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Im Kriegsministerium

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Erst nach 1900 als Kriegsministerium für die Doppelmonarchie errichtet, füllte das Gebäude einen ganzen Häuserblock. Die Räume dort sind fünfeinhalb Meter hoch. Vor unserer Wohnung war einer jener Marmorgänge, die das riesige Haus durchschnitten, breit genug, um Fahrrad- oder Rollschuhfahren zu können, ohne an Vaters Ordonnanzen auch nur anzustreifen, dem stämmigen Defregger und dem ebenso ansehnlichen Gsaller. Sogar für meinen aufgeweckten neuen vierbeinigen Freund Purzel blieb Platz. Die Eltern hatten endlich dieser von mir lang ersehnten Erweiterung unserer Familie zugestimmt. Nichts hätte mich glücklicher machen können. Purzel war sogar noch besser als eine kleine Schwester oder ein kleiner Bruder, denn da hätte ich doch ziemlich lange warten müssen, bis die zu einer »Gesellschaft« für mich geworden wären. Von Anfang an war klar, daß diesem schwarzen Pudel nicht bewußt war, ein Hund zu sein. Er hielt sich für einen von uns, als Hund verkleidet. Obwohl noch als Welpe ins Haus gekommen, war er schon stubenrein, vermutlich Mutters Bedingung. Ich war ein sehr glücklicher kleiner Bub.

Riesige Fenster boten aus unserer Wohnung Ausblick auf den Stubenring. An sonnigen Tagen war das Gebäude von Licht durchflutet und lud zu Erkundungen ein. Hatte ich die Wiesen und Gärten des Augartens mit dem innerstädtischen Kriegsministerium, wie es immer noch genannt wurde, getauscht, so gab es doch einen Ausgleich: Das Gebäude und seine Höfe galten als »sicher« für mich, ich durfte dort nach Belieben tun und lassen. So durchstreifte ich ständig das höhlenartige Gebilde, mit Purzel als einzigem Begleiter. An dunklen Wintertagen, wenn die enormen Räume voll einsamer, bedrohlicher Schatten schienen, wandte ich mich meinen Legionen von Spielzeugsoldaten zu – Infanterie und Kavallerie aus allen Teilen Europas, Dragonern in ihren roten Uniformen mit gelben Epauletten, weißen Hosen und hessischen Stiefeln, blau gewandeten kaiserlichen Offizieren mit purpurroter Schärpe, säbeltragenden Unteroffizieren und auch britischen Grenadieren und Füsilieren mit ihren Bärenfellmützen. Sie alle hatten würdige Gegner aus allen Waffengattungen der napoleonischen Armeen. Sogar die gußeisernen Russen fanden ihre Verwendung.

Wurde ich ihrer überdrüssig, beschäftigte ich mich mit meinen Briefmarken, die ich aus aller Herren Länder sammelte. Das größte Juwel, ein für mich völlig unerwarteter Zugewinn, war ein kompletter Satz italienischer Erstausgaben, ein Geschenk Benito Mussolinis. Bevor ich das Paket aufmachen durfte, wurde mir feierlich die Einzigartigkeit des Anlasses nähergebracht. Einmal mußte Vater über seinen Schatten springen, denn ein Geschenk des Duce für ein Kind abzulehnen, wäre einer Beleidigung gleichkommen.

Manchmal fragte ich mich, ob meine Eltern je realisierten, daß »geh in dein Zimmer« für mich gar keine Strafe bedeutete, denn dort hatte ich meinen Hund, meine Zinnsoldaten und die Briefmarkensammlung. An einem sonnigen Tag – Purzel war zum Tierarzt gebracht worden – durchstreifte ich allein das riesige Gebäude. Am Anfang eines Korridors beginnend, öffnete ich Tür um Tür, sah große und kleine Salons, Besprechungsräume, verschiedene Büros, Kammern, Kästen und einen schönen Ballsaal in Neo-Rokoko. Hinter der nächsten Tür, ob des unerwarteten Besuchers überrascht und nicht wirklich erfreut, hob Handelsminister Fritz Stockinger den Blick zu mir. Er war wohl etwas erschrocken, und seine Reaktion hatte bedauerliche Folgen. Seine abrupte Bewegung schreckte ein Perserkätzchen auf, das ruhig auf einem Tisch gelegen hatte, mit einem Satz sprang es auf den mit Unterlagen und Dokumenten bedeckten Ministerschreibtisch und warf ein großes Tintenfaß um. Minister Stockinger saß wie gelähmt und blickte auf den blauen Tintenstrom, der sich immer mehr ausbreitete. Einen Fluch unterdrückend, zog er sein Taschentuch heraus, um die Flut einzudämmen, griff mit der anderen Hand nach dem Papierkorb und hielt ihn unter die Tischkante, von der jetzt die Tinte herunterrann. Ich erstarrte und sah schweigend zu. Mit nicht ganz unerwarteter Geistesgegenwart – einer Gabe, die ihm schon nützlich gewesen war, als er das erste Attentat auf Dollfuß im Oktober 1933 verhindert und den Attentäter überwältigt hatte – hob er mit hochrotem Kopf das Kätzchen auf und bewegte sich auf das halboffene Fenster zu. Sein Gesicht sah jetzt aus wie das eines Mannes mit einem viel zu engen Kragen.

