Читать книгу Küstengold - Kurt Geisler - Страница 6
Mahlzeit
ОглавлениеDienstlich zu tun gab es in der Staatskanzlei heute nichts mehr. Selbstgefällig ordnete Oberamtsrat Dreesen seine Schreibutensilien entlang der oberen Schreibtischkante. Noch eine halbe Stunde, dann würde er an diesem sonnigen Freitagnachmittag ausstempeln. Er freute sich mächtig auf das Wochenende, denn am Sonntag würde er endlich wieder einmal in weiblicher Begleitung an der See entspannen.
Das Telefon schreckte ihn hoch. Wer wagte es, ihn am heiligen Freitagnachmittag noch anzurufen? Im Display erkannte er, dass ihn sein Kollege Brodersen aus dem Wirtschaftsministerium anrief. Erfreut nahm Dreesen den Hörer ab, denn ein kurzes Schwätzchen würde ihm die Wartezeit bis zum Ausstempeln verkürzen.
»Moin, Dreesen. Ist die Langeweile bei euch noch auszuhalten?«
Sofort brauste Dreesen auf: »Was soll das denn heißen? Ich habe eine stramme Woche hinter mir. Euren ganzen Mist wegen dieser unterirdischen Kohlendioxid-Lagerstätte habe ich abgeeselt. Vor so viel Verwaltungskunst müsste eure gesamte Abteilung auf Knien vor mir herumrutschen. Einschließlich eurem Obersack von Abteilungsleiter.«
Brodersen konnte in der Tat manchmal ein wenig querulatorisch sein, dann musste man ihn schnell mit einem harten Spruch zur Räson bringen. Aber ungerade war sein Kollege nicht. Natürlich hatte er den Nagel irgendwie auf den Kopf getroffen, denn den gesamten Wochenanfang war Dreesen von morgens bis abends auf seinem Bürosessel hin- und hergerutscht, um sich zu überlegen, wie er seinen sorgfältig geplanten Sonntagsausflug mit Jeanette Muschelfang sauber unter Dach und Fach bringen konnte. Er wollte ihr endlich das Du anbieten. Jenny. Das klang schon viel vertrauter als Jeanette und Sie.
Brodersen zeigte sich ausgesprochen milde. »Komm ’runter, Dreesen, so war das nicht gemeint. Mein Chef hat mir sogar zwei Gehirnschrauben in die Hand gedrückt. Soll ich als Dank für deine Verwaltungskunst mit dir zischen. Er musste leider schon weg. Wann haust du denn ab?«
»Halbig vier«, antwortete Dreesen unwirsch, denn er wusste genau, wohin Brodersens Abteilungsleiter entschwunden war. Er vergriff sich seit einiger Zeit an Dreesens ureigenstem Fleisch und Blut, an der Kollegin Schlenderhahn. Letzten Herbst hatte Dreesen noch den Finger an ihr gehabt, aber dann hatte Brodersens Abteilungsleiter unerwartet dazwischen gestochen. Jus primae noctis, hatte ihm Brodersen einmal augenzwinkernd beim Vorübergehen zugezischt. Das Recht der ersten Nacht. Sein anderer Spruch schmerzte ihn mehr: Ober sticht Unter. Nicht die Wortwahl tat weh, sondern die Machtlosigkeit gegen Brodersens Abteilungsleiter.
Brodersen weckte ihn aus den Gedanken. »Weißt du was? Ich komme schnell noch einmal in dein Büro zur offiziellen Dankesbekundung.«
Das kam Dreesen durchaus entgegen. Er willigte ein, denn ein neutraler Augenzeuge wie Brodersen wäre genau der Richtige, um seine Gegenantwort zu ›Ober sticht Unter‹ in Form von Jeanette Muschelfang in die Welt zu pusten.
