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ОглавлениеAls Norman einige Zeit später im Polizeipräsidium auftauchte, führte ihn sein Weg direkt zu einem der fünf Vernehmungsräume. Der dritte vom Flureingang aus war der einzig besetzte.
Doch bevor er mit seinem Becher Kaffee die Tür erreichte, tauchte hinter ihm sein Vorgesetzter Hermann Schreiber auf.
»Norman? Hast du eine Sekunde?«
Am Tonfall der dunklen Stimme und an der Art wie Schreiber Norman ernst ansah, wusste Norman, dass er lieber keine Zeit hatte.
»Hat jemand die Identität der Leiche herausgefunden?«, fragte Norman ablenken.
Schreiber blinzelte ihn perplexe an. »Hm, was?«
»Der Junge«, half Norman ihm auf die Sprünge und war froh darüber, erfolgreich das Thema gewechselt zu haben. »Wissen wir schon, wer der Junge ist, beziehungsweise, war?«
Schreiber brauchte eine Sekunde um Normans Frage zu verstehen. »Ähm. Nein.«
Norman runzelte irritiert die Stirn. »Keine Vermisstenmeldung passt?«
»Es gibt ehrlich gesagt keine Vermisstenmeldung zurzeit. Das ist ja so kurios.«
Norman wurde bleich. »Niemand sucht nach dem Jungen?«
Traurig schüttelte Schreiber den Kopf. »Nein, im Moment jedenfalls nicht.«
Ein totes Kind, dass niemand vermisst. Norman hatte bisher nichts erlebt, was ihn hätte trauriger machen können.
Norman wandte sich um und ging zum Vernehmungsraum.
»Norman!«, hielt Schreiber ihn wieder auf, in seiner Stimme lag Dringlichkeit. »Wir müssen uns unterhalten.«
»Später«, sagte Norman ausweichend und griff nach dem Türknauf. Er zog sie auf und schlüpfte in den Vernehmungsraum.
Schreiber wandte sich kopfschüttelnd ab, aber er überließ Norman die Entscheidung, wann dieser das Gespräch führen wollte. Zweifelsohne würde es um den Vorfall beim Leichenfundort gehen, das wusste Norman. Jeder hätte es an seiner Stelle gewusst.
Als Norman den Raum betrat, blickte Jan ihn überrascht an, als habe er niemals damit gerechnet, Norman hier zu sehen.
Den Blick ignorierend schlenderte Norman hinter Jans Stuhl vorbei und setzte sich dann neben Jan an den Tisch, wo der Junge ihnen gegenübersaß und vor sich hinstarrte.
Der Vernehmungsraum war wie jeder andere Vernehmungsraum und genau so, wie man ihn sich vorstellte. Vier Wände, eine Decke, eine Tür, ein Tisch und drei Stühle, die alle in der Mitte vom Raum platziert waren, und eine Lampe, die über ihren Köpfen hing. Grauer Teppich, kahle Wände und die Decke über ihnen wies dunkle Flecken auf.
Norman nippte an seinem Kaffee, bevor er den Becher abstellte und Jan direkt fragte: »Seit wann ist es gestattet, eine Vernehmung alleine durchzuführen?«
Jan blieb ganz cool, er lehnte lässig in seinem Stuhl als wäre er fünfzehn und in einem Klassenzimmer, wo er mit seinem Draufgänger Gehabe Eindruck schänden musste. Er antwortete nur: »Ich wusste nicht, ob du wiederkommst.«
Norman sah von Jans überheblichem Gesichtsausdruck hinab auf den Tisch, wo ein Notizblock lag, auf dem noch nichts notiert worden war.
Norman wandte sich souverän an den jungen Mann, der seine Baseballmütze abgenommen hatte und dessen dunkles Haar wuschelig abstand, als wäre er gerade frisch aus dem Bett gefallen. Seine Kleider waren durchnässt, aber er schien nicht zu frieren. Er schien allgemein nichts zu spüren, er saß nur teilnahmslos und blass zusammengesackt auf seinem Stuhl.
»Also?«, begann Norman. »Da ich nicht weiß, was mein Kollege schon gefragt hat, beginne ich einfach von Anfang an, auch wenn Gefahr besteht, dass du dich wiederholen musst. Wie heißt du?«
Der Junge rührte sich nicht.
Jan seufzte unglücklich und klappte den Notizblock zu. »Gib dir keine Mühe, er spricht nicht, sieht nicht einmal auf. Er reagiert nicht. Ich habe bereits einen Psychologen angefordert, der Kollege müsste bald Zeit haben.«
Norman dachte gar nicht daran, auf einen Polizeipsychologen zu warten, er selbst würde aus dem Jungen schon etwas rausbekommen. Einatmend lehnte sich Norman etwas über den Tisch, legte die Arme auf den weißen Lack der Platte und sagte vertrauenswürdig: »Wir wollen mit dir nicht darüber reden, weshalb du vor uns weggelaufen bist. Wir wollen nur von dir wissen, ob du irgendetwas über diesen Jungen weißt. Vielleicht ist dir etwas aufgefallen, bevor du in den Sandwichladen kamst?«
Der Junge zeigte noch immer keinerlei Reaktion, aber Norman wartete noch einige Minuten geduldig ab. Er konnte gut verstehen, dass er verstört war. Auch er bekam das Bild der Leiche nicht aus seinem Kopf. So etwas sollte kein Mensch jemals sehen müssen!
»Wir wollen dir nichts Böses«, sprach Norman weiter auf ihn ein, dabei klang er erschreckend genau wie der Arzt zu dem er selbst immer ging. »Wenn du etwas gesehen hast, irgendetwas, bevor du den Laden betreten hast, könnte uns das helfen, den Schuldigen zu finden.«
Jan verlor die Geduld, als der Junge nach fünf weiteren Minuten noch immer eisern schwieg. Er holte etwas hervor, dass er die ganze Zeit gut vor den Augen des Jungen unter dem Tisch versteckt hatte, und legte es auf dem Tisch. Es war die Schreckschusspistole.
»Was ist hiermit?«, fragte Jan und zog die Hand wieder zurück. »Was hattest du damit vor?«
Damit machte Jan Normans ganze Strategie kaputt. Norman sah Jan sauer an.
Dieser Blick entging dem Jungen nicht. Und das war schlecht. Er durfte nicht wissen, dass Jan und Norman gegeneinander arbeiteten und er sie gegeneinander ausspielen konnte.
Der Junge sah die Pistole an und seine Augen verharrten lange darauf.
Plötzlich fragte er: »Ist er tot?«
Überrascht sahen Norman und Jan sich an.
Gleichzeitig setzten sie sich in ihren Stühlen aufrecht hin.
»Ja«, bestätigte Norman traurig. Er versuchte, dem Jungen ins Gesicht zu sehen und glaubte, Tränen zu entdecken. Da dämmerte es ihm: »Kanntest du ihn? Den Jungen?«
Neben Norman wurde Jan immer neugieriger, sein Körper beugte sich immer mehr über den Tisch zu dem Jungen, als befürchtete er, etwas zu überhören, wenn er nicht nahe genug an dem Verhörten dran war.
Mit nach Boden gerichteten Blick nickte der Junge. Norman beobachtete, wie er schwer schluckte, doch er weinte nicht. Er war einfach zu geschockt.
»Wer ist er?«, fragte Norman vorsichtig.
Der Junge schniefte und sah Norman dann gefasst ins Gesicht. »Mein kleiner Halbbruder.«
***
»Er war gestern Nacht wieder in diesem Club, ich habe gesehen, wie er reingegangen ist, aber in der Menge ging er mir verloren.«
Florenz Bernardi klappte eine Ecke seiner Zeitung runter und sah darüber hinweg zum Arbeitstisch seines Chefs: Enio Martin saß hinter seinem imposanten Tisch, aus dunklem Holz und mit Gold verzierten Schnitzereien, der eines Königs würdig gewesen wäre, während Brian vor ihm stand und wütend die Arme vor der Brust verschränkte.
