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Kein Bier vor vier

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Viel zu früh rissen schreiende Möwen Stuhr aus seinem Schlaf. Konnten sie nicht wenigstens am heiligen Sonntag einmal Ruhe geben? Vermutlich suchten sie Beute hinter den Reinigungsfahrzeugen, die wie Heinzelmännchen frühmorgens den Sand vor Sankt Peter säuberten.

Schlaftrunken schlurfte Stuhr zur Terrasse seines Hotel-Apartments. Sein Kopf schmerzte. Dieses Mal aber nicht vom Alkohol, denn er hatte nach dem gestrigen frühmorgendlichen Auftakt mit Kommissar Hansen beschlossen, den Samstag über die Finger davon zu lassen. Er hatte einen lockeren Tag im Strandkorb verbracht und sich dabei gehörig den Pelz verbrannt. Selbst in der Spiegelung der Terrassenscheibe war zu erkennen, dass er sich tüchtig verbrannt hatte. Aber was sollte es? Er cremte sich nach dem Duschen gründlich ein und schritt gemächlich die Treppen zum Frühstücksraum hinunter. Die Rezeptionistin stoppte seinen Gang mit erhobener Sonntagszeitung.

»Moin, Herr Stuhr. Da sollten Sie einmal hineinschauen. Im hinteren Teil gibt es einen umfassenden Bericht über das Strandleben in St. Peter-Ording mit aufschlussreichen Fotos. Eine lohnende Strandlektüre.«

Augenzwinkernd übergab sie ihm die Postille. Stuhr dankte und schlurfte zum Frühstücksraum, in dem er seinen Morgenkaffee einnahm. Lesen mochte er nicht, Essen auch nicht. Nachdenklich schaute er auf die Strandterrasse seines Hotels.

Gestern auf dem Sand hatte er viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Es war ein langer kalter Winter ohne Jenny gewesen. So schwer, wie sie manchmal zu ertragen war, so sehr fehlte sie ihm. Er müsste in seinem Leben vermutlich einiges ändern, wenn er eine zweite Chance bei ihr bekommen würde. Nur was? Er musste herausbekommen, was Frauen wie Jenny denken.

Die freundliche Bedienung lenkte ihn kurzfristig ab.

»Nichts gegessen? Herr Stuhr, Sie dürfen nicht immer nur Ihren Gedanken nachhängen. Gehen Sie doch einmal an unser leckeres Frühstücksbuffet.«

Der ungnädige Blick von Stuhr lehrte sie, sich auf ihre Dienstleistungsfunktion zurückzuziehen. »Soll ich das Kaffeegeschirr abräumen?«

Stuhrs Entscheidung stand fest. Er würde in seiner Strandbuchhandlung einen dieser bunten Frauenromane erstehen, die der selbstbewussten Frau eine lebenswerte Zukunft versprachen – selbstverständlich ohne Mann.

Die Bedienung wich noch nicht von der Stelle. »Kann das weg?«

Stuhr schüttelte gedankenverloren den Kopf, ergriff die Sonntagszeitung und verließ dankend den Frühstücksraum. Gegen den Strom der Strandgänger gelangte er zur Buchhandlung und holte tief Luft, bevor er den Laden betrat. Es fiel ihm schwer, sich an das Regal der Frauenromane mit den farbenfrohen Buchumschlägen heranzutasten, ohne von den Verkaufskräften bemerkt zu werden. Aber es musste sein.

Er spähte nach anderen Kunden, die ihn beobachten könnten, aber die waren alle selbst mit dem Stöbern beschäftigt. So konzentrierte er sich auf seine Suche. Zeit für eine inhaltliche Recherche war nicht gegeben, er musste nach pastellfarbenen Buchrücken und einschlägigen Titeln gehen.

›Endlich frei‹. Nein, dieser Buchtitel auf dem hellgelben Buchrücken entsprach nicht dem, was er sich von Jenny erwartete.

