Читать книгу Herzbrecher - K.P. Hand - Страница 9

5

Оглавление

Während die Leute draußen im Regen froren, schwitzte sich Alessandro in dem Drecksloch, das er Wohnung nannte, seinen hübschen Allerwertesten ab.

Verdammt war das eine Hitze!

Müde taumelte er aus dem Bett und ging zur Heizung. Er war letzte Nacht spät nach Hause gekommen, weil er direkt nach seiner Schicht im Restaurant noch in einem dieser Nachtclubs gewesen war. Aber wie jedes Mal, war die Schwulenszene für ihn mehr enttäuschend als berauschend gewesen, weshalb er sich fragte, warum er es immer wieder versuchte. Die zuckenden Lichter, die halbnackten Körper, die zu wummerndem Bass tanzten, waren einfach nicht seine Welt. Vor allem nicht, wenn die heißen Kerle allesamt in seltsamen Unterhosen steckten, die mehr glitzerten als eine Diskokugel.

Das war nicht Alessandros Welt.

Also hatte er in einer Ecke gestanden und getan, was er selten bis gar nicht tat: getrunken. Einen überteuerten Cocktail nach dem anderen, um bloß nicht in diese Drecksbude zurückkehren zu müssen.

Als er nun zur Heizung ging und nachsah, was kaputt war, wünschte er sich, er wäre trotz seiner Abneigung dortgeblieben.

An der Heizung steckte so ein neumodisches Ding, das digital anzeigte, wie hoch die Heizung gedreht war.

Wunderbare 35Grad Celsius. Na prima! Das Ding musste kaputtgegangen sein, als er geschlafen hatte. Hätte es nicht einfach ausfallen können?

Alessandro tippte auf dem Display herum, der daraufhin nur noch höher anstieg. Fluchend griff er nach dem Knauf, um manuell die Heizung auszudrehen, als er diesen plötzlich in der Hand hielt.

Mit offenem Mund betrachtete er das abgebrochene Stück, ehe er es einfach achtlos auf die Heizung schmiss und liegen ließ.

Genervt fiel Alessandro die Schultern herab. Na prima! Und nu?

Er ging zum Fenster und zog es trotz des Regens auf. Einen Moment genoss er es, dass der Wind die kühlen Tropfen hinein und direkt auf seine heiße, verschwitzte Haut wehte ...

Herschlich so ein Unwetter!

Er ließ das Fenster offen, nahm seinen Schlüsselbund von der Küchenzeile, den er in der Nacht beim Hereinkommen dort abgelegt hatte, und ging zur Tür. Barfuß und nur in Boxershorts, die ihm halb von seinem Arsch hing, tapste er die morsche Holztreppe des Mietshauses hinunter zu den Briefkästen.

Er öffnete seinen und holte einen Stapel Briefe heraus. Alle adressiert an einen gewissen Francesco Maggio. Einen fiktiven Mann, den Alessandro sich ausgedacht hatte, um weiterhin in dieser Stadt leben zu können. Nachdem er seinen Bruder verraten hatte, war er gut damit bedient, vor allem vorsichtig zu sein. Außerdem suchte die Polizei nach ihm. Da war es doch ganz gut, sich als Italiener auszugeben, obwohl seine Herkunft spanische Wurzeln hatte. Als einfacher Einheimischer hatte er sich nicht ausgeben können, dafür sah sein Hautfarbton zu südländisch aus.

Während er die Rechnungen durchsah, und die vielen Mahnungen, weil er weder Strom noch Gas noch Miete seit drei Monaten bezahlt hatte, ging hinter ihm eine Wohnungstür auf.

Er warf einen Blick über die Schulter und schmunzelte freundlich der alten ergrauten Dame zu, die durch einen Spalt spähte und sofort breit grinste als sie ihn erblickte.

Es war seine Vermieterin. Sie war um die siebzig. Und sie hatte ein Auge auf ihn geworfen, das wusste er. An jenem Tag, als er sich auf die Anzeige der freien Wohnung bei ihr gemeldet hatte, hatte sie einen Narren an ihm gefressen.

Sofort hatte er den Mietvertrag unterzeichnen können. Ohne Kaution zu hinterlegen. Und trotz, dass er drei Monate im Rückstand war, bedrängte sie ihn nicht.