»Ich hätte ihn töten können!«, sagte Brian zornig zu Enio. »Warum willst du diesen Verräter überhaupt lebend wiederhaben? Wir sollten ihn eliminieren, bevor er gegen uns aussagt.«
»Das wird er nicht«, mischte sich nun auch Florenz ein. »Wenn er sich stellt, werden sie ihn ebenfalls einbuchten, alle suchen nach ihm, wegen dem Gewehr, das am Tatort gefunden wurde, als man Franklin verhaftete. Seine Fingerabdrücke waren darauf und mit der Waffe wurden mehrere von Franklins Handlangern getötet. Sie werden ihn einbuchten, wenn er sich an die Polizei wendet. Und seine Freiheit riskiert er nicht.«
Brian warf Florenz einen genervten Blick zu. »Du bist ein echter Klugscheißer, was?«
Seufzend meldete sich Enio zu Wort, bevor es Streit gab. »Brian«, begann er mit bedächtiger Stimme, die deutlich zeigte, dass er seine nächsten Worte todernst meinte. »Wie ich mit meinem Bruder verfahre, ist immer noch meine Entscheidung!«
»Aber er ist ein Verräter! Und er hat uns belogen! All die Jahre lang, diese kleine, dreckige Schwuchtel!« Brian fluchte ordentlich. »Wenn ich überlege, wie oft wir ihm den Arsch gerettet haben, und so dankt er es uns?«
Als sie vor wenigen Wochen durch reinen Zufall Alessandro gesehen haben, wie er einen Club für Homosexuelle besuchte, war das für sie alle ein Schock gewesen. Aber nur Brian hatte eine deutliche Abneigung gezeigt, als er hörte, dass Enios kleiner Bruder, ihr aller Freund, homosexuell war. Aber Enio interessierte es eigentlich wenig, wen sein kleiner Bruder fickte, aber der Verrat war nicht hinnehmbar. Zumal hinter Alessandro die gesamte Branche her war. Hinter ihm und Franklin. Was würde es für ein Licht auf Enio werfen, wenn er Alessandro nur verschonte, weil sie Brüder waren?
Kein gutes, er würde schwach erscheinen. Und als Boss einer so großen Organisation konnte er sich Schwäche nicht leisten.
»Lebend!«, betonte Enio. »Das ist mein letztes Wort.«
»Wir verlieren ihn aber immer wieder!« Brian lehnte seinen schlanken Körper nach vorne und stützte sich mit den Handballen auf die Kante von Enios Arbeitstisch. »Wir wissen nur, welchen Club er hin und wieder mal besucht, aber in der Menge kann er schnell verschwinden, als wüsste er, dass er verfolgt wird.«
»Er rechnet sicher damit«, stimmte Florenz von seinem Sessel aus zu. Er hatte die Zeitung zusammengefaltet und auf der Lehne liegen lassen.
Enio betrachtete ihn musternd mit seinen blauen Augen. »Und du hast beim letzten Mal wirklich nicht herausgefunden, wo Alessandro derzeit wohnt?«
»Nein«, log Florenz. »Er ging mir ebenso verloren.«
Enio nickte bedauernd und wandte sich schließlich wieder ausatmend seinen Unterlagen zu. Wertpapiere, wenn Florenz es von seinem Platz aus richtig erkannte.
»Versucht es weiter«, sagte Enio nur zu Brian und schickte ihn dann mit einem Wedeln seiner rechten Hand nach draußen, in der er bereits einen goldenen Kugelschreiber hielt.
Brian fuhr sich noch einmal über den braunen Bart, der um seinen Mund herum gewachsen und sorgsam gepflegt war. Dann wandte er sich ab, und stampfte sauer aus dem Raum.
»Was ist mit dem anderen, diesem Valentin?«, fragte Florenz und erhob sich aus seinem Sessel.
Als er vor Enios Schreibtisch trat, konnte er gut erkennen, dass der Stuhl, auf dem sein Boss saß, zu klein für dessen imposante Statur war. Enio war ein gut gebauter Mann, groß, gebräunte Haut, dunkles Haar, das ihm in der Stirn hing, blaue strahlende Augen und kräftige Muskeln, wie bei einem Mittelklasse Boxer.
Enio sah nicht auf, als er erwiderte: »Ich habe mich bereits darum gekümmert.«
»So?« Florenz wurde sofort hellhörig. »Inwiefern?«
»Lass das meine Sorge sein, kümmere du dich um deine Aufgaben.«
Wenn Enio nicht bereit war, etwas preiszugeben, half nicht einmal Betteln etwas. Also wandte sich Florenz mit den Worten ab: »Ich werde mich dann mal in die Polizeidatenbänke einschleusen, mal sehen, ob sie vielleicht Hinweise zum Verbleib deines Bruders haben.«
Enio nickte nur noch, er war bereits wieder in seine Arbeit vertieft.
Florenz verließ besorgt den Raum und nahm die Treppe der Villa nach oben zu seinem Zimmer.
Seit Alessandros Verrat ans Licht gekommen war, war Enio nicht mehr derselbe Mann. Er stürzte sich in Arbeit, als wollte er nicht darüber nachdenken, dass er von seinem eigenen Fleisch und Blut verraten worden war.
In seinen Räumen angekommen, verschloss Florenz schnell die Tür und eilte zu seinem eigenen Schreibtisch. Er nahm Füller und Notizblock aus der Schublade und schlug den Block auf, bis er eine freie Seite vor sich hatte.
Eilig schrieb er etwas auf die leere Seite, dann riss er den Zettel aus dem Block.
Er würde nicht die Datenbänke durchforsten, nicht jetzt jedenfalls, er musste erst noch einmal ganz dringend in die Stadt fahren, am besten bevor Brian das Haus verließ.
***
»Der Junge ist also dein kleiner Bruder?«, hakte Jan nach, man sah und hörte ihm an, dass er diesen Gedanken noch nicht richtig greifen konnte.
Der junge Mann ihnen gegenüber wandte sich an Norman, als er sprach, und ließ Jan vollkommen links liegen. »Wir leben nicht zusammen. Matti lebte bei einer Pflegefamilie und Mama darf ihn nur selten haben.«
»Matti? Heißt er so?«, fragte Norman.
Der Junge nickte.
»Und du bist?«
Tief Luft holend antwortete er: »Nicci.«
»Nicci und Matti«, wiederholte Norman.
Jan nahm einen Stift zur Hand. »Kannst du uns den vollen Namen deines Bruders nennen?«
»Matthias Rena.«
»Und deiner lautet?«
»Nicolas Rena«, antwortete Nicci. »Wir tragen beide den Mädchennamen unserer Mutter.«
»Ihr habt die gleiche Mutter?«, fragte Norman.
»Ja.«
»Aber verschiedene Väter?«
»Mhm.«
»Und Matti wäre jetzt eigentlich bei seiner Pflegefamilie?«
Nicci zuckte mit den Schultern. »Ich ... weiß nicht. Ich habe ihn vor drei Tagen dort abgeholt, für Mama. Ich weiß aber nicht, wie lange er bei ihr bleiben durfte.«
»Wo wohnst du denn?«, fragte Jan etwas zu grob. Er machte Notizen obwohl Norman sah, dass auf dem Tisch ein eingeschaltetes Diktiergerät lag. Jan war eben fleißig und Nerv tötend überkorrekt.
Nicci antwortete nicht.
»Offiziell?«, hakte Norman nach. Er war – untypisch für ihn – einfühlsamer als Jan, weil er den Gemütszustand des Jungen verstehen konnte.
»Offiziell lebe ich bei meiner Mutter«, bestätigte Nicci. »Ich lebte auch kurz dort, wo Matti jetzt ist, aber die wollten mich nicht, weil ...«
Jan zog eine Augenbraue hoch. »Weil ...?«
Nicci verschloss sich wieder und sah stumm zur Wand.
Norman fragte etwas Anderes: »Und du bist nicht oft bei dir zu Hause?«
Nicci starrte zu Boden, als er den Kopf schüttelte.
»Wo bist du dann?«
Er zuckte mit den Schultern, sah immer noch nicht auf. »Mal hier, mal dort. Bei Freunden, Bekannten. Bei meiner Oma.«
»Bekannte der Familie?«
Nicci schüttelte den Kopf.
Norman leckte sich über die Lippen und zuckte kurz innerlich zusammen, als er Alessandro darauf schmecken konnte. Salzig süß, als habe sich Schweiß von der Oberlippe mit dem Saft einer Melone auf den Lippen vermischt. Sofort erkannte er, dass er im selben Raum saß wie damals, als er Alessandro das allererste Mal verhört hatte.
Er musste die süße Erinnerung erst einmal verdrängen, sonst hätte er sich nicht mehr konzentrieren könnten.
»Nicci – ich darf doch Nicci sagen, oder?«
Er nickte.
»Nicci«, fuhr Norman fort, »wie alt bist du?«
»Fünfzehn.«
Deshalb hatte er keinen Personalausweis bei sich getragen, die wurden ja erst ab einem Alter von Sechzehn ausgestellt.
»Gehst du zur Schule?«
Nicci nickte.
»Wo?«
»St. Marienstadt Gesamtschule.«
Norman nickte, während Jan sich alles halbherzig notierte. Die ganzen belanglosen Fragen dienten nicht nur zur Informationssammlung, sondern sollten Nicci auch in Sicherheit wiegen und ihm das Gefühl geben, das er hier nicht als Verbrecher saß.
