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Strandleben

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Besser konnte das Wetter nicht sein. Es zeigte sich von seiner freundlichen Seite, und eine kleine Brise kühlte die Haut. Stuhr hatte deswegen den Strandkorb in den Wind gestellt, damit ihm nicht zu heiß wurde.

Dann hatte er sich wieder dem hellblauen Büchlein gewidmet. Eine schöne Frau in der Midlife-Crisis, Vivi Weiß, hatte einen Holzklotz als Ehemann an den Hacken, der nach Ansicht der Autorin ständig vor ihr und den Kindern auf der Flucht zur Arbeit und zum Sport war. Sein Aufstieg verlief trotz aller Fluchtversuche nur schleppend, Vivis sozialer Abstieg dagegen rasant. Degradiert zur Hausfrau und Mutter begann sie zielstrebig, trotz aller Zwänge, ihr Leben neu anzupacken und sich mit einer cleveren Geschäftsidee langsam aus diesem Strudel herauszuziehen.

Na, ja. Der Wunsch wird bei der Autorin Mutter des Gedankens gewesen sein, vermutete Stuhr. Sein Handy lenkte ihn von seiner selbst auferlegten Pflichtlektüre ab.

Kommissar Hansen meldete sich. »Moin. Schon die Kieler Rundschau gelesen? So eine Ferkelei.«

Nein, das hatte Stuhr noch nicht. Aber dass er gerade einen Frauenroman las, musste er Hansen auch nicht auf die Nase binden. »Die üblichen Schmierereien, Hansen. Seid ihr weitergekommen?«

»Nein, wir können die Rumänin nicht auftreiben. Wann bist du wieder in Kiel? Du könntest mir helfen.«

Helfen? Das fehlte Stuhr gerade noch. Schließlich hatte er noch bis Freitag Urlaub, und am Samstag stand sein Umzug bevor. Weg vom alten Kieler Wasserturm in eine Wohnung, in der er wieder wie früher in der Staatskanzlei auf den Kieler Hafen sehen konnte. Allerdings hatte er noch keine großen Vorbereitungen getroffen. Er lenkte Hansen ab. »Ich weiß noch nicht. Ansonsten Neuigkeiten bei euch in Kiel?«

»Nö. Bis auf das Geblöke von Magnussen im Direktionszimmer ist es entspannt.« Hansen verabschiedete sich.

Unwillig legte Stuhr den Frauenroman beiseite und griff zum Käseblatt, wie sie früher im Dienst die Kieler Rundschau genannt hatten. Nach dem, was ihm Kommissar Hansen von der Pressekonferenz berichtet hatte, wunderte ihn die Titelzeile nicht: ›Todesfalle Neumünster?‹

Im nachfolgenden, mäßig recherchierten Artikel wurde das Bild eines psychopathischen Serienmörders entworfen, der offensichtlich nach einem festen Plan systematisch Mitarbeiter von schleswig-holsteinischen Energiebetrieben umbrachte. Jack the Ripper ließ grüßen. Die Wut des Schreiberlings richtete sich gegen die großen Energieversorger, denn er zog einen großen Bogen von dem Betrieb der restlichen Atomkraftwerke in Deutschland bis zum rücksichtslosen Kohlendioxidausstoß der veralteten Kohlekraftwerke, die geradezu nach einem Endlager unter der Nordsee schrien.

Stuhr seufzte. Wenn die Welt so einfach zu erklären wäre. Er blätterte gelangweilt weiter, denn die noch fieseren Schurken findet man meistens im Wirtschaftsteil der Zeitung. So auch heute, selbst in der Kieler Rundschau. Ein längerer, gut aufgemachter Hintergrundbericht über den russischen Gas-Oligarchen Alexander Ostrowski fesselte ihn.

In der Zeit der großen Wirtschaftskrise konnten in Russland keine Löhne mehr gezahlt werden. Die Mitarbeiter in den Firmen bekamen stattdessen für sie zu damaliger Zeit wertlose Unternehmens­anteile. Jeden Morgen wachten Menschen in Russland auf und waren unsicher, welchen Wert die Anteile ihrer Firma noch haben könnten.