Es tat ihm leid, dass er sie so ausnutzte, aber seine finanzielle Lage sah im Moment ziemlich schlecht aus. Jedenfalls seit er allein für alles aufkommen musste.

Also stellte er sich mit seiner Vermieterin gut, damit sie ihn nicht rausschmiss.

»Einen schönen guten Tag, Fräulein Fisher«, begrüßte er sie und drehte sich mit einem breiten fast anzüglichem Grinsen zu ihr um, sodass sich ihre faltigen Wangen rot färbten. Sie liebte es, wenn er sie »Fräulein« nannte.

Sie war süß. Ihre blauen Augen strahlten immerzu, ihr Lächeln war liebenswert und sie war immer nett zu ihm. Ihr schneeweißes Haar trug sie hochgesteckt, wie eine Dame aus dem Neunzehnten Jahrhundert, und unter dem Blümchen Kleid und der weißen Strickjacke verbarg sie einen mütterlichen Körperbau, obwohl Alessandro nicht wusste, ob sie Kinder besaß. Aber doch, er würde sie als mütterlich bezeichnen. Warmherzig. Liebenswert.

»Sie tragen die Hitze mit sich«, schmunzelte sie und deutete auf seinen halbnackten Körper.

Er hätte jetzt das Problem mit der Heizung ansprechen können, doch er wollte ihr keine Vorwürfe oder Umstände machen. Zumal er ohnehin keine Miete zahlte. So frech wollte er dann doch nicht sein.

»Hitze?«, wiederholte er scherzhaft grinsend. »Was denken Sie denn? Ich friere mir den Arsch ab, aber ich wollte Ihnen keinesfalls diesen Anblick verwehren!« Er breitete arrogant die Arme aus und ließ seinen Körper sehen.

Sie hob eine Hand zum Mund und kicherte hinein. »Oh, Sie ...« Sie winkte ihn ab und schloss die Tür, wohl, weil er nicht sehen sollte, wie sich ihre Wangen noch dunkler färbten.

Zufrieden mit sich, weil er einer alten Dame den Tag versüßt hatte, ging er die Treppe wieder hinauf und schloss die Wohnungstür hinter sich.

Er sah die Briefe weiter durch und ging zur Küchenzeile, um sich einen Kaffee zu kochen, weil er zur Spätschicht wieder im Restaurant sein musste und dafür Koffein nötig hatte.

Doch er stockte, als ihm ein Briefumschlag ohne Absender oder Adresse in die Hand fiel. Dort stand ausschließlich ›Alessandro drauf.

Sein Herz sackte in die Hose. Es gab eigentlich nur eine Person, die seinen echten Namen kannte und wusste, dass er in der Stadt lebte.

Er öffnete den Umschlag, er war nicht verklebt, und holte einen kleinen Zettel hervor, der nur einmal in der Mitte geknickt worden war.

Alessandro faltete das Stück weiße Papier auseinander und las mit Unglauben die wenigen Worte die dort standen: Verlass sofort die Stadt!

***

Am anderen Ende der Stadt ließ sich Norman an den Rand des Geschehens drängen, damit die Kollegen von der Spurensicherung ihre Arbeit machen konnten.

Er kam sich seit dem Fund noch mehr wie ein Zombie vor. Er konnte nicht denken, nicht sprechen, sich kaum bewegen. Noch immer wollte sein Gehirn nicht wahrhaben, was er dort in der Sackgasse entdeckt hatte. Er konnte es nicht glauben, er wollte es nicht glauben.

Der starke Regen behinderte das Sichern des Tatortes ungemein, außerdem hatte das Regenwasser vermutlich größtenteils alle brauchbaren Spuren verwischt, nicht, das auf Beton viel zu finden gewesen wäre, aber trotzdem. Die zahlreichen Schaulustigen verbesserten die Lage auch nicht gerade, die trotz des starken Regens wie Motten zum Licht angeschwärmt kamen, sobald der erste Streifenwagen angerückt und das erste Absperrband angebracht worden war; unter ihnen konnte Norman bereits einige Reporter von Fernsehsendern, von bekannten Zeitungen und Internetportalen entdecken.

Zu Normans Füßen hatte sich eine Pfütze gebildet, direkt an der Kante zum Bordstein, er blickte hinab in das trübe Wasser und konnte sein Spiegelbild erkennen.

Was war nur aus ihm geworden?