»Wie heißt deine Mutter?«
»Chantal Rena.«
Chantal ... Norman hasste diesen Namen. So leid ihm der Gedankengang tat, doch die meisten Frauen mit dem Namen Chantal entstammten einer mittellosen asozialen Familie und führten diese Tradition stolz fort. Wie gesagt, die meisten, die er kannte, nicht alle!
»Wo wohnt sie, beziehungsweise, ihr?«
»Johannesstraße 267, aber auf der Klingel steht der Name ihres Stechers.«
»Der da wäre?«, mischte Jan sich ein.
Nicci antwortete ihm ausnahmsweise, dabei hörte man deutlich heraus, dass er den Freund seiner Mutter nicht ausstehen konnte. Er spuckte den Namen aus, als sei er Gift: »Günter Seibert.«
Jan notierte sich alles und unterstrich den Namen.
Norman fragte weiter: »Weißt du, warum niemand deinen Bruder als vermisst gemeldet hat?«
Nicci zuckte mit den Schultern, ganz in Teenager Manier. »Nein, keine Ahnung.«
»Hast du deinen Bruder umgebracht?«
Fassungslos starrte Nicci Norman an.
Norman erwiderte den Blick ohne sich zu regen, um zu verdeutlichen, dass er die Frage durchaus ernst nahm.
»Was?« Nicci schüttelte sofort den Kopf. »Ich würde doch nie ...«
»Ich sage dir, was ich glaube«, unterbrach Jan ihn. Arrogant lehnte sich Normans blondierter Kollege zurück und warf den Kugelschreiber auf den Notizblock. »Ich glaube, du warst eifersüchtig auf Matti. Ist doch so, oder? Weil er in der Pflegefamilie bleiben durfte. Deshalb hast du ihn heute mitgenommen, zum Spielen oder um mit ihm ins Kino zu gehen. Dein kleiner Bruder freute sich natürlich und die Pflegeeltern sagten nichts und machten sich auch keine Sorgen, als Matti länger wegblieb, denn er war ja bei dir, seinem Bruder. Aber du hast Matti nicht ins Kino geführt, du hast ihn zu einem angelegenen Ort gebracht und ihn ermordet, dann hast du ihn neben den Müllcontainer abgelegt und als du uns gesehen hast, hast du uns absichtlich zu der Leiche geführt. Du wolltest dabei sein, wenn er gefunden wird, oder? Um sich an deiner Tat noch mehr zu ergötzen, oder du wolltest den Verdacht von dir ablenken, indem du dich als ahnungsloses Opfer gibst.«
Nicci war immer bleicher geworden, je mehr Jan sprach. Hilfesuchend blickte er Norman ins Gesicht, aber als er begriff, dass Norman genau wie Jan darauf wartete, das Nicci antwortete, wurde er zornig und senkte den Blick.
Genau das hatte Norman sich erhofft, denn es unterstrich seine Theorie, dass der Junge nichts mit dem Mord zu tun hatte. Täter stellten sich häufig gerne als Opfer da. Wäre Nicci der Mörder, hätte er bestimmt eine brillante Show abgezogen, mit dicken Tränen und Rotznase, und er hätte geschworen, dass er es nicht gewesen war. Stattdessen zeigte er die übliche trotzige Reaktion eines Teenagers. Und dass er um seinen Bruder noch nicht weinte, bekräftigte die Annahme, dass er unter Schock stand. Jeder trauert anders, nicht jeder weint. Wenn keine Tränen flossen, bedeutete das nicht, dass jemand nichts fühlte oder gar ein Täter war.
Dennoch hatte Norman irgendwie das Gefühl, das Nicci etwas verschwieg.
Norman griff zum Notizblock und hob ihn an. Genau wie erwartet fand er dort Jans angelegte Fall Akte, die er nun an sich nahm.
Er klappte sie auf und nahm das erste Bild heraus. Er legte es richtig herum zu Nicci und schob es dem Jungen zu.
Nicci warf einen kurzen Blick auf die Leiche und drehte sich dann wieder mit harter Miene fort.
»Es sieht so aus, als wäre die Todesursache ein tiefer Einstich in der Herzgegend gewesen.«
Nicci mahlte mit den Kiefern.
»Das Messer muss etwa eine Klinge von knapp zehn Zentimetern Breite gehabt haben.«
»Hören Sie auf«, bat Nicci Norman gequält.
»Auf den ersten Blick scheint es, als habe jemand Matti gewaschen. Die Fingernägel waren sauber, die Haare dufteten nach Shampoo, selbst die Ohren waren blitzblank.«
Nicci schüttelte den Kopf, er kämpfte um Fassung.
»Jemand hat Matti erstochen und hinterher mit großer Sorgfalt gewaschen. Weißt du, wieso?«
»Ich war es nicht!«, fuhr Nicci Norman an.
Norman nickte. »Okay. Und wer könnte Matti so etwas antun wollen?«
Nicci schniefte und Norman sah die erste Träne kullern, die der Junge jedoch sofort zornig mit Handrücken abwischte. Er versuchte krampfhaft, nicht zu weinen. Er wollte hart bleiben.
»Was hattest du in dem Laden vor?«, fragte Norman.
Nicci ergriff den Rettungsring und antwortete wie aus der Pistole geschossen: »Ich wollte doch nur etwas Geld auftreiben! Ich habe nichts mit Mattis Tod zu tun! Das schwöre ich!«
»Raubst du dafür immer Geschäfte aus?«, fragte Jan schnippig.
Nicci zischte Jan an: »Nein! Ich verdien mir mein Geld gewöhnlich auf der Straße.«
Jetzt kamen sie der Sache näher.
Jan verstand es noch nicht. »Wie, auf der Straße?«
Nicci antwortete nicht, er drehte den Kopf weg und zeigte Jan die kalte Schulter.
»Du gehst also auf den Strich, ja?«, fragte Norman ganz direkt, aber mit keinerlei Anklage oder Verurteilung in der Stimme.
Nicci sah ihn mit harter Miene an. Er antwortete nicht, er sagte nur: »Wie sonst soll ich über den Tag kommen?«
»Du könntest zu deiner Mutter gehen«, warf Jan irritiert ein.
Norman warf seinem Kollegen einen warnenden Blick zu, damit dieser den Mund hielt.
Nicci schnaubte. »Sie haben ja keine Ahnung, was Sie da sagen ...«
»Wieso hast du dann den Laden überfallen wollen?«, fragte Norman. »Hattest du versucht, anders an Geld zu kommen?«
»Ich gehe lieber auf den Strich, als sonst wie Geld zu verdienen. Das ist einfacher und schneller«, gestand Nicci.
»Warum also der geplante Überfall?«
»Ich wollte doch keinem wehtun!«
Er wich den Fragen aus, er verbarg etwas.
»Wieso wolltest du den Laden überfallen?«
»Ich habe ihn lange ausspioniert, ich weiß, dass der Tresor mit den Tageseinnahmen immer erst abends geleert wird. Ich wollte nur das Geld, das schwöre ich.«
»Hast du davor schon andere Läden ausgeraubt?«
»Nein!«
»Hattest du vor, noch mehr auszurauben?«
»Ich ...«
»Beantworte die Frage!«
»Ja, mach ich ja!«
»Also?«
Nicci ließ die Schultern hängen und fiel mit dem Rücken ausatmend gegen die Lehne.
»Ich brauchte schnell viel Geld. Ich dachte, das wäre die beste Lösung.«
»Wie viel Geld?«, fragte Norman sofort.
Jan machte wieder Notizen, seine Finger flogen geradezu über das Papier und Norman betrachtete kurz die elegante Handschrift.
»Zweihunderttausend.«
»Wofür? Hast du Schulden?«, wollte Norman wissen.
Nicci schüttelte den Kopf. Er verschränkte jetzt die Arme vor der Brust und zog die braunen Augenbrauen zusammen.
»Wofür also?«
Nicci kaute auf der Lippe, unter dem Tisch wippte er nervös mit dem Fuß.
Norman tauschte einen Blick mit Jan aus, sie spürten beide, dass sie dabei waren, etwas ans Licht zu bringen. Ob es mit der Jungenleiche zu tun hatte, stand noch aus ...
»Ich wurde erpresst«, spuckte Nicci schließlich aus und sah mit Tränen in den Augen Norman flehend an. »Ich schwöre, ich habe nichts damit zu tun gehabt.«
»Womit?«, fragte Norman verwirrt.