So begann die Privatisierung einer der größten Volkswirtschaften der Welt. Aufkäufer kamen mit großen gepanzerten Limousinen und Kofferräumen voll Geld. Ganze Familien zerbrachen an der Frage, für welchen Preis man verkaufen sollte. So kaufte auch die RusskiGaz, die Firma Ostrowskis, nach und nach ein ganzes Konglomerat von Unternehmen zusammen. Als Erstes wurden die roten Direktoren mit mehr oder weniger Gewalt abgesetzt. Dann ließ der Oligarch die Betriebe nach marktwirtschaftlichen Prinzipien führen. Ein absolut schillernder Typ. Bestimmt hatte der eine von diesen Mega-Yachten, die manchmal in Kiel gebaut wurden.

Stuhr blätterte weiter, aber die Wettervorhersage sah sich Stuhr schon lange nicht mehr an, die stimmte selten. Er legte die Rundschau neben sich und sah versonnen auf das Titelblatt. Mist, es war schon Dienstag. Die Zeit verging auf dem Sand vor Sankt Peter wie im Fluge, auch wenn es von Jenny keinerlei Lebenszeichen mehr gab.

Seinen Freund Olli aus Hamburg würde er gleich morgen früh anrufen und fragen, ob er beim Umzug am Samstag helfen könnte. Er würde ihm ganz beiläufig von dem neuen Fall berichten. Der würde schon Blut lecken, da war er sich sicher. Zusammen bildeten sie ein gutes Team, nicht nur für den Umzug.

Aber zumindest heute noch würde er sich anderen Dingen widmen, schließlich war Urlaub angesagt. Seine Hand glitt wieder zum hellblauen Frauenroman. Die Powerfrau lernte trotz ihrer familiären Hemmnisse zunächst einen 15 Jahre jüngeren Werbetexter kennen, der nicht nur ihr Talent erkannte, sondern ihr auch den Hof machte.

So ein Quatsch. Stuhr legte das Buch beiseite. Welche erfahrene Frau würde sich schon für einen großen Jungen entscheiden und den treuen Versorger in die Wüste schicken?

Stuhr wurde nachdenklich, denn schließlich hatte ihn Jenny auch verlassen. Ach, Jenny. Nach der Trennung von ihr hatte er die Nase voll gehabt von jeglicher fester Beziehung. Jetzt ging es ihm zum ersten Mal nach langer Zeit wieder gut. Warum sollte er gleich wieder am nächsten Haken zappeln oder sich wegen Jenny verrückt machen?

Sollte er das Buch überhaupt noch weiterlesen? Vermutlich hatte die Autorin während des Schreibens beim Gläschen Wein weinend einen Liebesfilm gesehen. Völlig weltfremd, befand Stuhr, aber seine Hand glitt wieder zum Roman. Neugierig las er weiter. Jetzt lernte die Powerfrau auch noch einen PR-Berater kennen, der sie ebenfalls umgarnte. Stuhr wünschte sich, dass sie beide Kerle abschmetterte. Aber Vivi schien bei dem PR-Menschen schwach zu werden. ›Wenn der Schmerz am größten ist, dann weißt du, was du am meisten vermisst.‹

Verwundert blickte Stuhr auf. Wie konnte die Autorin seine Seelenlage erfühlen? Vielleicht lohnte es doch noch, das Buch zu Ende zu lesen.

Sein Handy klingelte. Er fluchte über die Störung, denn ihn interessierte mehr, ob die Powerfrau sich an ihren Galan schmiss oder an den heimischen Herd zurückkehrte, obwohl die Lösung noch etliche Seiten auf sich warten ließ.

Erneut nervte ihn ein diesmal lang anhaltendes Klingeln. Verärgert entschied sich Stuhr, ein Päuschen einzulegen. Er griff zum Handy und nahm mürrisch das Gespräch an. Die Stimme kannte er.