Er stand am Rande eines Tatortes und konnte den Mund im aschfahlen Gesicht nicht mehr zuklappen. Vor einigen Jahren wäre er noch mittendrin gewesen und hätte sich angehört, was die Spurensicherung ihm zu erzählen hatte. Und dann wäre er in den Streifenwagen gestiegen und hätte den jungen Mann befragt, der nun auf der Sitzbank saß und unter Schock stand.

War er es gewesen?

Diese Frage stellte sich nicht nur Norman, auch Jan hatte etwas in der Art geäußert, sie würden den jungen Mann mitnehmen. Allein schon deshalb, weil sie bei ihm eine Schreckschusspistole in der Jackentasche gefunden hatten. Es war gut möglich, das er Norman und Jan ganz gezielt in die Gasse geführt hatte.

Gut möglich, aber Norman glaubte nicht daran. Früher hatte er immer ein gutes Gespür für das Wesen anderer Menschen gehabt, und bei diesem Jungen war sein Mörderradar nicht ausgeschlagen. Aber ein Kleinkrimineller war er auf jeden Fall, das hatte Norman ihm sofort angesehen. Die Schreckschusspistole bekräftigte Normans Theorie, dass der junge Mann den Laden hatte überfallen wollen. Er war nur zur falschen Zeit dort aufgetaucht. Norman hatte ihn nervös gemacht, er ist geflüchtet und zufällig auf die Leiche gestoßen.

Aber Jan hatte bereits seine eigene Theorie, von der er sich nicht abbringen lassen wollte. Er glaubte, der Junge habe sie mit Absicht zur Leiche geführt, und das er jetzt nur so tat, als stünde er unter Schock.

Aber Norman glaubte, der Junge müsste schon ein verdammt guter Schauspieler sein, denn Norman konnte ihn keineswegs durchschauen. Er saß mit gesenktem Kopf auf dem Rücksitz eines Streifenwagens und wartete völlig teilnahmslos darauf, dass man ihn fortbrachte. Er sprach kein Wort, sie hatten nicht einmal seinen Namen aus ihm herausbekommen können.

Norman kaufte ihm den Schockzustand ab.

Aber wie viel konnte Norman noch auf seine Intuition geben? Der Blick in die Pfütze zeigte deutlich einen weiteren geschockten Mann, der keinen klaren Gedanken fassen konnte.

Eine Kinderleiche. Der Junge etwa fünf oder sechs Jahre alt. Welches kranke Schwein tat einem Kind so etwas an?

Normans erster Gedanke, als er langsam begriff, dass er nicht nur in einem weiteren Alptraum steckte und irgendwann in einer heilen Welt wieder aufwachen würde, war schlicht und ergreifend jener: Ich will das nicht mehr machen.

Diese Erkenntnis traf ihn wie einen Schlag, doch der Gedanke war nicht neu. Er hatte Jahre in ihm gebrodelt, wie eine unentdeckte Bombe, deren Zünder noch scharf war.

Ich will das nicht mehr machen.

Sollten sich doch die anderen um den kranken Mist kümmern. Er wollte nichts mehr damit zu tun haben. Jan konnte sich damit auseinandersetzten.

Aber Norman konnte und würde nicht aufhören, nicht freiwillig. Die Arbeit war lange Zeit sein Leben gewesen, mit einigen schönen Unterbrechungen. Vor ein paar Jahren hätte er seine Arbeit sofort aufgegeben, denn Norman hatte damals noch ein Leben außerhalb der Arbeit gehabt. Ein richtiges Leben. Ein intaktes Leben. Ein absolut lebenswertes Leben; trotz der Alpträume.

Normans Blick glitt hinüber zu Jan, der hinter der Absperrung neben der zugedeckten Leiche des Jungen stand und sich mit dem Leiter der Spurensicherung unterhielt, einem älteren Herrn mit weißem Haar und Brille, eingepackt in einen weißen Anzug und bewaffnet mit Handschuhen und einem Koffer mit allerlei Utensilien. Normans Augen blieben an Jan hängen, wie so oft. Jan sah gut aus, wie sein blondes Haar so vom Regen durchnässt in seiner Stirn hing. Jan sah immer gut aus. Und sein Grips, sein immerzu perfektes Auftreten, seine charmante Ausstrahlung, seine fast Nerv tötenden Ideale und Moralansichten und seine geradezu hervorragende Arbeit machten aus ihm nicht nur einen Gewinnertypen, sondern den absolut begehrenswertesten Mann.