Schließlich kramte der Junge in seiner Hosentasche herum, und zog einen Zettel hervor. Er legte ihn auf den Tisch und schob ihn Norman zu.
Norman nahm den Zettel an sich, klappte ihn aber noch nicht auf. Wütend fragte er Jan: »Was ist los mit unseren Jungs? Ehrlich mal, tasten wir die Leute nicht mehr ab?«
Jan zuckte mit der Schulter. »Wurde wohl übersehen. Schau mich nicht so an, ich habe ihn nicht abgetastet.«
»Du hast ihn doch festgenommen!«
»Du warst doch auch dabei, Mr. Perfekt!«
»Ich war zu sehr mit der Leiche eines Kindes beschäftigt, Jan!«
Jan holte gerade Luft um weiter zu diskutieren, als Nicci den Streit unterbrach.
»Er war in einem Loch versteckt, zwischen Hosentasche und Hosenbein«, erklärte Nicci und zuckte wieder mit den Schultern.
Norman atmete tief durch, er hatte es genossen, Jan wegen etwas anzufahren, das hatte ihm Genugtuung verschafft.
Er faltete den Zettel schließlich auseinander. Er las die wenigen Zeilen darauf, die ganz klischeehaft mit Druckbuchstaben aus Zeitungen und Zeitschriften geklebt worden war. Dann gab er es an Jan weiter.
Jan las laut vor: »Ich habe deinen kleinen Bruder. Zweihunderttausend Euro bis heute Abend, sonst erlöse ich ihn von seiner Armut. Ich finde dich. Keine Polizei, sonst töte ich euch beide.«
»Ich wusste doch nicht, was ich tun sollte, ich hatte solche Angst!«, sagte Nicci verzweifelt.
Norman runzelte die Stirn. »Wo hast du den Zettel gefunden?«
»Zu Hause, bei Mama. Ich war kurz da, als keiner zu Hause war, um ein paar Klamotten zu wechseln und … na ja, Geld aus der Kaffeedose zu klauen. Der Zettel lag auf meinem Schreibtisch.«
»In deinem Zimmer?«
Nicci nickte.
Jan und Norman sahen sich verwirrt an.
»Wer hat Zugang zu der Wohnung deiner Mutter?«
Nicci lächelte freudlos. »So ziemlich jeder, der weiß, wie man mit einer Bankkarte eine Tür öffnen kann.«
***
»Er könnte den Zettel selbst geschrieben haben«, sagte Jan einige Zeit später in der Cafeteria des Präsidiums zu Norman.
Sie setzten sich mit zwei Kaffee und zwei Donuts an einen Tisch, außer ihnen war niemand im Raum.
»Ich glaube, er sagt die Wahrheit«, warf Norman ein. »Außerdem müssen wir ihn ohnehin bald gehen lassen. Wir haben keinerlei Beweise um ihn als Verdächtigen festzunehmen. Außerdem ist er fünfzehn! Ich glaube, wenn ich mich recht entsinne, hätten wir ihn ohne Beisein eines Erziehungsberechtigten oder Vormundes gar nicht verhören dürfen.«
»Das gilt nur für unter Vierzehnjährige.«
»Bist du dir da auch wirklich sicher?«
Jan überlegte angestrengt. Sagte aber nur genervt dazu: »Ach, keine Ahnung, ich habe noch nie ein Kind verhört!«
»Jetzt schon.«
»Er gab uns die Erlaubnis, wir zwangen ihn ja nicht«, verteidigte sich Jan. »Außerdem wollte er einen Sandwichladen überfallen, wir hatten das Recht, ihn mit hierher zu nehmen. Wie dämlich kann man eigentlich sein, ist das zu glaube? Diese Jungend ...«
»Er war verzweifelt, er wollte seinen Bruder retten.«
»Sofern seine Geschichte stimmt.«
Norman glaubte, dass sie wahr war. »Jan, jetzt denk mal nach.«
Jan sah Norman arrogant an. »Nur, weil dein Bauchgefühl dir sagt, das der Junge unschuldig ist, bedeutet das nicht, dass es auch der Wahrheit entspricht.«
»Da ist etwas Wahres dran«, räumte Norman ein, weil er für einen Streit einfach weder die Geduld noch die Zeit hatte. »Aber mal angenommen, du hast Recht und er ermordete seinen Bruder. Was wissen wir? Der Fundort ist keineswegs der Tatort, das hat die Spurensicherung bereits herausgefunden. Wie viel wiegt wohl die Leiche des Jungen, hm? Jetzt überlegt doch mal, wie ein fünfzehnjähriger Halbstarker die Leiche vom Tatort bis in die Stadt gebracht haben soll? Unbemerkt. Mit dem Fahrrad?«, fragte Norman spöttisch. »Bedenke auch, dass er sie zuvor noch sorgfältig gewaschen hat. Für mich deuten die Hinweise auf einen ausgewachsenen Mann hin, der ein Auge fürs Detail hat. Der Täter war nicht dumm, er wusch den Jungen wohlmöglich um Spuren verschwinden zu lassen. Das bedeutet, wir haben es mit einem cleveren Kerlchen zutun. Der Täter wusste genau, was er tut, der Junge wurde nicht von seinem Bruder aus Eifersucht und Wut ermordet. Wenn, hätte die Leiche verwüsteter ausgesehen. Glaub mir, ich habe Männer in Wut töten sehen.«
Norman erinnerte sich auch nach sieben Jahren noch sehr lebhaft daran, wie Franklins Männer jemanden töteten. Geschah es aus Wut, war es ein Blutbad. Geschah es geplant, um jemand verschwinden zu lassen, waren es saubere Morde.
Natürlich musste das nicht auf alle Täter zutreffen, aber Norman glaubte trotzdem, das Nicci nicht dazu im Stande gewesen wäre, diesen Mord zu begehen, jedenfalls nicht auf diese Weise.
Ausatmend lehnte sich Jan gegen seine Stuhllehne, dabei rutschte sein Körper ein Stück tiefer, sodass er ermüdet auf seinem Platz hing. Er umfasste mit einer Hand seinen Kaffeebecher, hob ihn aber nicht an, er drehte ihn nur grübelnd.
»Und der Zettel?«, fragte er schließlich und sah Norman in die Augen. Er holte demonstrativ sein Handy hervor und legte es auf dem Tisch ab. Er deutete vielsagend darauf. »Im Zeitalter von Smartphones und Notebooks habe ich noch nie erlebt, dass ein Drohbrief nicht als SMS oder Email verschickt wurde.«
Norman nahm nun seinerseits Jans Handy in die Hand und hob es kurz an, er drehte es und betrachtete es eingehend, ehe er erwiderte: »Das bestätigt nur das, was ich glaube. Der Mörder ist sehr klug. Er kennt sich hiermit aus«, er hob das Handy erneut an. »Er muss gewusst haben, das jede SMS und jede Email, die ›gelöscht‹ wurde, nie gänzlich verschwindet. Er wusste, dass man ihn entlarven könnte, wenn er Elektronik benutzt.«
»Er hätte ein anderes Handy nehmen können.«
»Wozu, wenn man Papier, Schere und Kleber bereits griffbereit hat?«, warf Norman ein. »Vielleicht kannte er auch einfach nicht die Nummer des Jungen. Möglicherweise hat er einen solchen Brief auch in seiner Lieblingsserie oder seinem Lieblingsfilm gesehen und sich gedacht, er eifert dem fiktiven Täter nach.«
Jan beugte sich über den Tisch und gab zu bedenken: »Wer außer Nicci, hätte Matti mitnehmen können, ohne dass jemand Verdacht schöpft?«
»Genau das müssen wir herausfinden.«
Schreiber war schon dabei, die Pflegeeltern und die leibliche Mutter zu informieren. Über die Erzeuger der beiden Jungen hatte Nicci nichts sagen können. Er meinte nur, dass er Mattis nie kennengelernt und seinen nie persönlich getroffen hatte. Auch das, würden sie herausfinden müssen.
Norman nippte an seinem Kaffee. Als er den Becher wieder abstellte, fiel sein Blick auf den unberührten Donut und er verspürte zum ersten Mal seit Wochen echten Hunger, vermutlich, weil er einfach den ganzen Tag nichts gegessen hatte.
Jan rieb sich verzweifelt die Stirn. »Wenn es der Junge nicht war, beginnt die Suche nach der Nadel im ... Na du weißt schon.«
»Im großen Haufen Scheiße dieser Stadt?«
Sie sahen sich an und musste beide auflachen.
