Читать книгу Herzbrecher - K.P. Hand - Страница 4
Prolog
ОглавлениеZeit. Zeit kann der größte Feind des Menschen sein. Sie vergeht immer gleich, doch wir fühlen das Vergehen der verstreichenden Zeit immer anders. Mal drängt sie, mal steht sie still. Eine Stunde konnte wie ein Jahr vorkommen, ein Jahr wie ein Jahrzehnt. Zeit, die erdrückt, die einen Mann ersticken lässt, stillstehende Zeit, die einfach nicht vergehen will, man ertrinkt darin. Zeit, in der einem Mann klar wird, dass er die meiste Zeit seines Lebens, Zeit verschwendet hat.
Zeit.
Zeit.
Zeit.
Was würde er alles dafür geben, wenn sie doch nur schneller vergehen würde. Nun, so kurz vor dem Ende der erstickenden, stillstehenden Stunden, die sich Jahr für Jahr aneinandergereiht hatten, so kurz vor der Erlösung, stand die Zeit stiller denn je.
Valentin schob eine Hand unter den Kopf, seine braunen Augen waren zur fleckigen Zellendecke gerichtet, die wegen der Risse und wegen der bereits heruntergebröselten Stücke wie Schweizerkäse aussah. Er schwitzte, aber nach all den Jahren hatte er sich daran gewöhnt. Selbst die lästigen Fliegen nahm er kaum noch wahr, die über seinen nackten Oberkörper wanderten und von seinem herben Schweiß kosteten.
Von draußen vom Gefängnisinnenhof vernahm er Gelächter, Jubel und Fäuste, die auf nackte Haut trafen. Es klatschte, jemand stöhnte, die Menge jubelte, die Wärter ... drehten vermutlich wie üblich dem Geschehen den Rücken zu.
Während draußen die Neuen erkennen durften, wie das Leben in diesem Loch von nun an für sie aussehen würde, fragte sich Valentin in seiner Zelle – die er für gewöhnlich mit fünf weiteren Insassen teilte, die jedoch nur drei Betten zur Verfügung stehen hatte – warum er als einziger Mann nicht raus durfte.
Er dachte wieder an das Verstreichen der Zeit und ließ die qualmende Zigarette zwischen seinen Lippen von einem Mundwinkel zum anderen wandern. Draußen unter freiem Himmel verging die Zeit etwas schneller als in diesem Raum aus drei Betonwänden und einer Gitterwand. Es kam ihm vor, als sei er schon zwei Leben in diesem verfluchten Dritte-Welt-Insel-Gefängnis. Die Wände um ihn herum schienen täglich näher zusammenzurücken, es war ein Wunder, das sie ihn noch nicht zerquetscht hatten.
Und das alles nur, weil er jemanden vertraut hatte.
Sein Leben lang hatte er sich davor gehütet, einem anderen als sich selbst über den Weg zu trauen, und dann vergisst er all seine Vorsichtsmaßnahmen für ein hübsches Gesicht, das er – Idiot, der er nun mal war – sogar hatte beschützen wollen. Er war so ein Narr gewesen!
Aber was beklagte er sich eigentlich? Angesichts seiner Lebensweise hatte er insgeheim immer geahnt, dass er irgendwann in einem Knast endete. Er hätte nur nie erwartet, dass es ausgerechnet so ein Drecksloch sein würde.
All die Jahre hatte er damit verbracht, durch die Welt zu reisen, diesen und jenen Job anzunehmen, es gab nur ihn und seinen Koffer mit seinem Baby. Seiner Waffe. Nie hatte er einen Gedanken an Zuhause verschwenden, nie hatte er geglaubt, dass er sich nach seiner Heimat sehnen oder die Unfreundlichkeit der Deutschen vermissen würde. Jetzt tat er es. Vor allem sein Heimatdorf, mitten auf dem Land. Er vermisste den weißbärtigen dicken Mann hinter der Theke bei seinem Bäcker neben seinem Elternhaus, der ihn jeden Morgen genervt bediente. Er vermisste die seltsame alte Dame in dem Haus an der Ecke am Ende der Straße, die mit ihrer schwarzen Katze aus dem Fenster sah und Fußgänger anspuckte. Er vermisste den Mann, der unter der Brücke an der Autobahn wohnte und ein Gartentürchen wie einen Hund an der Leine hinter sich herzog. Er vermisste seine Eltern, zwei einfache Milchkuhbauern, die täglich hart für ihr Geld arbeiteten und auf ihre ländliche Art unerträglich vorurteilsvoll und ignorant waren. Er vermisste es sogar, sich von ihnen anzuhören, er sei ein Sünder und eine Schande für die Menschheit. Und er vermisste das strahlende Lächeln seiner Schwester. Verdammt, er vermisste sogar die Militärkaserne, in die er mit achtzehn Jahren geflohen war.