Nur wenig später stand Brodersen mit zwei Piepern vor ihm, wie man im Norden die kleinen Miniatur-Schnapsflaschen nennt. »Küstennebel, Dreesen. Ist gut, den kann man nicht riechen. Mohltied.«
Dreesen konnte sich das Grinsen über den Trinkspruch nicht verkneifen, als wenn Brodersen einen Gruß zur Mahlzeit entbieten würde. Dreesen entgegnete mit seinem Klassiker: »Prostata.« Dann kippte er den Schnaps herunter. »Keine Angst, Brodersen, aus dir mache ich noch einen richtigen Verwaltungsbeamten.«
Sein Kollege aus dem Wirtschaftsministerium freute sich. »Eigentlich bin ich eher friedlich gesinnt, das sind ja nun wahrlich nicht alle bei uns in der Landesverwaltung. Aber ich bin von Geburt Kriegsjahrgang. Da hat man gelernt zu überleben.«
Auf den skeptischen Blick von Dreesen hin beeilte sich Brodersen, eine Ergänzung hinzuzufügen. »Baujahr 1953, Endzüge Koreakrieg.«
Dreesen musste lächeln. Brodersen war ein feiner Kollege, mit dem man viele Attacken gegen die Landesverwaltung ins Leere laufen lassen konnte. »Schon gut. Am Mittwoch habt ihr aber mit diesem Antrag zur Kohlendioxidlagerung im Meeresgrund der Nordsee einen Haufen stinkenden Unrat auf meinem Schreibtisch platziert. Wie kamt ihr auf die Idee, dass ausgerechnet ich diese hochkomplexe Antragsmaschinerie der Energiewirtschaft verwaltungstechnisch zum Stillstand bekommen würde?«
Brodersen zeigte sich ungeniert. »Wenn nicht du, Dreesen, wer denn sonst?«
Das Lob gab Dreesen umgehend zurück. »Das hättest du auch gekonnt. Da bin ich mir sicher.«
Brodersen wiegelte ab. »Früher musste ich immer die Schuhe von meinem großen Bruder tragen. Seitdem hatte ich nie mehr Lust, in den Schuhen eines anderen Mannes zu laufen. Ich bin meinen eigenen Weg gegangen und als Amtsrat bin ich nicht unzufrieden. Aber ich weiß, wie es ist, wenn einem Schuhe zu groß sind. Nein, das war schon Spitzenklasse, wie du diesen Vorgang abgewürgt hast.«
Zufrieden leerte Dreesen den Pieper.
Brodersen hakte nach. »Sag mal, warum hast du uns eigentlich geholfen? Du warst doch die ganze Zeit für eine Beteiligung am Projekt, und für meinen Chef wirst du aus bekannten Gründen wenig übrig haben.«
»Wegen Hesselbein«, zischte Dreesen voller Verachtung. »Der Karrieretyp, den sie mir nach dem Regierungswechsel vor die Nase gesetzt haben.«
»Hesselbein? Was hat der dir denn getan?« Brodersen wurde neugierig.
»Nun, ich habe das ganze letzte Jahr hart daran gearbeitet, dass ich an einem Projekt zur Errichtung einer unterirdischen CO2-Lagerstätte unter dem Watt mitarbeiten kann. Ich war deswegen mehrfach zu Vorbereitungstreffen in Berlin. Diese Sitzungen in dieser Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die haben richtig was gebracht. Ganz anders als sonst.«
»Etwas gebracht? Die Mitarbeit in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe? Das kann nicht dein Ernst sein, Dreesen.«
»Doch, doch. Du weißt, wie knapp ich nach der Scheidung von meiner Frau bin. Reisen kann ich mir seitdem ausschließlich dienstlich leisten. Mit den Kollegen in der Arbeitsgruppe habe ich deswegen endlos viele Aktivitäten in ganz Europa geplant. Da kann man mit dem erhöhten Auslandstagegeld richtig gut Urlaub machen.«
Brodersen wiegelte ab. »Und das hätte deine Hausspitze mitgemacht?«
Dreesen war sich sicher. »Klar, für den Ministerpräsidenten wären schließlich ebenfalls schöne Reisen abgefallen, weltweit übrigens. Man muss als Regierungschef gelegentlich dem Mief vor der Haustür entfliehen, um globalere Sichten entwickeln zu können.«
Große Worte von Dreesen, und deswegen setzte Brodersen interessiert nach. »Wo wart ihr denn überall auf dem Globus?«
Die Frage behagte Dreesen nicht, und so antwortete er unwirsch. »Nirgends.«
Auf den erstaunten Blick von Brodersen legte er nach. »Sie haben mir den Hesselbein vor die Nase gesetzt. Einer dieser jungen Überflieger mit dem richtigen Parteibuch. Dabei zeigt der Name doch schon, dass er bei uns nichts zu suchen hat.«
Dreesen war die Verachtung für Hesselbein deutlich anzumerken.