»Ja«, seufzte Jan, er entspannte sich etwas. »Ein großer Haufen Scheiße, das ist es tatsächlich.«
»In einem solchen Fall lohnt es sich immer, die Familie zu überprüfen. Gerade weil niemand den Jungen als vermisst meldete. Was ist mit den Pflegeeltern? Vielleicht waren sie es, oder einer von ihnen. Oder die leibliche Mutter, vielleicht wollte sie ihr Kind wieder. Sie dachte: Entweder ich bekomme ihn, oder niemand. Sie hat ihn bei den Pflegeeltern abgeholt, ihn zu Hause ermordet, ihrem anderen Sohn den Brief hingelegt, um auf einen unbekannten Erpresser zu deuten, der nicht existiert. Oder es war der leibliche Vater, der vielleicht ein neues Leben aufgebaut hat, neue Frau, neue Kinder, und er wollte den Jungen loswerden, um seine Vergangenheit vor der neuen Familie zu verbergen. Vielleicht ist er auch verheiratet gewesen, als der Junge gezeugt wurde, und er wollte verhindern, dass seine Frau nun doch etwas davon spitzbekommt.«
Jan sah Norman forschend an. »Du denkst wirklich, dass es Mord war?«
Norman zuckte mit einer Schulter. »Ich denke jedenfalls nicht an ein Tötungsdelikt. Der Junge war nicht nur zur falschen Zeit am flachen Ort. Er lief nicht nur jemanden in die Arme, der nicht geplant hat, ihn zu töten, das kann ich mir nicht vorstellen. Der Brief an Nicci beweist doch, dass der Täter vorhatte, den Jungen zu töten. Wir müssen unbedingt herausfinden, wie lange Matti schon in der Gewalt des Täters war.«
Vermutlich nicht lange, wenn ihn keiner vermisst hatte. Der Täter hatte Matti also sehr wahrscheinlich entführt und nicht gezögert, ihn umzubringen.
»Wieso tötete der Mörder Matti vor Ablauf der angegebenen Zeit?«
Erneut zuckte Norman mit der Schulter. »Möglicherweise überkam es ihn. Er konnte sich nicht zurückhalten.«
»Aber er verlor damit das geforderte Geld.«
»Wenn er das Geld denn überhaupt wollte.«
»Warum sollte er es sonst verlangen?«
Während Norman darüber nachdachte, biss er in seinen Donut und kaute eine Weile langsam, während Jans Augen an seinen Lippen klebten, an denen noch Schokolade hing.
»Vielleicht spielt er einfach mit uns«, sagte Norman schließlich. »Oder er findet es aufregend, auch Nicci zu erschrecken.«
»Oder Nicci schrieb den Brief selbst.« Jan hielt an der Schuld des Jungen fest. »Für mich liegt es einfach nahe, dass er seinen Bruder ermordet hat.«
»Selbst, wenn du Recht hast, haben wir nichts, was das beweist, nicht einmal ein Indiz.«
»Wenn auf dem Zettel nur Niccis Fingerabdrücke zu finden sind, schon.«
»Das bedeutet nur, dass der Täter wohlmöglich Handschuhe getragen hat. Was passen würde, immerhin hat er auch seine Spuren von der Leiche gewaschen, da wird er bei seiner kleinen Botschaft nicht den Fehler gemacht haben, Abdrücke zu hinterlassen. Er ist vorsichtig und vorausschauend.«
»Klingt fast, als wüsste er, wie wir arbeiten.« Jan sagte das mit einer gewissen zynischen Stimmlage, als machte er sich über Norman lustig.
Norman spülte einen Bissen Donut mit Kaffee hinunter.
»Warum auch nicht?«, fragte Norman dann. »Täglich sieht man im freien TV, wie die Gerichtsmedizin arbeitete und was sie alles herausfinden kann. Für eventuelle Täter ist das quasi eine Anleitung für den perfekten Tathergang.«
Jan holte tief Luft und rieb sich wieder die Stirn. »Ich fürchte, wir müssen den Jungen wohl gehen lassen. Vorerst.«
»Ich denke, wir können ihn über Nacht dabehalten«, warf Norman ein um Jan einen Knochen zuzuwerfen. Davon abgesehen, das er Jan nicht verärgern wollte – jedenfalls nichts so kurz vor Feierabend – glaubte Norman, dass es besser war, den Jungen erst einmal nicht frei zu lassen, und sei es nur um ihn zu schützen. Der Zettel war vielleicht nur ein Spiel des Täters, aber Nicci könnte ebenso in dessen Visier geraten sein.
»Wenn wir ihn morgen gehen lassen, müssen wir Leute abstellen, die ihn beobachten«, sagte Jan schlechtgelaunt. »Wie ich Schreiber kenne, dürfen wir das machen.«
»Abwarten«, murmelte Norman mit vollem Mund. Es war noch nicht gewiss, ob sie den Fall übernehmen würden, eigentlich gab es Kollegen, die mit solchen Fällen bereits Erfahrung hatten und vermutlich besser geeignet waren. Norman und Jan hatten nur den Anfang gemacht, weil sie die Leiche entdeckt und sonst niemand da war oder Zeit hatte. Es war spät, aber der Fall durfte nicht bis Morgen warten. Sie hatten aus Nicci schon einige Informationen herausbekommen, die ansonsten erst am nächsten Tag und vermutlich zu spät ans Licht gekommen wären. So hatten Jan und Norman das Fundament für die Ermittlungen bereits gelegt, das war besser als den Kollegen den Fall auf den Schreibtisch zu legen und sie damit zu Arbeitsbeginn zu überraschen. Wer nun endgültig die Ermittlungen weiterführen würde, lag schließlich in Schreibers Hand.
Jan hob seinen Arm und sah auf seine Uhr. »Den Obduktionsbericht bekommen wir frühestens morgen früh. Schreiber Informiert gerade die Angehörigen und will, dass wir ihnen eine Nacht Zeit lassen um die Nachricht zu verarbeiten. Also müssen die Befragungen bis morgen warten. Ich schätze, das war’s erst mal für heute.«
Norman wollte protestieren, aber sie konnte nur darauf warten, dass die Gerichtsmedizin mit ihren Untersuchungen fertig war, und dass würde vor morgen nicht geschehen.
Doch er beschloss: »Gleich Morgenfrüh nehmen wir uns die Mutter vor.«
Jans Augen leuchteten, als sie beschlossen, Feierabend zu machen. »Gehen wir?«
Norman trank seinen Kaffee aus, er nickte. »Gehen wir.«
Aber eigentlich freute er sich nicht auf eine Nacht voller Alpträume, die niemals enden würden, es sei denn, jemand würde ihm eine Nadel durchs Gehirn jagen.
Norman konnte nur hoffen, dass er diesmal aufwachte, bevor er erneut Alessandro das Messer in die Brust stach.
***
Im Restaurant war an jenem Abend die Hölle los. Aber Alessandro begrüßte den Stress, denn er verhinderte, dass er zu sehr über seinen Exfreund nachdachte.
Norman. Der schicke, immerzu perfekte Norman, mit den vielen inneren Charakterschwächen, die nur Alessandro wirklich kannte. Warum sie sich eigentlich mochten, war fragwürdig, immerhin haben sie die meiste Zeit ohnehin nur gestritten. Und doch war es genau das, was Alessandro fehlte. Die ewigen Auseinandersetzungen, vor allem wegen Alessandros früherem Job, die Ideale, die Moralansichten, die Norman von sich gab, aber dann selbst nie beachtete. Norman war jemand, der gerne der ›Gute‹ war, der Held, der Beschützer, der gefeierte Ermittler. Aber Alessandro wusste, dass er das nicht wirklich war. Sie waren beide keine Helden. Norman ging es immer nur um sein eigenes Ansehen, um seinen Ruf, und Alessandro wollte stets nur seinen eigenen Arsch retten.
Doch damals, bei den Ermittlungen gegen Franklin, hatte sich das geändert. Zwar blieben sie Egoisten, aber immerhin haben sie ab da auch manchmal einen Gedanken an den anderen verschwendet.
Alessandro hatte nie Probleme damit gehabt, der fragwürdige Typ sein. Nicht wirklich. Natürlich verfolgen ihn die Gesichter seiner Opfer, andererseits hatte er nie einen Unschuldigen getötet. Nie! Trotzdem wachte er nachts manchmal schweißgebadet auf, zitternd und in Panik, weil er eine Angstattacke hatte. Aber das machte nichts, er hatte sich daran gewöhnt, so war sein Leben nun mal. Er verdiente es nicht anders.
Nur Norman war nie über die Ereignisse hinwegkommen. Nie über die Schuld, über die er nicht sprechen wollte. Die Alpträume waren immer schlimmer geworden, irgendwann hatte nicht einmal Alessandro sie vertreiben können. Bis Norman schließlich ...