Er hatte oft verlangt, dass man ihn in ein deutsches Gefängnis verlegen sollte, das man ihn ausliefern sollte, aber dazu war es nie gekommen, er bezweifelte mittlerweile, dass irgendwer gewusst hat, das er hier verrottete.
Bis auf jene Person, der er es zu verdanken hatte natürlich.
Seine Gedanken wurden abgelenkt, als er Schritte über den Flur herannahen hörte. Teure Schuhe klackerten über den Boden, begleitet von den schweren, gedämpften Schritten der Stiefel der Gefängniswärter.
Neugierig runzelte Valentin seine Stirn und legte den Kopf so weit schief, dass er von seinem Hochbett hinunter zur Zellentür blicken konnte.
Ein Wärter tauchte vor der Zelle auf, dunkelhäutig und mit mandelförmigen Augen, in grüne Uniform gekleidet, wie Valentin es gewohnt war. Die Mütze hing schief auf dem kurzen dunklen Haar, weil sie dem Mann zu groß war.
Der Wärter schlug mit einem schwarzen Schlagstock gegen die Zellentür und brüllte etwas in einer fremden Sprache. Übersetzt bedeutete es so viel, wie: »Steh auf, Du Made. Hände an die Wand, Beine auseinander«.
»Fuck you«, entgegnete Valentin und wandte seine braunen Augen wieder zur Decke. Er wollte allein sein und hatte keine Lust auf einen weiteren Besuch. Er hatte diese Woche erst einen Mann von draußen empfangen müssen, der gute Neuigkeiten für ihn gehabt hatte. Valentin hatte also keinen Bedarf an weiteren Besuchern, da es für ihn nichts gab, was das letzte Treffen überragen könnte.
Die Gefängniswache brüllte etwas, das Valentin trotz, das er mittlerweile die Sprache ganz gut beherrschte, nicht verstehen konnte. Ein paar vollkommen zusammenhangslose Beleidigungen konnte er heraushören, aber die beeindruckten ihn wenig.
Er wusste, sein Verhalten würde ihm spätestens beim Essen, allerspätestens unter der Gemeinschaftsdusche, teuer zu stehen kommen. Denn hier in diesem Drecksloch waren nicht nur die Gefangenen die Gefahr, sondern überwiegend die korrupten und sehr aggressiven Wärter. Sie bezahlten gerne Gefangene, damit diese, Mitgefangene zusammenschlugen – oder Schlimmeres.
Valentin hatte hier drinnen in all den Jahren schon alles miterlebt, er war Opfer aber auch Täter gewesen. Für ein Päckchen Tabak hatte er sich auch schon mal bestechen lassen.
Okay, vielleicht öfters.
Na gut, eigentlich ziemlich oft!
Vor allem wenn Frischfleisch ankam, hatte er in den ersten Reihen gestanden, um sich seinen Spaß mit ihnen zu erlauben. Und das, obwohl er als Neuling selbst alles hatte erleiden müssen. Schlägereien, Messerstechereien mit selbst gebastelten Messerchen aus allerlei Material, das sie hier so fanden. Übergriffe unter der Dusche, nachts mit zwei offenen Augen und mit dem Arsch zur Wand schlafen müssen, um zu vermeiden, weder vergewaltigt noch abgestochen zu werden.
Ach ja, das Gefängnisleben konnte tatsächlich so wunderbar klischeehaft sein, wie es in manch Filmen dargestellt wurde, jedenfalls dann, wenn man in einem solchen Drecksloch festhing wie Valentin.
Er war gewiss kein feiner Herr, der zu Unrecht eingesperrt war, und vielleicht verdiente er das hier. Aber es widerstrebe ihm, wegen etwas zu sitzen, das er nicht getan hatte.
»Ich habe gesagt, du sollst dich ficken, Arschloch«, rief Valentin der Gefängniswache zu, weil dieser Pisser einfach nicht das Maul halten wollte.
Da geschah es, – obwohl Valentin sich sicher gewesen war, dass niemand hier seine Muttersprache verstand – der Wärter zog aus Wut die Waffe und zielte durch die Gitterstäbe auf Valentin.
»Genug! Das genügt!«, ertönte plötzlich eine deutschsprachige Stimme.