Normans Herz zog sich zusammen. Er wusste, er würde weitermachen. Er konnte einfach nicht aufhören und einem jungen, neuen, besseren Kollegen das sprichwörtliche Spielfeld überlassen. Das ließ sein Stolz nun mal nicht zu.

Jan hob den Kopf und begegnete Normans Blick. Seine Augen ließen nicht die geringste Gefühlsregung erkennen, er war kühl und professionell als er Norman ansah und mit einem Kopfnicken zu sich beorderte.

Norman wollte nicht. Sein ganzer Körper drängte sich mit Gewalt dagegen, sich der Leiche noch einmal zu nähern. Aber schließlich bewegte er sich doch und ging unter dem Absperrband durch.

Als er bei Jan ankam, ging dieser in die Hocke und griff nach der Plane.

Tu es nicht. Tu es nicht. Tu es nicht. Beschwor Norman ihn in Gedanken, während er gleichzeitig um Fassung bemüht neben Jan in die Hocke ging und so tat, als stünde er nicht kurz davor, sich neben der Leiche zu übergeben.

Jan hob wie befürchtet die Plane an und zeigte Norman das, was er nicht sehen wollte. Eine nackte Leiche eines Jungen mit dunkelbraunem, fast schwarzem Jahr, die Augen geschlossen, als würde er friedlich schlafen, die Haut kalt und bläulich blass, eine Einstichwunde im Brustbereich, wie von einem sehr breiten Messer, das gezielt ins Herz gestoßen wurde. Da sonst keine äußerliche Wunde zu sehen war, musste dieser Einstich zum Tod des Jungen geführt haben.

»Harper, der Mann von der Spurensicherung, sagte, der Junge sei noch nicht lange tot. Ein paar Stunden, die genaue Zeit werden wir nach der Obduktion erfahren. Aber jemand muss die Leiche gewaschen haben«, berichtete Jan.

Norman starrte noch immer auf die Leiche. »Ich weiß, wer Harper ist.«

Jan warf ihm einen genervten Blick zu, erwiderte aber: »Natürlich. Tut mir leid.« Ein Zeichen dafür, dass er jetzt wichtigeres im Kopf hatte als sich mit Norman wegen belanglosem zu streiten.

»Gewaschen?«, hakte Norman nach.

Sie sahen sich an.

»Ja.« Jan nickte. »Der Einstich ging tief, er muss enorm viel Blut hinterlassen haben, aber hier ist kein Blut.«

»Könnte am Regen liegen.«

Jan schüttelte den Kopf. »Harper hat die Leiche weitestgehend untersucht, nachdem sie Fotos geschossen haben. Keine Blutspuren am Körper.«

»Vielleicht wurde die Wunde nach Eintritt des Todes zugefügt.«

Wieder schüttelte Jan den Kopf. »Der Einstich ging tief, es hätte auf jeden Fall geblutet, auch wenn der Junge bei Zufügen der Wunde schon tot gewesen war. Außerdem sind die Fingernägel des Jungen absolut sauber, das Haar sieht frisch gewaschen aus und die Leiche duftet nach Shampoo und Seife.«

Norman war nicht nahe genug herangegangen, um das bemerken zu können.

»Die Leiche wurde jedenfalls nicht hier ermordet«, schlussfolgerte Norman. Das hier war kein Tatort, sondern ein Fundort. Er sah sich kurz in der Seitengasse um und nickte bestätigend, als hielte er eine Unterredung mit sich selbst.

»Die Leiche wurde hier nur entsorgt.« Sein Blick blieb am Müllcontainer hängen. »Aber warum so offensichtlich? Warum nicht im Müll, wo man sie vielleicht nicht findet?«

Jan ließ die Plane wieder fallen, damit die neugierigen Blicke der Passanten nicht doch noch irgendwie den Jungen erreichen konnten.