Okay, darüber wollte Alessandro nicht nachdenken.
Nie mehr wieder! Es war vorbei. Und das war gut so.
Wem redete er sich das eigentlich ein?
Alessandro stellte einen Kasten schmutziges Geschirr in die Spüle und ließ heißes Wasser aus dem Hahn hineinlaufen. Während er wartete, dass die Kiste volllief, lehnte er sich seitlich an die Spüle, verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete die Nachrichten in der kleinen Glotze, die über der Essensausgabe hing.
Gerade wurde der Bericht des Leichenfunds gezeigt, den Norman erwähnt hatte. Eine junge Reporterin, dürr wie eine Schaufensterpuppe, mit langem blondem Haar, das sie mit einem schwarzen Regenschirm vor dem Unwetter schützte, stand in ihrem schicken weißen Hosenanzug vor einer Kamera und sprach in ein Mikrofon vom regionalen Fernsehsender. Sie trug dezentes Make up, bis auf den fiel zu dunklen Liedschatten, der ihr etwas Verruchtes gab, und das mochte Alessandro nicht.
Gut, er war vielleicht auch nicht gerade dazu geeignet, Frauen zu beurteilen. Obwohl es da in früher Jungend ein paar sexuelle Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht gegeben hatte. Aber nur, weil er versucht hatte, nicht schwul zu sein. Was sich im Nachhinein als dämlich herausgestellt hatte, denn seine Sexualität kann man sich eben nicht aussuchen.
Leider würde es sein Bruder bestimmt anders sehen und ihn eigenhändig kastrieren, wenn er es herausfinden und ihn schnappen würde.
Alessandro hoffte, dass beides niemals der Fall sein würde.
In der Glotze, die in der Küche oberhalb der Essensausgabe hing, konnte Alessandro hinter der Reporterin den abgesperrten Fundort sehen. Eine dunkle Sackgasse. Dort neben der abgedeckten Leiche stand Norman und sein Kollege Jan, den Alessandro erst beim zweiten Hinsehen erkannte, weil sein Haar blondiert war.
Alessandro schnaubte, er konnte nicht nachvollziehen, weshalb man das Bedürfnis hatte, seine Haarfarbe zu ändern. Selbst er, der überall gesucht wurde, dachte nicht daran, seinem Haar so etwas anzutun.
Wie würde er wohl blond aussehen?
Die Vorstellung brachte ihn zum Schmunzeln.
Plötzlich änderte sich die Stimmung im Hintergrund. Die Reporterin bekam von alle dem nichts mit. Norman, der in seinem Designer Mantel im Regen stand, wollte zur Leiche stürzen, sein Kollege umschlang ihn sofort von hinten. Dann zog er Norman von der Leiche fort zu einem Streifenwagen.
Alessandro konnte wegen des Lärms in der Küche nicht hören, was die Reporterin sagte, die sich nun umdrehte und das Geschehen verwirrt versuchte wiederzugeben.
Während Norman und sein Kollege – dem die blonden Haare wirklich nicht schmeichelten – in den Fokus der Kamera gerieten, beobachtete Alessandro deutlich Normans in die Leere gerichteten Blick. Sein Kollege Jan wirkte sauer.
Dann holte Norman sein Handy hervor und wandte sich von Jan ab. Das war der Moment, in dem er mit Alessandro telefonierte.
Den Augenblick mit anzusehen und Normans hoffnungsvoll leuchtende Augen zu erblicken, das war ein unbeschreibliches Gefühl. Ein warmes Gefühl. Als wäre Alessandro dort gewesen, bei Norman. Es war wie ein Sog in die Vergangenheit, Alessandro erinnerte sich noch genau an den Moment, in dem er entschloss, Norman anzurufen um ihm den Zettel zu zeigen und um Hilfe zu bitten. Er hatte Furcht davor gehabt, hatte geglaubt, dass Norman längst nicht mehr an ihn dachte.
Aber nun sah er deutlich, dass dem nicht so war. Norman hatte auf einen Anruf gehofft, die ganze Zeit über. Kurz tat es Alessandro leid, dass er Norman nicht netter empfangen hatte.
Doch es geschah Norman recht, er hatte Ablehnung verdient.
Allerdings hatte Alessandro den Zettel mit der Botschaft dann doch nicht seinem Exfreund gezeigt, weil Norman einfach viel zu müde und auch krank ausgesehen hatte. Er konnte es einfach nicht mehr gebrauchen, sich Alessandros Probleme aufzuhalsen. Also hatte Alessandro eine schwere Entscheidung getroffen: Er würde die Stadt verlassen.
Deshalb der Kuss, er hatte sich verabschiedet. Für immer.
»Das ist für dich.«
Alessandro riss den Kopf herum, als der junge Kellner neben ihn trat und ihm einen weißen Umschlag entgegenheilt.
Als Alessandro ihn nicht annahm, wedelte der Teenager mit dem pickligen Gesicht und den rötlichen Haaren auffordernd damit. »Da steht dein Name drauf. Ist von einem Gast.«
Der Kellner wirkte eifersüchtig, vermutlich glaubte er, der besagte Gast habe dem Koch Trinkgeld dagelassen, statt ihm.
Alessandro löste seine verschränkten Arme und nahm den Umschlag entgegen.
Er wartete, bis der Teenager an ihm vorbeiging und die schmutzigen Teller abstellte.
Eilig öffnete Alessandro den Umschlag und zog den gefalteten Zettel hervor.
Geh nicht wieder in den Club! Gleiche Handschrift wie der Zettel in seiner Post.
Alessandro riss den Kopf hoch, sein Herz raste so schnell, das es fast zersprang.
Er ging auf den Teenagerkellner zu, packte ihn etwas zu grob am Arm und riss ihn zu sich herum. »Wer hat dir das gegeben?« Um zu verdeutlichen, was er meinte, hielt er den Zettel mit der freien Hand hoch, ohne dass der junge Kellner sehen konnte, was draufstand.
»Keine Ahnung«, wurde Alessandro geantwortet. »Ein Gast. Es lag bei der bezahlten Rechnung, als ich an den leeren Tisch ging.«
Alessandro raste fast vor Wut und Ungeduld. Er hasste Teenager, er hatte einfach keinen Nerv für ihre gelangweilte und stets desinteressierte Art. »Wer saß an dem Tisch?«
Der Kellner zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht.«
»Du hast ihn doch bedient!«
»Ich kenn doch nicht jeden Gast mit Namen!«
Oh. Mein. Gott ... Alessandro musste tief durchatmen um dem Hohlkopf keine zu verpassen.
Er schloss kurz die Augen, ehe er fragte: »Wie sah der Gast denn aus?«
Der Junge überlegte kurz. Aber er zuckte schließlich wieder nur mit den Schultern.
»Groß? Klein? Blond? Brünett? Frau? Mann?«, hakte Alessandro nach. »Irgendetwas musst du doch noch wissen! So zugekifft kann doch keiner sein!«
Die Augen des Teenagers weiteten sich kurz ertappt. Dabei war der Drogenkonsum dieses Exemplars nun wirklich kein Geheimnis. Alessandro konnte es riechen und er konnte es an seinen müden, roten Augen erkennen. Und wenn es etwas gab, das Alessandro noch mehr hasste als Teenager, dann waren es eindeutig bekiffte Teenager.
»Ich ... äh ...«, stammelte der junge Kellner.
Alessandro hätte ihm am liebsten das rötliche Haar ausgerissen und ihn damit gefüttert.
»Da ... ähm ... da saßen heute viele Gäste«, erwiderte er schließlich. »Eine Frau, das weiß ich noch, aber das ist länger her. Sie hatte große Brüste und einen weiten Ausschnitt, deshalb erinnere ich mich an sie. Aber sie hat die Rechnung bei mir bezahlt, das weiß ich, weil ich auf ihre Titten starren konnte, während sie das Geld aus der Tasche heraussuchte.«
Alessandro war einfach nur fassungslos. Er ließ ihn los. »Ach, vergiss es.«
In großer Eile ließ er einfach alles stehen und liegen, er riss sich lediglich die Schürze vom Leib und stürmte mit seiner schwarzen Regenjacke aus der Küche.
»Hey. Wo willst du denn hin?«
Alessandro achtete nicht auf den jungen Kellner, er warf schnell einen Blick in das Innere des Restaurants, aber im Moment erkannte er nur einen vollbesetzten Familientisch mit einer großen Familie, die so viel Lärm verursachte wie eine rennende Elefantenherde, und einen einzelnen Mann, der an einem Tisch an der Glasfront saß und an einem Wasser nippte.
Keiner kam ihm bekannt vor.