Als die dunkle melodiöse Männerstimme erklang, richtete sich Valentin auf die Ellenbogen und begutachtete neugierig den Mann, der sich vor der Zelle aufbaute und der Wache bedeutete, die Waffe zu senken. Übersetzt bat er: »Machen Sie einfach die Zelle auf, er kann gerne liegen bleiben.«
Die Wache überlegte. Erst als er einige Geldscheine zugesteckt bekam, senkte er zögerlich die Waffe und steckte sie wieder ein. Valentin bezweifelte jedoch, dass ihm je Gefahr gedroht hatte. Klar, er wäre nicht der erste Mann, der hier getötet wurde, nicht einmal an diesem Tag, aber die Waffe war so von Rost zerfressen und die Hand des Wärters hatte so gezittert aus Wut, dass er mit dem Ding vermutlich alles getroffen hätte, nur nicht Valentin.
Der fremde Mann, der zu ihm wollte, sprach zwar deutsch, aber er sah mehr wie ein Südländer aus. Spanier, Italiener, etwas in dieser Richtung. Groß, gebräunte Haut, kräftiges dunkles Haar, das er ordentlich zurückgekämmt trug. Sein imposanter Körper steckte in einem maßgeschneiderten Anzug, und trotz der tropischen Hitze schien er nicht zu schwitzen. Seine teuren Schuhe glänzten, trotz des fahlen Lichts. Ein richtiger Lackaffe, stellte Valentin fest. Noch mehr ein Snob als der Typ, der vor Kurzem hier gewesen und mit ihm gesprochen hatte. Vielleicht gehörten die beiden Männer irgendwie zusammen.
Valentin schwang die Beine über die Bettkante, als die Zelle geöffnet wurde und der Mann eintrat. Hinter diesem verriegelte der Wärter wieder die Tür und drehte dem Geschehen den Rücken zu, er wirkte nicht, als wollte er eingreifen, falls Valentin gewalttätig werden wollte.
Aber obwohl Valentin wie eines eingesperrt war, war er kein Raubtier, das sich auf alles stürzt, was ihm vor die Augen kam. Doch in diesem Loch wurden alle über einem Kamm geschert. Wer hier einsaß, war nun mal unterster Abschaum.
Valentin musterte den Mann auffällig abschätzend, dann zog er an seiner Kippe und nahm sie zwischen die Finger um reichlich Rauch auszustoßen. Dabei fragte er: »Was wollen Sie?«
Der Fremde grinste, dabei bildeten sich Grübchen um seinen Mund.
Valentin stockte einen Moment. Nicht unbedingt wegen der Grübchen, sondern viel mehr, weil er plötzlich das Gefühl hatte, den Mann zu kennen. Oder jedenfalls sah er jemanden verdammt ähnlich.
»Sie sind Valentin?«, fragte der Mann rhetorisch mit einem charmanten Lächeln. Er wäre sicher nicht in dieser Zelle, wenn er nicht gezielt nach Valentin gesucht hätte.
Valentin nickte knapp und zog erneut an seiner Kippe. Er ließ den Mann nicht aus den Augen, denn er hatte eine dunkle Vorahnung, wer er war.
»Mein Name ist Enio Martin. Ich komme aus St. Marienstadt«, berichtete er und lächelte dabei noch immer freundlich. Ein Lächeln wie es Geschäftsmänner oder Werbemenschen aufsetzten, wenn sie mit einem potenziellen Kunden sprachen. Oder, wenn sie Gewinn riechen konnten.
Der Ort kam Valentin nicht bekannt vor, der Nachname dafür umso mehr.
Valentin kaute grübelnd auf dem hinteren Stummel seiner Selbstgedrehten. »Martin, hm? Kommt mir bekannt vor.«
Und ob ihm der Name bekannt vorkam!
Enio Martin nickte schmunzelnd. »Ich glaube, Sie kennen meinen Bruder: Alessandro.«
»Kann man wohl sagen.« Valentin zog die Kippe aus dem Mund und warf den Stummel zu Boden. Er sprang leichtfüßig vom Bett und zertrat die Fluppe, ehe er sich an den Bruder des Mannes wandte, der ihn verraten hatte. Er zog neugierig die Augenbrauen hoch. »Und was verschafft mir das Vergnügen?«
»Ich hörte, Sie seien ein Mann für besondere Arbeit.«
»Ich habe meine Qualitäten.«
Enio Martin nickte wieder. »Gut. Ich hätte einen geschäftlichen Vorschlag für Sie. Es sei denn, Sie wollen die Möglichkeit nicht nutzen, aus diesem Dreckloch raus zu kommen.«
Valentin gab sich interessiert, aber nicht zu interessiert. Nach all den Jahren wusste er, dass er Platz für Verhandlungen lassen musste, wenn er mehr rausholen wollte als die üblich eingeplante Summe seines Kunden.
Er lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand zwischen den beiden Betten und nickte mit dem Kinn Enio Martin auffordernd zu. »Ich bin ganz Ohr.«
»Es geht um meinen Bruder«, erklärte Enio Martin. »Ich benötige Ihre Fähigkeiten, um ihn zu finden.«