»Ich bin’s, Jenny.«

Stuhr stieg ein Kloß im Hals hoch. Nur knapp grüßte er zurück. »Moin.«

»Das mit Sonntag war anders, als du vielleicht denkst. Tut mir leid, aber ich war mächtig in Brass. Ich habe mich so wegen diesem Schneider geärgert.«

Eine Entschuldigung für die Watschen war das zwar nicht, aber immerhin lenkte sie ein.

»Ist schon in Ordnung, Jenny. Ich lebe ja noch.«

Jennys Stimme klang gleichgültig. »Dein Sankt Peter ist eben nicht mein Sankt Peter, Helge.«

Hallo, klang da nicht schon wieder die beleidigte Leberwurst durch? Stuhr zwang sich, nicht wieder in Streit mit ihr zu geraten. Das hatte er aus dem hellblauen Büchlein mitgenommen. Aber was sollte er antworten?

So fuhr Jenny ungehindert fort. »Ich hatte gedacht, dass du ein wenig gereift wärst nach deiner Affäre im letzten Sommer mit deiner Verflossenen. Deine ›geliebte‹ Angelika Rieder hat mich neulich am Telefon über so einiges aufgeklärt. Das war kein Spaß für mich. Dich will sie nie wieder sehen. Sag was.«

Eine gute Nachricht, denn für Stuhr war es auch kein Spaß. Schließlich hatte Angelika versucht, ihm ihre Tochter als Vater unterzujubeln. Dem hatte sich Stuhr natürlich entzogen. Angriff ist die beste Verteidigung, sagte er sich.

»Meinst du eigentlich, es macht mir Spaß, dich mit meinem ehemaligen Untergebenen am Strand herumstolzieren zu sehen?«

Jenny prustete los. »Mit Dreesen? Sag mal, Stuhr, seit wann bist du denn eifersüchtig?«

Stuhr ärgerte sich. Eifersucht kannte er erst, seitdem er mit Jenny zusammen war. Das musste sie aber nicht wissen. »Bin ich ja gar nicht.«

»Und?« Jennys Stimme klang seltsam.

»Was und?«, fragte Stuhr nach.

»Na, das Mädchen. Die Sophie. Ist sie dein Kind?«

Das hätte Stuhr auch gern gewusst, aber er konnte sich nicht durchringen. Vielleicht war es besser so, dass man es nicht wusste. Jenny wollte jedoch mit Sicherheit etwas anderes hören.

»Das wird zu untersuchen sein. Wenn es meine Tochter ist, dann werde ich mich um sie kümmern.«

Jennys Reaktion war erstaunlich. »Mensch, Helge. Das hätte ich von dir nicht erwartet. Du scheinst ja Verantwortung zu übernehmen. Hut ab.«

Er hatte natürlich gelogen, aber zum Glück konnte Jenny seinen roten Kopf nicht sehen. »Wenn du mehr weißt, dann kannst du dich ja einfach mal melden.«

»Egal, wie die Sache mit der Vaterschaft ausgeht?«

Jennys Antwort war eindeutig. »Ja, sicher. Helge, du musst zu deiner Verantwortung stehen. Ein Kind braucht seinen Vater. Tschüß.«

Stuhr verabschiedete sich ebenfalls. Er griff zum hellblauen Büchlein, aber seine Gedanken hingen weiter an Jennys Lippen. Wieso interessierte sie sich so für Sophie? Eine Vaterschaft als Mittfünfziger, dass konnte kein Vergnügen sein. Sollte er sich nicht doch einem Vaterschaftstest unterziehen? Er malte sich aus, wie es wäre, wenn Angelikas Tochter bei Jenny und ihm am Wochenende zu Besuch wäre. Familienleben, so nannte man das wohl.

Ach was. Morgen war schließlich auch noch ein Tag. Er entschied sich für das Strandleben.

Küstengold

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