»Vielleicht wurde der Täter überrascht«, überlegte Norman. »Er musste weglaufen bevor er sie in den Müll werfen konnte, weil ihn jemand mit der Leiche erwischt hat. Oder fast erwischt hätte.«

»Oder die Leiche sollte gefunden werden.« Jan erhob sich und sein scharfer Blick richtete sich sofort auf den Streifenwagen, in dem ihr junger Fast-Überfalltäter saß. »Was uns zurück zu unserem bisher einzigen Verdächtigen bringt.«

Norman kam aus der Hocke ebenfalls wieder hoch und runzelte skeptisch seine Stirn, als er Jan erklärte: »Ich glaube nicht, dass er es war. Er scheint wirklich unter Schock zu stehen.«

Norman spürte sofort Jans herablassenden Blick auf sich und erwiderte ihn mit vorgestrecktem Kinn, um zu signalisieren, dass er sich nichts gefallen lassen wollte.

Jan sagte trotzdem frech: »Und deiner Intuition vertraust du noch?«

Normans Mimik fiel augenblicklich in sich zusammen, er wollte gerade wutentbrannt auf Jan losgehen, vor allen Leuten, als er im Augenwinkel glaubte, etwas zu sehen.

Sein Kopf flog herum und er starrte hinab auf die Leiche.

Hatte sich die Plane gerade bewegt?

Als wäre nichts vorgefallen, beschloss Jan: »Lass uns fahren und den Jungen verhören.«

Aber Norman starrte noch auf die Jungenleiche. Er musste sich das eingebildete haben.

Sie sahen sich wieder an und Norman nickte, als ...

Er fuhr wieder herum, als sich die Plante bewegte.

Vielleicht der Wind?

Aber es ging gerade kaum Wind, vor allem nicht in dieser Sackgasse, außerdem würde der starke Regen die Plane doch nach unten drücken ...

»Norman?« Jan musterte ihn kritisch von der Seite. »Ist alles okay?«

Norman hörte ihn wie durch Wasser, die Worte waren dumpf und kaum zu verstehen ...

Da war es wieder. Und diesmal sah er es deutlich. Die Plane bewegte sich. Die Leiche bewegte sich. Erneut geschah es, so als atmete der Junge plötzlich tief ein.

»Da!« Norman zeigte auf die Leiche.

Jan und einige Umstehende folgten mit den Augen Normans Fingerzeig, dann blickten sie ihn halb verwirrt und halb besorgt an.

Vorsichtig streckte Jan eine Hand nach Normans Schulter aus. »Norman ...?«

In jenem Moment geschah es wieder und diesmal glaubte Norman sogar, den Jungen einatmen zu hören.

»Er lebt!« Norman zuckte mit der Schulter, bevor Jans Hand darauf landete, und wollte dem Jungen zur Hilfe eilen ...

Jan packte ihn von hinten, umschlang ihn mit beiden Armen. »Norman!«

»Er lebt noch!« Norman versuchte, sich frei zu kämpfen. »Da! Seht! Er atmet. Er atmet!«

Norman rief, er brüllte fast. Verzweiflung packte ihn, weil alle Umstehenden – Kollegen, die Spurensicherung, Schaulustige und Reporter – ihn erstarrt und fassungslos anstarrten, statt dem Jungen unter der Plane zu helfen.

»Norman!« Jan packte ihn bei den Schultern und wirbelte ihn herum. Noch bevor Norman sich gezwungenermaßen gänzlich zu ihm umgewandt hatte, klatschte ihm Jans flache Hand ins Gesicht, damit er zur Besinnung kam.

Aber Norman blieb dabei. »Er lebt noch!«

»Herrgott!« Jan packte ihn grob am Arm, als wäre er ein ungehorsamer Bengel, der weggeführt werden musste, damit der Vater ihm, verborgen vor neugierigen Blicken, Vernunft einbläuen konnte.

Aber Jan führte ihn nicht fort, er zerrte ihn zu dem Jungen hinunter und schlug die Plane zurück.

»Sieh her!« Jan deutete deutlich auf die Leiche. »Er ist tot, Norman! Mausetot! Er ist nur noch eine leblose Hülle. Kalt. Siehst du es?«

Und ob er es sah, es gab keinen Zweifel am Zustand des Jungen. Es sei denn, er wäre ein Zombie.

Jan schlug die Plane wieder zu, packte erneut Normans Arm und zerrte ihn vom Fundort fort, unter dem Absperrband durch bis zu den Streifenwagen, außerhalb des Geschehens. Während dessen wurden sie von Blicken verfolgt, verständnislosen Blicken von Kollegen, neugierigen Blicken von Reportern und anklagende Blicke von schockierten Passanten.