»Bitte, tun Sie ihm nichts!«, schrie ich auf.

Er drehte sich zu mir. »Willst du das Vieh? Da hast du’s. Und raus hier, sofort!«

Ich dankte hastig, flüchtete mit dem Kätzchen in unsere Wohnung, und nachdem ich das Tier beruhigt hatte, überlegte ich, wie meine Eltern diesen Zwischenfall aufnehmen würden.

»Denk an Purzel, Kurti. Hunde und Katzen sind keine natürlichen Freunde«, erklärte mir Mutter beim Mittagessen, »so wurden sie einfach geschaffen. Den Frieden zwischen ihnen zu erhalten, grenzt ans Unmögliche.«

»Bitte laß es mich versuchen, Mutter. Minister Stockinger ist so blau angelaufen wie diese Zwetschken, so böse war er. Er hat Pinpin fast aus dem Fenster geworfen.«

»Schatz, Minister Stockinger hätte das bestimmt nicht getan. Wenn man ihn nicht ärgert, ist er sehr nett«, seufzte sie. »Na gut, aber es ist deine Sache, wie Purzel und Pinpin getrennt werden, ganz egal, wie du das machst. Klar?«

Nach einer Umarmung, die so stürmisch war, daß sie fast vom Sessel gefallen wäre, lief ich weg, um alles zu arrangieren. Zuerst die Wohnräume. Purzel war der Ranghöhere, ich konnte ihn nicht einfach aus meinem Zimmer verbannen, um für den Emporkömmling Platz zu machen. Pinpin mußte in die Küche und Liesl Gesellschaft leisten. Die mochte Tiere.

»Was? Eine Katze in meiner Küche? Auf keinen Fall! Ich mag Hunde. Wenn man einem Hund sagt, er soll sich in die Ecke setzen, dann gehorcht er. Eine Katze tut, was sie gerade mag. Nein!«

Aber auf mein inständiges Flehen und Betteln gab sie schließlich nach. Pinpin bekam, wenn auch widerwillig, Asyl in der Küche. Leider war das Arrangement aber nicht der erwartete Erfolg, denn jedesmal, wenn Liesl die Tür öffnete, rannte das Kätzchen hinaus. Waren wir in Hörweite, dann hatten einer von Papas Ordonnanzen und ich Einfangdienst. Außerdem hatte Pinpin eine Leidenschaft für Mutters blaßgelbe Seidenvorhänge, an denen sich in Höchstgeschwindigkeit hinaufklettern ließ. Mein Glück war, daß die ganz neuen Muster, die Pinpins Krallen in dem weichen Stoff hinterließen, meiner Mutter nicht gleich auffielen.

Nachdem Gsaller und Defregger mein Kätzchen eher tolerierten als Liesl, wurde Pinpin in ihr »stofffreies« Dienstzimmer übersiedelt. Aber auch das hielt nicht lang. Am nächsten Tag, als ich gerade mit Pinpins Milch hereinkam, ließ Defregger unabsichtlich das Dienstbuch auf den Boden fallen. Der laute Knall erschreckte das Kätzchen, das durch die angelehnte Tür entwich. »Pfui! Komm zurück!«, schrie ich, bei einer Katze ein denkbar nutzloser Befehl. Schnell stellte ich die Milch ab, die dabei überschwappte und über meine Kleidung und den Schreibtisch zu Boden rann. Dann hörte ich: »Fangt diese Katze ein!« Es war Mutter. Ihren Tonfall mit »ungehalten« zu beschreiben, wäre eine Untertreibung gewesen. Wäre sie dafür schnell genug gewesen, sie hätte wohl selbst das Kätzchen aus dem Fenster geworfen. Zurück im Salon, hörte ich das bekannte Geräusch: sis-sis-sis. Über die Vorhänge hinauf, hatte sich Pinpin auf der gelbseidenen Karniese in Sicherheit gebracht. Jetzt sah auch Mama die Bescherung. Ich erhielt eine förmliche Verwarnung. Also mußte doch der Hund delogiert werden. Etwas entmutigt und mit nur wenig Vertrauen in diese Lösung nahm ich das Kätzchen in mein Zimmer. Aber Küche hin oder her, Purzel hielt weiter vor meiner Tür Wache, was mich diese immer nur einen Spaltbreit zu öffnen und mich seitlich hindurchzuquetschen zwang. Von meinem Zimmer der Fassade entlang über das Fenstersims in den angrenzenden Salon zu gelangen, auch das überlegte ich, wäre mit Sicherheit der sprichwörtliche Tropfen gewesen, der das Faß zum Überlaufen bringt. Im übrigen war Purzels Verhalten komisch, fast schon bizarr: Er bellte nicht und kratzte nicht an der Tür. Er lag nur davor.