Vielleicht eher das Buch nebenan. ›Mit 50 hat man noch Träume.‹

Unbemerkt zog er das Buch aus dem Regal. Das hellblaue Cover mit den hochhackigen roten Pumps würde Jenny sicherlich ansprechen, wenngleich der Untertitel etwas martialisch klang. ›Vom Blitzschlag zum Befreiungsschlag.‹

»Das wird Ihrer Frau sicher gefallen.« Die aus dem Nichts zur Beratung herangeschwebte Verkäuferin bemerkte nicht, dass sich Stuhr erschrocken hatte. Sie rasselte ihre Verkaufsargumente herunter. »Das Büchlein haben wir schon hundertfach verkauft. Es ist diesen Sommer der Renner an der Nordseeküste. Nur 11,80, aber nicht ganz ohne.«

Stuhr zog die Augenbrauen hoch. »Nicht ganz ohne?«

»Ja, eine Bekannte von mir hat es über Ostern gelesen. Zu Pfingsten ist sie zu Hause ausgezogen und jetzt amüsiert sie sich in den Bars in Sankt Peter. Ihr Mann darf löhnen.«

Stuhr begann zu frösteln. Er versuchte den Wahrheitsgehalt einzuschätzen, aber die Verkäuferin wirkte glaubhaft. Das schien genau das richtige Buch für Frauenversteher zu sein. »Ich nehme es.«

»Einpacken, als Geschenk?«, fragte die Verkäuferin fast automatisch nach, bevor sie sich auf den Weg zur Kasse machte.

»Ja, ja, als Geschenk, natürlich«, stotterte Stuhr erleichtert und zahlte. Er bedankte sich für die gute Beratung und verließ freundlich grüßend den Laden.

Auf dem Vorplatz zur Seebrücke steuerte er den Papierkorb an, der am weitesten vom nächsten Badegast entfernt stand. Er musste das Geschenkband mit ein wenig Gewalt vom Buch ziehen. Unbeobachtet entsorgte er das Umschlagpapier und verbarg das Buch in seiner Sonntagszeitung.

Dann pilgerte er, wie immer bei schönem Wetter, über die neue Seebrücke zu den Pfahlbauten. Die Zeitung mit dem Buch hielt er fest unter dem linken Ellenbogen eingeklemmt, damit es nicht entdeckt werden konnte. Er spähte in die Taschen der anderen Strandgäste und entdeckte so manche Lektüre, aber ein weiteres Buch mit einem hellblauen Cover konnte er nicht ausmachen.

Ein seltsames Gefühl von Einsamkeit überkam ihn, wie er über die Seebrücke schlenderte, denn hier hatte er Jenny kennengelernt. Wie es ihr wohl ging? Wer weiß, in welchen Armen sie sich jetzt herumtrieb?

Oder trauerte sie um ihn? Zumindest ein wenig?

Stuhr schüttelte die trüben Gedanken ab. Bevor er den Sand betrat, zog er die Schuhe aus. Tiefe Radspuren unweit der Arche Noah ließen darauf schließen, dass Schneiders verunglücktes Flugzeug abtransportiert worden sein musste.

Nein, Schneider oder Verena, denen musste er nicht begegnen. Deswegen trieb es Stuhr heute zur Windsurfstation an der Badestelle Ording. Dieser Bau wurde zwar nur von mannshohen Stelzen getragen, aber er verfügte über eine große Terrasse, die einen prächtigen Ausblick auf das Strandleben vor der freien Nordsee gewährte.

Stuhr hatte sich auf den Holzplanken vor dem Windsurfshop einen der in Pastelltönen gestrichenen herumstehenden Barhocker geschnappt und ihn in die schattige Bootshalle gestellt. Er liebte es, aus dieser erhöhten abgedunkelten Position das Strandtreiben zu verfolgen. Zum Zeichen der Besitz­ergreifung legte er die Zeitung mit dem darin verborgenen Buch auf den Hocker und begab sich zur Bar im Surfshop, um einen Milchkaffee zu ordern.