Als sie zu alledem etwas Abstand gewonnen hatte, blieb Jan stehen und drehte Norman zu sich um.

»Was ist in dich gefahren?«, zischte er leise aber unmissverständlich mächtig angepisst von Normans Auftritt.

Norman blinzelte und schob es auf den Schlafmangel. Es war nicht das erste Mal, dass er etwas sah, das gar nicht da war. Für gewöhnlich passierte es ihm jedoch in Situationen, in denen er alleine war. Nachts, wenn er ziellos durch die Wohnung schritt, aber niemals am Tag unter Menschen.

Na ja, es gab für alles ein erstes Mal.

»Du brauchst dringend Schlaf, Norman!«

Jan hielt ihm eine Predigt, die Norman nur halbherzig mit anhörte, er sah nur an seinem Kollegen vorbei zum Fundort.

Er hatte sich das nicht nur eingebildet, es hatte für ihn tatsächlich real gewirkt. Er hatte genau auf die Leiche gesehen, als sie sich bewegt hatte.

Ganz sicher.

Oder konnte er zu allem Überfluss nun auch nicht mal mehr seinem Verstand trauen?

»Du kannst so was nicht noch mal bringen«, trichtere Jan ihm ein, als wäre er Normans strenge Mutti. Wobei Norman keinen echten Vergleich hatte, da er als Waise in einem Waisenhaus aufgewachsen war und nicht wirklich wusste, wie sich eine echte strenge Mutter benommen hätte.

»Was sollen die Kollegen von dir denken!« Jan schüttelte anklagend seinen Kopf. »Sie zerreißen sich ohnehin schon genug das Maul über dich. Und du gibt’s ihnen immer wieder neuen Stoff zum tratschen. Die glauben doch alle, du wirst langsam irre. Und weißt du was, allmählich befürchte ich das auch ... Hörst du mir eigentlich zu?«

Norman konnte nicht antworten, denn das Klingeln seines Smartphones lenkte ihn ab; nicht, dass er vorgehabt hätte, Jan zu antworten.

Norman holte sein Smartphone aus der Manteltasche und warf einen Blick auf das Display, während Jan neben ihm die Hände in die Seiten stemmte und auf eine Erklärung wartete.

Unbekannte Nummer.

Normans Herz begann sofort Purzelbäume zu schlagen.

»Da muss ich ran.« Er drehte Jan die kalte Schulter zu und nahm den Anruf unter dessen empörten Gesichtsausdruck an.

»Ist das dein Ernst?«, fragte Jan. Er begriff, dass er ignoriert wurde und sagte sauer zu Norman: »Ja, bitte, geh doch einfach ran, ich spreche solange mit der Luft, kein Problem, erzielt ja denselben Effekt!«

»Norman Koch«, meldete er sich gewohnheitsmäßig, Jan ignorierend.

Am anderen Ende der Leitung blieb es einige Sekunden still, die Norman wie eine Ewigkeit erschienen. Er hörte es rauschen, vermutlich vom Regen. Der Anrufer befand sich irgendwo draußen, unter einem Blechdach, wenn Normans Gehör ihn nicht auch noch täuschte.

Lautes Einatmen, dann eine Frage ohne Einleitung: »Bist du allein?«

»Nein«, antwortete Norman kurz angebunden und warf einen Blick auf Jan, der ihn ganz genau beobachtete und ihm keinerlei Privatsphäre gönnte.

»Ich muss dich sehen«, sagte der andere am anderen Ende der Leitung. »Sofort. Verlassene Bahnhofstation. Komm allein.«

Nach der beinahe kryptischen Anweisung wurde das Gespräch sofort beendet.

Norman nahm wie betäubt das Handy vom Ohr. Er war enttäuscht, hatte er sich doch mehr erhofft, als er »Unbekannte Nummer« auf dem Display gelesen hatte.

Er riss sich zusammen und erwiderte Jans Blick, der darauf wartete, dass Norman ihn aufklärte. Aber das tat Norman nicht. Das einzige, was er jetzt noch Jan zu sagen hatte, war: »Ich muss kurz weg, wir sehen uns auf dem Polizeipräsidium.«

***

Er würde es wieder tun.

Während er unter seiner Baseballkappe hervorblickte und die beiden Polizisten beobachtete, wusste er mit absoluter Sicherheit, dass er es erneut tun würde.