Alessandro eilte durch den Raum und trat hinaus auf den Bürgersteig, dort sah er sich nach links und rechts um. Es war dunkel und in dieser Gegend war nach Sonnenuntergang nie viel los, selbst die Straße schien wie leergefegt. Straßenlaternen erleuchteten den Gehweg mit orangegelben Lichtstrahlen. Rechts lief ein einzelner Mann eiligen Schrittes die Straße hinunter, er war klein und drahtig, trug ein T-Shirt mit Kapuze, unter dem er sein Haar versteckt hatte.
»He!«, rief Alessandro und ging ihm nach.
Vielleicht war der Mann der Zettelschreiber, vielleicht auch nicht. Es war besser es herauszufinden und sich eventuelle zu blamieren, statt eine Bedrohung zu ignorieren.
Alessandro schlüpfte in seine Jacke, obwohl es nicht mehr regnete. Aber er wollte die Hände frei haben, falls er rennen musste.
Der Mann schien schneller zu laufen, je näher Alessandro ihm kam.
»He!«, rief Alessandro wieder. »Bleib stehen!«
In diesem Moment rannte der Mann in eine Nebenstraße.
Alessandro folgte.
Doch als er nur wenige Sekunden später in die Gasse einbog, war der Mann verschwunden.
Stockend blieb Alessandro stehen und sah sich um. Er befand sich in einem schmalen Durchgang zwischen zwei Backsteingebäuden. An den Wänden gab es nur Feuerleitern und Müllcontainer, die mit Tüten aus dem Chinarestaurant vollgestopft waren, die einen würzigen Duft abgaben. Das einzige Licht kam von den Lichtstrahlen der Laternen, die neben den Eingängen der Gasse standen.
Alessandro lauschte: Rascheln aus den Mülltüten; vermutlich Ratten. Und das Plätschern von Wassertropfen. Keine Schritte, kein schwerer Atem, kein Schleifen über den Boden von jemand, der sich versteckte. Aber der Mann musste noch in der Gasse sein! So schnell konnte er unmöglich zum anderen Ende gelangt und um die Kurve gekommen sein oder die Feuerleitern nach oben erklommen haben.
Es war dunkel und es gab unzählige Versteckmöglichkeiten.
Verfluchter Mist!
Langsam ging Alessandro tiefer in die Gasse hinein. Trotz, dass er seine Schritte mit Bedacht wählte und leise die Füße absetzte, hallten seine Schritte durch die Gasse. Seine Augen wanderten unruhig umher, sie gewöhnten sich langsam an das wenige Licht. Sein Herz klopfte noch immer wie wild in seiner Brust, es hatte sich seit dem zweiten Zettel nicht wieder beruhigt.
Jemand war hinter ihm her, kein Zweifel. Aber wer es auch war, wollte Spielchen mit ihm treiben, ehe derjenige zuschlug.
Ein Geräusch ließ Alessandro in Kampfpose herumfahren.
Eine Cola Dose rollte von einem Müllcontainer in die Mitte der Gasse, dann huschte ein winziger Schatten in einen vergitterten Abwasserkanalzugang im Boden.
Alessandro atmete erleichtert auf, als ihn plötzlich von hinten eine Hand an die Schulte packte.
Blitzschnell fuhr Alessandro herum und wollte Demjenigen einen Fausthieb verpassen.
»Oh Scheiße!« Fluchend machte Alessandro einen Schritt zurück und griff sich an sein Herz, das fast stehen geblieben wegen. »Fuck! Norman!«
Mit geweiteten Augen stand Norman vor ihm und hob ergebend die Hände. »Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Ich hätte dich umbringen können, du Idiot!« Alessandro erholte sich nur langsam von dem Schock, er fuhr sich durchs Haar und versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen.
Norman zog zweifelnd eine Augenbraue hoch. »Mit dieser dürren Faust? Verzeih, dass ich dich enttäuschen muss, aber deine Rechte würde nicht einmal meine Oma umhauen.«
Statt zu antworten griff Alessandro in seine Jackentasche und holte die Pistole hervor, die er Norman kurz zeigte, ehe er sie wieder einsteckte.
Norman nickte, weil er verstanden hatte. Doch dann begriff er erst richtig und fragte fassungslos: »Du hast eine Waffe?«
»Du ja auch«, verteidigte sich Alessandro.
Norman nickte. »Ich bin ja auch ein Polizist.«
Gutes Argument.
»Ich muss mich schützen«, warf Alessandro ein.
»Wir hatten uns geeignet, keine Schusswaffen bei uns tragen!«
»Das war, als wir noch zusammen waren und einer von uns – sprich, du – eine Waffe legal tragen durfte. Wie ich bereits erwähnte: Ich muss mich schützen.«
»Wo hast du sie her?«
»Ich habe mir einen Waffenschein gefälscht.«
Norman sah ihn erstaunt an. »So was kannst du?«
Alessandro bedachte ihn mit einem Blick, der ausgesprochen bedeutete hätte: »Ich bitte dich, wo für hältst du mich.«
Norman schnaubte. »Sieben Jahre zusammen, und ich kenne dich immer noch nicht richtig.«
»Es ist wichtig, Geheimnisse voreinander zu haben«, erwiderte Alessandro sarkastisch. Er sah Norman provozierend an. »Aber dir muss ich das ja nicht sagen, Mann mit den tausend Geheimnissen.«
Norman ließ entmutig die Schultern hängen. »Können wir uns einmal nicht deshalb streiten?«
Alessandro schüttelte sauer den Kopf. »Was machst du eigentlich hier?«
»Ich wollte zu dir.«
»Warum?«
»Na ja, weil ...« Norman beendete den Satz nicht, er warf Alessandro nur seinen Hundeblick zu und senkte dann schüchtern den Kopf.
Es hätte fast gezogen, aber eben nur fast.
»Norman«, seufzte Alessandro und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger das Nasenbein. Er ertrug es einfach nicht, ihn zu sehen. Wie er da so stand in seinem schicken, weißem Designerhemd, seiner schicken Designerhose, seinem schicken Jackett und seinem maßgeschneiderten Ledermantel. Mr. Perfekt. Mr. Der-Eine. Mr. Herzbrecher. Alessandro wollte ihn hassen, aber bei Normans Anblick mit den braunen Hundeaugen, dem vollen dunklem Haar, dem männlichen kantigen Gesicht und dem muskulösen, großen Körper, konnte er leider nur daran denken, wie sehr er ihn einst begehrt hatte.
»Weißt du«, begann Alessandro, »du und ich, wir beide sind wie ein Märchen.«
Hoffnungsvoll hob Norman wieder den Blick.
Alessandro sah ihm in die Augen und fügte hinzu: »Und jedes Märchen beginnt mit: Es war einmal ...«
Norman runzelte verärgert seine markante Stirn. »Warum musst du immer gleich aus allem ein Drama machen?«
Wütend breitete Alessandro die Arme aus und zischte: »Weil es eines ist. Du und ich, wir sind ein Drama!«
Normans belustigte Miene, vor allem seine zuckenden Mundwinkel, die mit einem Schmunzeln kämpften, brachten auch Alessandro in die missliche Lage, grinsen zu müssen.
Amüsiert aufschnaufend drehte er sich fort und versuchte wenigstens etwas seiner abweisenden Haltung beizubehalten, indem er die Arme verschränkte.
»Was machst du denn eigentlich hier?« Norman musterte ihn, dabei wurde sein Blick schwer. »Hast du schon Schluss?«
Alessandro spürte überdeutlich den Zettel, den er einfach in die Jeanstasche gestopft und der sich nun mit dem anderen Umschlag aus der Post von heute Morgen verknotet hatte.
Jetzt war der wohl beste Zeitpunkt, Norman davon zu erzählen. Selbst wenn sie keine Beziehung mehr zueinander pflegten, weder platonisch noch ... sonst irgendwie, war Norman doch immer noch ein Bulle. Wenn ihm jemand helfen könnte, dann Norman. Aber Alessandro musste gestehen, dass er die leise Befürchtung nicht abschütteln konnte, dass Norman hinter den Zetteln steckte.
Er war der einzige, der wusste, wo und unter welchem Namen Alessandro wohnte und arbeitete.
Würde Enio dahinterstecken – wüsste Enio, wo er war – dann wäre Alessandro längst tot. Norman war theoretisch der einzige, der etwas davon hätte, wenn Alessandro die Stadt verlassen würde.
Aus den Augen, aus dem Sinn.
Aber wenn Norman wollen würde, dass Alessandro die Stadt verließ, würde Norman es doch einfach sagen, Norman trieb keine Spielchen. Abgesehen davon: wenn er Alessandro loswerden wollte, warum wäre er dann hier?
