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Mit Pauken und Trompeten

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Todmüde jagte Stuhr viel zu schnell über die von den trüben Scheinwerfern seines alten Golfs kaum erleuchtete Landstraße. Ungläubig schaute er auf die Uhr. Es war noch keine sechs Uhr am frühen Morgen.

Kommissar Hansen hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Stuhr fragte sich, warum er das eigentlich immer mit sich machen ließ. Der Kommissar hatte sicherlich ohnehin Bereitschaft und schob ruhestandsfähigen Dienst. Aber er selbst hätte noch schön in seinem Hotelbett in Sankt Peter liegen bleiben können, zumal sein Schädel von dem Gelage am Abend vorher mit Schneider noch heftig schmerzte.

Er durchwühlte das Handschuhfach nach einem Kaugummi, aber er wurde nicht fündig. Als Stuhr vorzeitig pensioniert worden war, hatte er sich geschworen, nie mehr vor neun Uhr morgens aufzustehen. Und jetzt versuchte er mühselig, im Morgengrauen den Weg nach Rendsburg zu finden.

Am besten den Ring um den alten Ortskern wählen und dann mit der Schwebefähre übersetzen, hatte ihm Kommissar Hansen mit auf den Weg gegeben. Sie hatten sich vor Jahren in der Staatskanzlei kennengelernt, als Hansen zum Personenschutz des Ministerpräsidenten abkommandiert war. Stuhr wäre früher auch gerne zur Polizei gegangen, aber Freunde hatten ihm wegen der schlechten Aufstiegsmöglichkeiten abgeraten. Kommissar Hansen war schon in Ordnung, und wenn er mit seinen dienstlichen Mitteln nicht weiterkam, rief er Stuhr gern einmal an. So konnte Stuhr jetzt als Frühpensionär ermitteln, ohne jemals bei der Polizei gewesen zu sein.

Als ehemaliger Beamter der Staatskanzlei hatte Stuhr immer noch viele Kontakte in den verschiedenen Ministerien und konnte dienstprivat schon noch das eine oder andere herausbekommen. Sein alter Dienstausweis, der bis zu seinem 65. Lebensjahr gültig sein würde, wurde ihm nie abverlangt und leistete nach wie vor treue Dienste.

Das Rendsburger Ortsschild flog an ihm vorbei, und schnell erreichte er über den Stadtring und die Kreisverwaltung die Alte Kieler Landstraße. Wenig später tauchten in den Nebelschwaden die filigranen Bögen der alten Eisenbahnbrücke auf, die sich über die Kreisstadt in luftige Höhen hochschraubt und den Nord-Ostsee-Kanal Richtung Kiel überquert. Jetzt entdeckte er auch den Wegweiser zur Schwebefähre, einer Hängebahn, die unterhalb der Stahlbrücke montiert war. Stuhr bremste seinen Wagen ab und bog zum Kreishafengelände ein. Wenig später hielt er unterhalb der Eisenbahnbrücke vor einer Schranke, hinter der sich im Wasser des Kanals die Lichter der Laternen auf der gegen­überliegenden Seite spiegelten.

Aus dem Morgengrauen glitt die an vielen Seilen hängende Schwebefähre heran, deren tiefliegender Bug sich unter der Fahrbahn einklinkte. Die Schranke öffnete sich, und Stuhr konnte auffahren. Die Fähre bot Platz für vier Fahrzeuge, aber da er der einzige Fahrgast war, zeigte der Kapitän im Führerstand Gnade und schloss die Schranken wieder.

Stuhr genoss den kühlen Morgenwind, als er in wenigen Metern Höhe mitsamt der Fähre durch die Nebelschwaden über den Kanal schwebte. Kurze Zeit später legte die Fähre auf der anderen Seite in Osterrönfeld an, und er konnte seine Fahrt fortsetzen.

Keinen halben Kilometer weiter konnte Stuhr mehrere Scheinwerfer ausmachen, deren grelles Licht ihn zunehmend blendete. Die davor parkenden Fahrzeuge warfen ihm lange Schatten entgegen. Der Kommissar hatte recht gehabt, das war wirklich einfach zu finden.

Stuhr fuhr auf einem kleinen Wirtschaftsweg direkt zum Licht hin. Die wenigen Personen, die bei den Polizeifahrzeugen hantierten, wirkten gespenstisch im aufsteigenden Nebel der Morgendämmerung.

Stuhr stoppte und zwängte sich aus dem Golf.