Brodersen konnte nicht folgen. »Was hat der Hesselbein damit zu tun?«
»Hesselbein hat ungetrübt von jeglicher Fachkenntnis angeordnet, dass in allen länderübergreifenden Gremien zukünftig nur noch Vertreter des Höheren Dienstes teilnehmen sollen. Damit das Land angemessen repräsentiert wird, hat er gesagt. Da war ich natürlich außen vor.«
»Und das hast du dir von einem Traubenlutscher aus Hessen gefallen lassen?« Jetzt wollte Brodersen die ganze Geschichte hören.
»Natürlich nicht«, entgegnete Dreesen. »So geht man mit einem norddeutschen Oberamtsrat nicht um. Ich musste notgedrungen Abwehrmaßnahmen ergreifen. So bin ich auf meine Art in den Landtag gezogen.« Dreesen grinste mit einer Selbstzufriedenheit, die nur gestandene Oberamtsräte empfinden können.
Brodersen konnte seine Neugier kaum zügeln. »Du hast mit den Landespolitikern geredet? Das wird dir aber schaden. Nun lass mich nicht so zappeln.«
»Nein. Ich bin zum Essen in die Kantine vom Landtag gegangen und habe mich immer an Tische gesetzt, an denen Abgeordnete in der Nähe saßen. Dann habe ich vor meinen Kollegen mit lauter Stimme beklagt, dass ich in meiner Bund-Länder-Arbeitsgruppe verlässlich erfahren habe, dass der Bund den ganzen Kohlendioxid-Dreck im Meeresgrund der Nordsee in Schleswig-Holstein lagern will. Alles bei uns.«
Brodersen verstand das nicht. »Und?«
Jetzt triumphierte Dreesen. »Da haben alle lange Ohren bekommen. Schließlich haben sich inzwischen überall an der Nordsee Bürgerinitiativen gegen die Kohlendioxid-Verklappung gebildet, und überall im Watt wehen Protestflaggen.«
Brodersen klappte die Kinnlade herunter. Nachdenklich fragte er nach: »Aber wenn der Hesselbein jetzt zur Bund-Länder-Arbeitsgruppe gehört, bekommt der doch mit, was du angezettelt hast.«
Dreesen schüttelte den Kopf. »Nö. Der Bund-Länder-Arbeitsgruppe habe ich einfach ohne Begründung schriftlich abgesagt.«
Brodersen schaute ihn fassungslos an.
Dreesen fuhr ungerührt fort. »Ich habe anschließend meine Kollegen in Berlin angerufen und Ihnen von den vielen Bürgerprotesten an der Westküste berichtet. Und dass unsere Politiker das Ziel haben, alle weiteren Aktivitäten der Arbeitsgruppe zu verhindern. Keine Reisen und so. Das haben die sofort begriffen. Schleswig-Holstein behält sich vor, selbst zu entscheiden, wann sie wieder an der Arbeitsgruppe teilnehmen wollen, haben sie vermerkt. Erstmal keine Einladungen mehr nach Schleswig-Holstein versenden, heißt das in der Verwaltungspraxis.«
Brodersen war die Sorge um Dreesen deutlich anzumerken. »Hesselbein wird vermutlich früher oder später über die Akten stolpern.«
Oberamtsrat Dreesen lächelte überlegen. »Nein, die Akten sind absolut sicher verwahrt. An einem Ort, wo sie niemand suchen oder finden wird. Rate mal.«
Brodersen fiel nichts ein.
Dreesen erlöste ihn. »In der Zentralregistratur, wo sie hingehören. Ein Labyrinth.«
Brodersen konnte seine Bewunderung nicht mehr zurückhalten. »Mensch, Dreesen. Du bist ein Ass. Du gehörst zu denen, die wirklich etwas im Land bewegen.«
»Wenn nicht ich, Brodersen, wer denn sonst?« Dreesen nickte selbstgefällig. Die Beerdigung der Bund-Länder-Arbeitsgruppe war ihm staubfrei gelungen. Es wäre ja auch noch schöner, wenn sich Hesselbein in sein gemachtes Nest gesetzt hätte.
Dreesens Gedanken schweiften wieder zu Jeanette ab. Gut, sie siezten sich noch. Seit fast einem Jahr. Stuhr hatte letzten Sommer einfach im falschen Moment dazwischengefunkt. Aber der war seit einiger Zeit glücklicherweise abgemeldet. Dreesen würde den nächsten Schritt zu einer engen Beziehung mit Jenny jetzt angehen. Ob es auf Dauer gut gehen würde?