Der wurde ungewöhnlich schnell vor ihm auf dem Tresen platziert. »Der geht auf unser Haus. Mehr Werbung für SPO geht ja kaum. Welcome und Cheers.«

Verdutzt nahm Stuhr den Milchkaffee entgegen. SPO war die trendige Abkürzung für St. Peter-Ording. Während er sich bemühte, vorsichtig das Heißgetränk zu seinem Hocker auf der Terrasse zu balancieren, wurde ihm immer wieder auf die Schulter geklopft. Das war verwunderlich, weil er hier kaum bekannt war. Zur Windsurfstation zog es ihn nur, wenn es richtig heiß war und er abtauchen musste.

Nachdenklich schlürfte er seinen Milchkaffee und beobachtete interessiert das gelangweilte Abhängen der Möwen auf der spiegelglatten Nordsee. Ab und zu verschaffte sich Stuhr ein wenig Abkühlung, indem er ein kühlendes Bad nahm.

Mittags hielt es Stuhr nicht mehr aus. Zeit für einen Konterdrink, befand er und schälte sich vom Barhocker, um ein eiskaltes Bier aus der Bar zu holen. Dort buchte er auch einen Strandkorb, den er gegen die Sonne drehte, bevor er sich genüsslich niederließ.

Die Nordseeluft tat seinem Schädel gut, das Bier auch. Vorsichtig zog er das Frauenbuch aus der Zeitung und begann, den Klappentest zu lesen. ›Powerfrau Bea stellt sich die Frage aller Fragen: Soll das mit 50 alles gewesen sein? Völlig zu Recht fragt sie sich, wo die Romantik in ihren Beziehungen geblieben war.‹

Romantik? Das kam unerwartet und klang kompliziert für Stuhr. Hatten Jenny und er eigentlich romantische Momente gehabt? Außer im Bett natürlich?

Während er darüber grübelte, schielte er zur Sonntagszeitung. Er könnte den Sportteil lesen. Oder diese Reportage über Sankt Peter. Jäh wurde er in seinen Gedankenspielen unterbrochen.

»Moin, Stuhr. Schön heiß heute, was?«

Stuhr musste nicht einmal hochblicken, denn er erkannte Oberamtsrat Dreesens dröge Stimme sofort. Er grüßte zurück. »Moin, Dreesen. Was machst du denn an der Westküste? Kleine Dienstfahrt in die Marsch?«

Nur zögerlich und unsicher antwortete sein ehemaliger Mitarbeiter. »Nö, sonntags eher nicht. Ein bisschen die Füße vertreten und abschalten. Mal herauskommen aus dem Alltagstrott, du verstehst?«

Stuhr verstand nicht, aber er hatte eine böse Ahnung. Bevor er Dreesen in die Augen blicken konnte, fegte Jenny Muschelfang um die Ecke und ohrfeigte ihn links und rechts mit ihrem Exemplar der Sonntagszeitung.

»Du Ferkel, du lernst aber auch nichts aus deinen Fehlern. Und dann noch mit Schneider, diesem Betrüger.«

Dreesen versuchte, sie von weiteren Schlägen mit der Zeitung abzuhalten. »Aber Jeanette, nun regen Sie sich bitte nicht so auf. Kommen Sie, wir gehen weiter. Der Kollege Stuhr hat doch nicht nur schlechte Seiten.«

Das ›Sie‹ nahm Stuhr mit Befriedigung zur Kenntnis. Anscheinend war Dreesen bei ihr noch keinen Fingerbreit weitergekommen.