Kommissar Hansen eilte auf ihn zu. »Moin, Stuhr. Du hast dir ja schon wieder so eine alte Rostlaube zugelegt.«

Stuhr reichte ihm die Hand. »Moin, Hansen. Golf II, da kenne ich jede Kerbe im Lenkrad.«

Der Kommissar verzog die Nase. »Mein Gott, hast du eine Fahne.«

Stuhr unternahm Anstalten, sich umzudrehen. »Tut mir leid, gestern einen Kleinen gehabt. Ich kann ja auch umkehren und nach Sankt Peter zurückfahren.«

Hansen Stimme klang streng. »Dann muss ich dir leider von Amts wegen den Lappen abnehmen. Besser, du bleibst.«

Stuhr wollte protestieren, aber im gleichen Augenblick nahm ihn Hansen am Arm und führte ihn fort. »Prima, Stuhr, dass du gleich herkommen konntest. Ich möchte dir etwas zeigen, komm mal mit.«

Der Kommissar führte ihn zu einem im Dunkeln liegenden Windrad, dessen langsam laufende Rotoren gleichmäßige rhythmische Geräusche verursachten, die dem Fallen des Beiles einer Guillotine nicht unähnlich klangen. Er wies auf eine auf dem Boden liegende Plane, die einen Körper abdeckte.

»Ich möchte dir den Anblick ersparen, denn einen Körper ohne Kopf vergisst man nicht so leicht.«

Nun zeigte der Kommissar mit dem Zeigefinger auf einen Hubwagen direkt unter dem Windrad, der ungleichmäßig mit Blutspritzern überzogen war. »Wie mit einer Keule weggeschlagen. Irgendjemand muss das geknebelte Opfer an die Hubkanzel gebunden und langsam zu den Rotoren des Windrades hochgefahren haben. Der Kopf ist ein ganzes Stück durch die Luft gesegelt und dann den Hang zum Kanal heruntergerollt. Dort ist er von den Schafen sauber geleckt worden. Der Knebel steckt immer noch im Kiefer.«

Unbestritten ein hässlicher Tod, aber es wird zumindest schnell gegangen sein. Stuhr musste würgen.

Er wurde nachdenklich. Gab es einen schönen Tod? Stuhr beschloss, irgendwann einmal mehr über diese letzten Dinge des Lebens nachzudenken, wenn er dazu jemals Zeit finden sollte. »Habt ihr schon eine erste Vermutung?«

»Deswegen habe ich dich aus dem Bett geholt, Stuhr. Der Kollege Fingerloos hat ganze Arbeit geleistet. Er konnte den Toten anhand des Ausweises identifizieren. Muss eine üble Fummelei in der Blutsuppe gewesen sein. Den Papieren nach handelt es sich um einen Sönke Sörensen, Abteilungsleiter von der Nordstrom AG in Rendsburg. Die versorgen Mittelholstein mit Strom und Gas. Hingerichtet wurde er von einem Windrad seiner Firma. Siehst du, dort auf dem Sockel, da steht der Schriftzug. Du hast doch in deiner aktiven Zeit in der Staatskanzlei ständig mit Energiethemen zu tun gehabt, oder? Hier läuft ein großes Ding.«

Stuhr schaute Hansen erstaunt an. »Ein großes Ding? Habt Ihr Hinweise auf die Täter?«

»Schwierig. Fingerloos und seine Leute suchen noch nach weiteren Spuren oder möglichen Zeugen. Ich denke, dass die Zusammenhänge komplex sind.«

Hansens Kollege hatte Stuhr jetzt bemerkt, denn er winkte ihm mit Mundschutz und blutverschmierten Latexhandschuhen fröhlich zu, als wenn man sich beim Kappenfest trifft.

Stuhr wies auf die verstörte Schafherde, die auf der anderen Seite der Weide eng zusammen­gedrängt verharrte. »Hundert stumme Tatzeugen, Hansen. Fang bei ihnen an.«

Der Kommissar seufzte. »Wenn es so einfach wäre. Schafe stehen symbolisch für Geduld. Ihnen wird die Unruhe kaum gefallen haben. Schau dich einmal um, Stuhr. Die Weide erlaubt einen Blick auf den Sitz der Firma von Sörensen auf der anderen Seite des Nord-Ostsee-Kanals, genau am Schnittpunkt einer viel befahrenen Land- und Wasserstraße. Der Zeitpunkt war gut gewählt, denn zu dieser frühen Zeit ist am Samstagmorgen normalerweise kein Mensch unterwegs. Das alles kann kein Zufall sein, Stuhr.«

»Wurde dieser Sörensen denn vermisst?«

»Nein. Jedenfalls wurde nach bisherigem Stand keine Anzeige bei der Polizei erstattet. Einem Brief zufolge, den wir beim Opfer gefunden haben, konnten wir entnehmen, dass er vor etwa vier Wochen zu Hause ausgezogen ist.«

»Der Grund?«, fragte Stuhr.