Nachdenklich sah er seinen Kollegen an. »Sag mal, Brodersen. Bist du eigentlich glücklich?«
Sein Amtskollege war von dieser unerwarteten Anfrage überrascht, denn er wand sich wie ein Aal. »Mensch, Dreesen. Du kannst aber anspruchsvolle Fragen stellen. Kennst du einen einzigen Mann mit Frau und Kindern, der glücklich ist?«
»Nein, ich meine etwas anderes. Ich bin an einer faszinierenden Frau dran. Hamburger Geldadel, ausgesprochen gut aussehend. Sonntag geht es mit ihr gemeinsam an die Nordsee.«
Brodersen wiegelte ab, bevor er die Frage mit einer wegwerfenden Handbewegung abtat. »Na, erst einmal müsst ihr euch richtig kennen lernen. Nach zehn Jahren ist es dann egal, mit wem man zusammen ist. Das musst du doch noch von der Ehe mit deiner Olsch wissen.«
Dreesen hielt dagegen. »Du kannst Jeanette nicht einfach so mit meiner Alten vergleichen. Das ist eine ganz andere Preisklasse. Zudem verehre ich sie.«
»Deine Exfrau nicht?«
»Bist du verrückt, Brodersen? Meine Olsch hat mir nach der Scheidung finanziell dermaßen die Hosen ausgezogen, dass ich am Stock gehe. Nun kommt endlich wieder ein wenig Licht in mein Leben, und du machst mir das mies. Ein feiner Kumpel bist du. Hast du noch einen Pieper?«
Den hatte Brodersen. »Auf einem Bein kann man bekanntlich schlecht stehen, Dreesen.« Er griff in die Hosentasche, und dann wiederholte sich die Trinkzeremonie. Brodersen war neugierig. »Hast du ein Foto von dieser Jeanette?«
Tänzelnd holte Dreesen beschwingt den Fotoaufsteller von seinem Schreibtisch und übergab ihn seinem Kollegen. Das Foto zeigte Jeanette und ihn. Sie standen zwar noch getrennt auf beiden Seiten eines Dienstfahrzeugs, aber solche Beweise zählten in einer Behörde: Ehepartner, Geliebte, Scheidungen und Kinderglück, all dies ließ sich aus den Fotoaufstellern ablesen.
»Nicht schlecht«, brummelte Brodersen. »Die würde ich auch nicht von der Bettkante stoßen.«
Dreesen lachte laut auf. »Tut mir leid, aber bei Jeanette hättest du keine Chance.«
Brodersen ging darauf nicht ein. »Meine Frau ist schon in Ordnung. Sie kann gut kochen, ist reinlich. Als Beamter kann man sich eine Scheidung nicht leisten.«
Das Glucksen konnte sich Dreesen nicht verkneifen. »Ja, das weiß ich doch am besten. Aber ein wenig Abwechselung kann nicht schaden. Vielleicht habe ich auch etwas für dich. 30, 50, 80. Ist das nichts?«
Ungläubig musterte ihn Brodersen. »Ein Model für mich, oder wie meinst du das?«
Dreesen grinste. »Nein, kein Model, sondern eine gute Gelegenheit für dich. Ich meine das neue Teilzeitangebot, was die Landesregierung gerade ausheckt. Du musst 30 Dienstjahre auf dem Buckel haben und mindestens 50 Jahre alt sein. Dann bekommst du 80 Prozent der letzten Bezüge als Ruhegehalt.«
Dieser Lichtstreifen am Horizont ließ Brodersen aufleben. »80 Prozent Pension mit 50 Jahren? Ist das dein Ernst?«
Dreesen lachte sich schimmelig. »Nein, natürlich nicht. Ich wollte dir zum Wochenende nur eine kleine Freude bereiten.«
Brodersen lachte kurz schallend, bevor er mit neidvollem Blick das Foto von Jeanette kommentierte. »Es hat nicht jeder so viel Glück wie du.«
Dreesen schlug Brodersen freundschaftlich auf die Schulter. »Ach, was. Das mit dem Glück geht auf und ab. Du wirst sehen.«
Brodersen reichte ihm die Hand zum Abschied: »Dann Waidmannsheil.«
»Waidmannsdank.« Dreesen schnappte sich fröhlich seine Aktentasche und folgte Brodersen aus dem Büro. Ein aufregendes Wochenende lag vor ihm, welches sein Leben von Grund auf verändern könnte.
Wenn ihm Stuhr nur nicht wieder in die Quere kommen würde.