Aber jetzt wurde Jenny zur Furie. Wütend blaffte sie Dreesen mit einem Fingerzeig auf Stuhrs Sonnenbrand an. »Nicht nur schlechte Seiten? Der hat doch noch einen hochroten Kopf vom letzten Saufgelage und trinkt schon wieder Bier um Bier in der Mittagssonne!«

Sie holte nur kurz Luft, denn sie hatte den hellblauen Frauenroman entdeckt. Jetzt kam Jenny richtig in Fahrt. »Warte nur ab, mein Freundchen, bis dein Flittchen ihre Lektüre durchgelesen hat. Dann wirst du dein blaues Wunder erleben. Wo treibt sich das Luder überhaupt herum? Ist es die aus der Sonntagszeitung? Du Schuft!«

Wieder schlug sie Stuhr die Sonntagszeitung mehrfach um die Ohren. Glücklicherweise zog Dreesen Jenny behutsam aus seinem Gesichtsfeld.

Stuhr wurde mulmig. Welches Luder meinte sie nur? Er war sich keiner Schuld bewusst.

Kurze Zeit später kehrte Dreesen alleine zurück. »Tut mir leid, Stuhr. Das wollte ich nicht. Jeanette und ich hauen jetzt besser ab. Kann ich etwas für dich tun?«

Die Schläge von Jenny hatten Stuhr nicht wehgetan, nur ihre unbändige Wut. Aber sicher, Dreesen könnte etwas für ihn tun. »Sag mal, wer ist aktuell im Wirtschaftsministerium zuständig für diesen ganzen Energiekram? Genehmigungen und so.«

»Der Kollege Meyer-Riemenscheidt. Den müsstest du noch von früher kennen. So ein jüngerer schwitziger Dicker mit roten Wangen. Er war früher für Wirtschaftsförderung an der Nordseeküste zuständig, jetzt prüft er alle möglichen Anträge im Energiebereich. Du kannst aber auch seltsame Fragen stellen.«

»Wieso seltsam?«

»Na, hör mal. Du ziehst hier über die Tische und durch die Betten und dann fragst du mich ausgerechnet nach dem Kollegen Meyer-Riemenscheidt.«

Stuhr sah Dreesen ungläubig an. Der tippte an die Sonntagszeitung.

»Das ist schon ein scharfer Feger in der Postille, Stuhr, mit dem du am Freitagabend auf der Arche Noah gefeiert hast. Da kann ich schon verstehen, dass du selbst Frauen wie Jenny abservierst.«

Stuhr bemühte sich, seriös zu erscheinen. »Hör auf Dreesen, am Freitag war ich superbreit. Ich bin abgestürzt. Eine Ausnahme.«

Dreesen beugte sich vor. »Kannst ja am kommenden Donnerstag zu meinem 50. ins Sportheim in meinem Dorf kommen. Da wird die Post so richtig abgehen.«

Skeptisch fragte Stuhr nach. »Ist Jenny auch dabei?«

Dreesen hielt den Finger vor den Mund. »Tschüß, ich muss weiter.« Dann entschwand er und eilte Jenny hinterher.

Stuhr schob den Frauenroman beiseite und begann neugierig die Sonntagszeitung von hinten aufzublättern. ›VIPs: Strandleben in SPO – Schöne Frauen und Machos‹, das musste die Reportage sein.

Bereits das erste Foto ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Schneider hielt lässig seine Overstolz im Mundwinkel, während er versuchte, mit einer brennenden 50-Euro-Geldnote Stuhrs Zigarre anzuzünden.

Aber es kam noch schlimmer, denn auf dem zweiten Foto hielt Stuhr besitzergreifend die Bedienung Verena im Arm. Eigentlich ein schönes Foto, wenn sich seine rechte Hand nicht in ihren Ausschnitt geschlichen hätte und ihre rechte Brust fest umklammerte. Daher stammten also die vielen Fotoblitze, an die er sich noch vage erinnern konnte.

Stuhr fluchte laut, bevor er begann, den Artikel genauer zu studieren.

Küstengold

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