»Offenbar eine Geliebte. Jelena Simonovich, eine 23-jährige Rumänin. Aber die Grausamkeit der Tat spricht nicht gerade für ein Eifersuchtsdrama. Ich habe Oberkommissar Stüber gebeten, bei den Angehörigen schnellstmöglich nähere Informationen einzuholen.«

Ob der dem Hauptkommissar Hansen zugeordnete Stüber erste Wahl bei den Ermittlungen war, bezweifelte Stuhr. »Inwiefern glaubst du, dass ich bei der Aufklärung helfen kann?«

Hansen holte aus. »Man muss zunächst die Hintergründe betrachten, Stuhr. Die Nordstrom AG ist einer der wenigen verbliebenen kleinen unabhängigen Stromanbieter in Schleswig-Holstein. Das könnte vielleicht ein Schlüssel zu Auflösung des Mordes sein.«

Stuhr blickte skeptisch. Er traute dem Kieler Kommissar nicht allzu tiefe Einblicke in die Energiewirtschaft zu, zumal die Kieler Rundschau in dieser Hinsicht nur wenig kritischen Lesestoff bot.

Hansen setzte seinen kleinen Exkurs ungerührt fort. »Einige wenige große Unternehmen betreiben die Mehrzahl aller Kraftwerke und das Netz in Deutschland und sind an vielen kleineren Stadtwerken und Regionalversorgern beteiligt. Es scheint ein Wettbewerber mitzuspielen, der mit harten Bandagen um Anteile kämpft.«

Stuhr nickte. Ihm war bekannt, dass der deutsche Energiemarkt weitgehend unter diesen Energieriesen aufgeteilt war. Das Bundeskartellamt verdächtigte diese Konzerne seit Langem, die Strompreise durch Absprachen in die Höhe zu treiben. Neuerdings sollten sogar russische Konzerne mitmischen.

Kommissar Hansen bemerkte Stuhrs skeptischen Blick. »Nach der Einschätzung meiner Kollegen vom Wirtschaftsdezernat sollen die Energiekonzerne auch vor illegalen Mitteln nicht zurückgeschreckt haben: Bestechung, Betrug und Prostitution.«

Stuhr musterte ihn ungläubig. »Ja, aber auch Mord? Wie soll ich dir helfen können? Das ist vermutlich alles eine Nummer zu groß für mich.«

Der Kommissar wurde konkret: »Stuhr, du musst mit deinen alten Kontakten herausbekommen, ob ein Antrag bei der Landesregierung auf die Übernahme der Nordstrom AG vorliegt. Wenn ich das auf dem Dienstweg anschieben würde, dann hätte ich mit ziemlicher Sicherheit nach vier Wochen immer noch keine plausible Auskunft.«

Stuhr wurde unwirsch. »Hansen, um das herauszubekommen, hättest du heute Morgen einfach kurz bei mir anrufen können. Das kann nicht der einzige Grund gewesen sein, mich zu nachtschlafender Zeit am Samstagmorgen an diesen grauenhaften Ort zu beordern.«

Der Kommissar sah ihm fest in die Augen. »Ruhig Blut, Stuhr. Ich muss vielleicht ein wenig weiter ausholen, es muss aber unter uns bleiben. Dies ist nämlich bereits der dritte Mord in den letzten Wochen; immer am Wochenende, immer das gleiche Muster. Wir haben die beiden anderen Morde bis jetzt mit Hinweis auf die laufenden Ermittlungen vor der Presse unter Verschluss halten können. Das wird dieses Mal kaum gelingen, weil der Tatort unweit von einer vielbefahrenen Straße liegt.«

Stuhr pfiff durch die Zähne. Jetzt kam Musik in diesen Fall. Sein erwartungsvoller Blick veranlasste den Kommissar, weitere Einzelheiten preiszugeben: »Die Serie begann vor zwei Wochen in Kiel. Ein Sensor im Gemeinschafts­­kraftwerk in Dietrichsdorf hatte nachts die Blockierung eines Abflussrohres gemeldet, das erwärmtes Kühlwasser in die Kieler Förde zurückführt. Taucher entdeckten unter Wasser die Leiche eines Mitarbeiters des Kraftwerks, der mit einem Nylontau an das Abflusssieb gefesselt war. Es könnte sich um das gleiche Material handeln, mit dem das Opfer auf dem Hubwagen angebunden wurde.«