Trotzdem wollte Alessandro nichts von den Zetteln erzählen, also sagte er zu Norman, der langsam ungeduldig auf eine Erklärung wartete: »Ich ... wollte früher nach Hause. Hab noch einiges zu tun.«
»Okay.« Norman kratzte sich an der Nase, das tat er seit einiger Zeit immer, wenn er schüchtern oder nervös wurde. Er machte den Weg frei und sagte: »Gut, ich begleite dich Heim.«
Typisch für Norman war auch, einfach etwas zu beschließen, ohne Rücksicht auf alle anderen.
Alessandro setzte ein zynisches Schmunzeln auf, er holte Luft und wollte so etwas kontern wie: »Das hättest du wohl gern.«
Doch er überlegte es sich anders, als die Zettel in seiner Hosentasche wieder deutlich zu spüren waren, und er glaubte, zu fühlen, wie fremde Augen sie beobachteten.
Er zuckte mit den Schultern und ging an Norman vorbei. »Okay, warum nicht.«
Als sie Schulter an Schulter die Gasse entlanggingen ohne sich zu berühren, wirkte der Platz zwischen ihnen wie eine Zweihundertmeter breite Schlucht. Es war so absurd, sie waren so oft eng zusammen gewesen, mit mehr Körperkontakt als Alessandro beschreiben konnte, sie waren so oft so intim gewesen ... und jetzt schien es undenkbar, sich zu berühren, und gleichzeitig war es pure Folter, Abstand zu wahren.
Alessandro räusperte sich, er hatte den Drang, etwas zu sagen. Irgendetwas. Nur um zu reden, weil er immer reden musste, wenn er nervös war.
Er sah Norman an und wollte gegen ihn sticheln. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du aufdringlich bist?«
»Ja, du. Mehrmals. Störte mich nie, stört mich immer noch nicht.«
Gut, der Schuss ging nach hinten los.
Norman vergrub die Hände tief in den Hosentaschen, Alessandro verschränkte die Arme. Ein Zeichen, das beiden die plötzliche Nähe nach Monaten der Funkstille unangenehm war. Sie sahen sich nicht an.
»Du musst nicht auf mich aufpassen«, sagte Alessandro schließlich, vielleicht etwas zu abweisend.
Norman schien es kaum wahr zu nehmen, es war, als wäre er mit den Gedanken ganz wo anders. Er murmelte nur leise: »Wir passen aufeinander auf, so war der Deal.«
Alessandro ahnte bereits, dass es ein Fehler war, ihn mit zu nehmen. Ein schrecklicher Fehler. Norman und er ... sie konnten nie voneinander ablassen sobald sie sich sahen, oder auch nur die Stimme des anderen hörten, den Duft des anderen wahrnahmen ... Aber sie konnten auch nicht miteinander. Die letzten Jahre, beziehungsweise, der Ausgang ihrer heißen Romanze, hatte deutlich gezeigt, wie wenig sie eigentlich miteinander zurechtkamen. Sie schenkten sich beide nichts, es war immer ein Kampf gewesen.
Ein Kampf, den Alessandro vermisste, aber für Norman schien es so besser zu sein. Besser ohne Alessandro. Angenehmer. Jetzt konnte er sich das Leben erfüllen, mit dem er Alessandro immer so genervt hatte.
Deshalb war es nicht gut, Norman mitzunehmen. Doch die simple Tatsache, weshalb Alessandro nicht strikt abgelehnt hatte, war die Erkenntnis, dass er schlicht und ergreifend Angst hatte.
Klar, er hatte eine Waffe, doch ein weiterer Begleiter mit einer Schusswaffe konnte in seinem Fall nicht schaden. Zumal er nicht wusste, ob der Typ mit dem Kapuzenshirt noch in der Nähe war.
Wenn man vom Verfolger zum Verfolgten wurde, war es immer klüger, nicht allein zu sein.
***
Was für eine überaus interessante Entdeckung, dachte er sich von seinem Versteck aus oben an der Dachkante, während er den beiden Männern nachsah, die Seite an Seite die dunkle Gasse verließen und nach Osten abbogen.
Er zog an seiner Kippe, inhalierte tief und stieß dann weißen Rauch aus.
Norman Koch, der Bulle, und sein ewiger Gegenspieler, Alessandro, waren ganz offensichtlich alles andere als Feinde, stellte Florenz erfreut fest. Also wenn er diese Neuigkeit nicht zu seinen Gunsten nutzen konnte, dann wusste er auch nicht.
Sein Zettel hatte genau das bewirkt, was er sich erhofft hatte. Alessandro bekam Panik, er war sogar blind einem völlig unbeteiligten Mann hinterhergerannt, der vermutlich nur vor ihm geflüchtet war, weil er befürchtete, Alessandro sei ein Bulle. Und so wie der Typ ausgesehen hatte, hatte er vermutlich ein paar chemische Drogen zum verticken bei sich getragen. Aber diesbezüglich war Florenz als ehemaliger Polizist vielleicht etwas voreingenommen. Für ihn war früher schon stets jeder Typ in dieser Stadt ein potenzieller Drogenkonsument gewesen. Wer hier lebte, hatte grundsätzlich Dreck am Stecken, das war unvermeidlich in einer Stadt, in der das Verbrechen regierte.
Er zog erneut an seiner langen Zigarette. Nuttenstängel nannte Brian diese Kippen, meist um Florenz aufzuziehen. Florenz und Brian waren, auch wenn es im Moment weniger den Anschein hatte, beste Freunde. Wie Brüder, würde er sagen. Als Florenz damals Brian begegnet war, vor vielen Jahren als Florenz noch für das Gesetz ermittelte, waren sie irgendwie ziemlich schnell doch Freunde geworden. Was vermutlich daran gelegen hatte, das Florenz Brians Vergangenheit miterlebt und ihm daraus geholfen hatte, woraufhin ein starkes Band zwischen ihnen entstanden war. Davon abgesehen hatte die andere Seite, die Seite des organisierten Verbrechens, Florenz einfach gereizt. Also war er übergelaufen.
Also kannte er Brian ziemlich gut, und seinen Hass auf Verräter. Florenz konnte es ihm wohl nicht verübeln, Brian hatte bei Enio Zuflucht gefunden, Enio hatte ihn nicht nur aufgenommen, er hatte ihn geradezu vor seiner Familie gerettet, ihn immer beschützt. Brian wollte nur sein Zuhause vor Ärger bewahren, er hatte Angst, dass wegen Alessandros Verrat und wegen Franklins lockerer Zunge, alles zusammenbrach, was er als Familie bezeichnete.
Aber Florenz sah sich gezwungen, ihn nun auszubremsen, auch wenn Brian das nie erfahren durfte, sonst würde er Florenz wohlmöglich einfach abknallen.
Ja, Freundschaften waren in ihrer Branche eher brüchig als standhaft. Doch wenn man das begriffen hatte, musste man sich nicht fürchten, man musste nur aufmerksam sein.
Florenz wollte nicht, das Alessandro Brian in die Hände fiel. Noch nicht jedenfalls. Es war zu früh, um zuzugreifen. Sie brauchten mehr Informationen. Florenz hatte Alessandro nicht als Verräter kennengelernt. So war Alessandro nicht, er hatte seinen Bruder Enio stets geliebt, das hatte man am Umgang der beiden erkannt. Außerdem hätte Alessandro ihn doch einfach töten können, wollte er Enio nur loswerden.
Nein, Alessandros Gründe für den Verrat waren andere, und so langsam setzte sich das Rätsel für Florenz zusammen.
Was wussten sie mittlerweile?
Alessandro hatte verheimlicht, dass er homosexuell war. Außerdem schien er nun zu seinem früheren Erzfeind, dem Ermittler Norman Koch, eine freundschaftliche Beziehung zu führen, oder vielleicht sogar noch mehr.
Florenz konnte eins und eins zusammenzählen, Alessandros Verrat hatte eindeutig mit seiner Homosexualität und Norman Koch zutun.
Aber warum hatte er sich nicht einfach Enio anvertraut? Warum hatte er geglaubt, er müsse sie alle verraten?
War es Kochs Idee gewesen?
Steckte er hinter allem?
Liebe macht blind, das wusste Florenz leider nur zu gut.
Aber die Entdeckung war geradezu ideal. Ideal für Enio, der nur schwer mit dem Verrat seines kleinen Bruders zurechtkam.
Wenn Norman Koch hinter Alessandros Wandlung steckte, dann war Alessandros Schicksal noch nicht besiegelt. Doch was Koch anging ... Nun bei ihm sah die Sache dann ganz anders aus.