicht helfen konnte, obwohl ich es dir schulde. Außerdem habe ich eine Scheißangst um dich!«

»Norman!« Alessandro kam noch näher. »Es ist okay ...«

»Nein, ist es nicht!«, zischte Norman. »Ich hätte es tun müssen! Ich hätte ihn einbuchten müssen! Aber wie, wenn es nichts gibt, was seine Verbrechen nachweislich bestätigen kann? Er ist einfach zu gut für mich. Das macht mich irre. Es frisst mich auf! Und ich kann nicht schlafen, ich habe Alpträume, und bin ich wach, gebe ich mir ständig die Schuld dafür, dass du so grauenhaft leben musst-«

Alessandro sprang auf ihn zu und umfasste Norman Nacken mit allen zehn schlanken Fingern. Er sah ihm mit seinen grünen Augen eindringlich in das verzweifelte Gesicht.

»Norman«, hauchte er beruhigend. »Es ist okay. Es ist vorbei! Du hast mir geholfen, sehr sogar. Vergiss nicht, dass ich ohne dich noch immer ein Killer wäre, der sich selbst leugnen muss. Enio ist und bleibt mein Problem.«

Norman schniefte. »Deine Probleme sind auch meine.«

Nachdrücklich schüttelte Alessandro den Kopf. »Nicht mehr. Nein.«

Alessandros Augen glitten zu Normans Lippen und in seinem düsteren Blick las Norman die gleiche Sehnsucht, die auch er verspürte.

»Es ist vorbei«, sagte Alessandro eindringlich und blickte Norman wieder in die braunen Augen. Er ließ offen, ob er Enio meinte oder die Sache zwischen ihnen. »Und das ist okay. Ich werde damit alleine fertig.«

Das wollte Norman aber nicht, doch bevor er etwas einwenden konnte, lächelte Alessandro ihn zerknirscht an und sagte: »Vergiss den Fall, such den Mörder des Jungen. Hol dir deinen Ruf zurück! Und zerbrich nicht weiter an meinen Problemen.«

Norman hatte das Gefühl, das Alessandro sich jetzt verabschieden wollte und legte deshalb seine Hände um dessen dünne Unterarme, um ihn am Gehen zu hindern.

»Geh nach Hause in deine schicke Wohnung zu deinem spießigen Freund, Norman, und schlaf dich aus.« Alessandro lächelte, trotz der stichelnden Worte. »Du lebst jetzt dein Leben, und ich meines. Was der andere tut, geht uns nichts mehr an.«

Norman schüttelte den Kopf. »So war das nicht geplant.«

Alessandro überraschte Norman, als er ihn zu sich zog und ihn einfach küsste.

Norman spürte die weichen Lippen des anderen Mannes, warm und köstlich, wie sie sich mit seinen bewegten als er den Kuss ebenso leidenschaftlich erwiderte.

Er wollte gerade die Arme um Alessandro legen, als dieser seine Lippen bereits löste und sich abwandte.

»Sandro ...«, flehte Norman noch flüstern.

Aber Alessandro ging einfach weiter, in so großer Eile, dass es fast an Flucht grenzte.

Trotz des unglücklichen Ausgangs des Gesprächs, war Norman nicht gänzlich niedergeschlagen. Denn der Kuss hatte ihm gezeigt, dass sein Exfreund noch immer etwas für ihn empfand. Sehr viel sogar. Es war noch Zeit, sagte sich Norman, er hatte Alessandro noch nicht gänzlich verloren.

Und das war ausnahmsweise Mal eine gute Neuigkeit.

Herzbrecher

Подняться наверх