Der eine hatte es begriffen. Der dunkelhaarige Polizist. Er hatte es verstanden. An diesem Ort war er der einzige Mensch, der genau die erwartete Reaktion zeigte, die gewünscht war. Er war schockiert, fassungslos und betroffen gewesen. Während der andere, der blonde Polizist, berechnend kühl und unerträglich professionell geblieben war, als hätte er nicht das schönste Geschöpf der Welt entdeckt: ein totes Kind.

Und deshalb würde er es wieder tun.

Er sah sich nicht als Mörder, obwohl er wusste, dass er gemordet hatte. Aber es war notwendig gewesen. Für den armen Jungen. Er sah sich mehr als der Erlöser dieses Jungen an.

Und die Welt musste es auch sehen. Sie mussten begreifen, dass dieser Junge betrauert werden musste, aber nicht wegen des Umstandes, dass er jetzt tot war, sondern wegen der Jahre, die er als dieser Junge hatte leben müssen.

Es musste wieder passieren, es gab noch mehr von diesen Kindern. Jenen Kindern, die eine Erlösung dringend nötig hatten. Kinder, die er vor Schlimmeren beschützen musste.

Er dachte an seine eigene Kindheit. Daran, wie er viel zu oft unsittlich berührt worden war, wie er genötigt worden war, seinen Entchen-Pyjama ausziehen, wie er gezwungen worden war, still zu liegen ...

Er spürte die Scham, aber auch die Wut, weshalb er die Erinnerung unterdrückte, so gut er konnte. Doch so sehr er es auch versuchte, er hörte noch heute die Stimme in seinem Ohr, die ihn nachts aus dem Schlaf riss. »Still, oder ich erstick dich mit dem Kissen.«

Ich erstick dich mit dem Kissen.

Ersticken mit dem Kissen.

Ersticken. Kissen.

Für einen siebenjährigen Jungen waren diese Worte gleichzeitig unbegreiflich und doch bis zur Schockstarre erschreckend verständlich. Besonders nach dem ersten Mal, wenn sie erneut gesprochen wurden und man wusste, was darauffolgte.

Und Mutter? Mutter war nicht besser. Sie kam auch, sie kam dazu, oder wenn ihr Lover fertig mit ihm war. »Du musst Mami glücklich machen, sonst lass ich dich mit ihm allein. Willst du das?«

Mami glücklich machen, sonst allein mit ihm.

Leben und leiden, oder leiden und sterben?

Ein Junge sollte diese Entscheidung nicht treffen müssen. Im Nachhinein wäre es vermutlich besser gewesen, von diesem Kissen erstickt zu werden.

Wie oft war es passiert? Wie oft hatten sie ihn verunreinigt? Und wie oft hatten sie es festgehalten? Mit der Kamera gefilmt, was sie ihm tagtäglich antaten. Mutter hinter der Kamera, ihr Lover auf ihm. Wie oft hatte er unter der Dusche gestanden und versucht, sich wieder rein zu waschen?

Er wünschte, damals wäre ihm jemand über den Weg gelaufen, der ihn erlöst und gewaschen hätte, damit er so friedlich ewig schlafen konnte wie der Junge, den er in der Sackgasse abgelegt hatte.

Und der Rest der Welt musste es auch begreifen, sie mussten erkennen, dass diesen Kindern nur noch so geholfen werden kann. Das Einzige, was sie noch für sie tun können, war, dafür zu sorgen, dass ihr schönes, totes Ansehen nicht in Vergessenheit geriet. Durch den Fund des Jungen hatte er dafür gesorgt, dass er nicht vergessen wird. Vermutlich würden viele Menschen Spenden sammeln und ihm sogar ein schönes Begräbnis organisieren und einen hübschen Grabstein. All das hätte der Junge nie von seiner mittellosen Mutter bekommen. Niemals.

Er fühlte sich gut. Wie ein richtiger Gutmensch. Als hätte er mit einer Hilfsorganisation Häuser für Arme gebaut. Obwohl seine Tat um ein Vielfaches anerkennender war.

Er hatte Leben genommen, um eine Seele zu retten. Den Jungen hatte er erlöst, der Mutter hatte er das Herz gebrochen. Beide hatten bekommen, was sie verdienten.

Ja, er würde es wieder tun.

Und auch dann würde er sich gut fühlen.

Herzbrecher

Подняться наверх