Stuhr bohrte nach: »Hatte der getötete Mitarbeiter auch eine Geliebte?«

Der Hauptkommissar schmunzelte. »Nein, so einfach liegt der Fall nicht, und wie der ans Sieb geriet, das wissen wir auch nicht. Er wollte abends nur Zigaretten holen gehen.«

»Gibt es denn kein Muster?«

Hansen klärte ihn auf. »Alle Morde fanden am Wochenende statt. Der zweite Mord geschah am letzten Wochenende in Eckernförde. Der Werkstattleiter der dortigen Stadtwerke wurde verschmort auf den Isolatoren in einem Umspannwerk entdeckt. Keiner weiß, wie er dorthin gekommen ist. Offensichtlich haben der oder die Täter Schlüssel gehabt. Und ich kann dich beruhigen, Stuhr. Auch der Werkstattleiter hatte keine Geliebte.«

Stuhr staunte nicht schlecht. »Drei ungeklärte Morde also. Was wird als Nächstes geschehen?«

Hansen seufzte. »Wenn wir das nur genauer wüssten. Wir waren seit gestern alle in Bereitschaft. Von der Systematik her wäre nach Kiel und Eckernförde als nächste Stadt an der Ostsee Schleswig in Frage gekommen. Wir haben seit Freitag alle Gebäude der Schleswiger Versorgungsbetriebe überwacht. Dann ereilt den armen Kerl hier das Schicksal am Rande von Rendsburg.«

Zu kurz gedacht, sagte sich Stuhr. Eine Landkarte als Täterprofil, so simpel schien auch ihm der Fall nicht gelagert zu sein. Größere Zusammenhänge hatte Kommissar Hansen offensichtlich nicht im Auge. Ihm war anzumerken, dass er mit seinem Latein am Ende war.

Neue Erkenntnisse waren nicht mehr zu erwarten, und so unternahm er vorsichtig Anstalten, diesen unwirtlichen Ort zu verlassen. »Ich werde mich auf die Socken machen, Hansen. Alte Weisheit: Wer morgens vor neun Uhr auf der Straße ist, der ist nichts und der wird nichts. Ich fahr zurück nach St. Peter-Ording.«

Der Kommissar spottete. »Klar, die erwarten dich in Sankt Peter bereits mit Pauken und Trompeten. Aber Spaß beiseite, Stuhr. Du weißt doch, wer in der Landesverwaltung für diese Dinge zuständig ist: Strom, Energie, Klimaschutz?«

Stuhr überlegte. Gut, er könnte vielleicht einmal unverbindlich im Wirtschaftsministerium nachfragen. »Ich sehe mal, was ich die Woche über erreichen kann. Die Zuständigkeiten für die Energiewirtschaft sind quer über die halbe Landesregierung verteilt, das wird ein wenig dauern. Wie geht es hier weiter?«

»Na ja, der Notdienst der Stadtwerke wird gleich das Windrad blockieren. Dann können wir die Blutspuren an den Flügeln mit denen auf dem Boden vergleichen. Ansonsten sehe ich nicht, dass wir hier noch großen Erkenntnisgewinn erzielen können.«

Stuhr zuckte mit den Schultern und verabschiedete sich. »Dann viel Glück bei der weiteren Spurensuche. Ich muss wieder ins Bett. Tschüß, Hansen.«

Er wollte sich umdrehen, aber Hansen hielt ihn an der Schulter fest.

»Hier, nimm dies. Sonst musst du noch bei meinen Kollegen pusten.« Der Kommissar reichte ihm einen Kaugummi zum Abschied.

Stuhr stieg in seinen Wagen und beeilte sich, diese Stätte des Grauens zu verlassen. Selbst die Schafe wirkten immer noch verstört. Er fluchte, denn fast wäre er beim Einbiegen in die Landstraße mit dem Leichenwagen kollidiert. Dann befand er sich wieder auf dem Weg zur Schwebefähre. Während sie heranglitt, ging am Horizont die Sonne auf. Sie tauchte die letzten sich auflösenden Nebelschwaden in ein warmes, rötliches Licht.

Stuhr erfreute sich an diesem Naturschauspiel. Man sollte öfter früh aufstehen, befand er.

Mit Rücksicht auf seine Gefühlslage und den nervös pumpenden Magen beschloss er allerdings, auf ein ausgiebiges Frühstück in seinem Hotel in St. Peter-Ording zu verzichten.

Küstengold

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