Zwei Tage später war die Hölle los. Mutter war auf dem Weg in ein Altersheim, und ich sollte sie begleiten. Als sie »Kurti, wir gehen in fünf Minuten« rief, lag mein Anzug, von Fräulein Alice vorbereitet, auf meinem Bett, und ich spielte gerade die Schlacht von Aspern und Eßling auf dem Boden meines Zimmers nach. Ich sprang auf und griff nach meinen Sachen, hüpfte herum und war in kürzester Zeit angezogen. Mutter würde mich im Auto kämmen müssen. Im vagen Bewußtsein, etwas vergessen zu haben, riß ich die Tür auf. Davor lag Purzel, der geduldig auf diese Gelegenheit gewartet hatte. Bevor ich »raus« schreien konnte, war er schon auf halbem Weg zu seinem Ziel, der dösenden Pinpin. Unmittelbare Gefahr spürend, sprang diese vom Bett zur Kommode, zielte auf die Tür und schoß kometenhaft hinaus, Purzel hinterher. Die wilde Jagd ging durch das Vorzimmer, vorbei an beiden Salons und durch die offenstehende Eingangstür hinaus auf den Gang, wo dann der stämmige Gsaller dem lauten und bald um eine Ecke verschwindenden Duo nachrannte. Im Geiste sah ich schon einen triumphierenden Purzel mit der kleinen, leblosen Pinpin im Maul.

In einer Ecke des Ganges fand ich die Tiere wieder. Pinpin setzte gerade zum Sprung ihres Lebens an. Von dem wild knurrenden Purzel bedroht, der zwanzigmal so groß war, mag sie gefürchtet haben, gleich zu einer Hundevorspeise zu werden. Ein offenes Fenster schien die Rettung. Im Bruchteil einer Sekunde sprang sie hinaus und landete auf dem Glasdach der darunterliegenden Einfahrt. Gsaller, inzwischen nachgekommen, kam zu einem schnellen, aber verhängnisvollen Entschluß. »Sie sitzt nur so da«, rief er mir über die Schulter zu und sprang der Katze auf das Glasdach nach. Dieses hatte zwar Pinpin getragen, unter dem Gewicht des schweren Mannes brach es natürlich durch und beide, Gsaller und die Katze, landeten im Splitterregen auf dem Asphalt. Zum Glück im Unglück standen dort weder Autos noch Fahrer noch irgend jemand sonst herum. Das vollkommen unverletzte Kätzchen schoß in Panik auf die Straße hinaus und sprang an einer Dame hinauf, deren Seidenkleid dabei nicht ganz heil blieb, während die Trägerin einen Schock erlitt. Ein Wachebeamter, der zu Hilfe geeilt war, übernahm Pinpin, ein anderer machte sich auf die Suche nach Riechsalz für die Passantin und nach einem Rettungswagen für Gsaller, der in ein Krankenhaus gebracht werden mußte. Viel später als geplant und sehr kleinlaut begleitete ich Mutter in ihr Altersheim.

Mama hatte die bemerkenswerte Eigenschaft, in schwierigsten Situationen Ruhe zu bewahren. Wie eben jetzt. Sehr wohl beschäftigte mich für den Rest des Tages der Gedanke an Vaters Reaktion. Seine Lippen schienen geradezu zu verschwinden, erzählte mir Liesl beim Frühstück am nächsten Morgen, als er die Zeitungsüberschrift las: »Schuschnigg-Wildkatze greift Dame vor dem Kriegsministerium an.« Was konnte das Schlimmste sein, das mir jetzt bevorstand? Oder was das Beste? Es kam ziemlich auf dasselbe heraus. Mein Taschengeld war wohl dahin, bis folgendes bezahlt war: das Kleid der Dame, Gsallers Krankenhauskosten und das Glasdach über der Einfahrt. Dafür würde ich den Rest meines Lebens brauchen. Ein düsterer Gedanke folgte dem anderen. Schließlich kam die Vorladung, kurz vor meiner Schlafenszeit. Ich ging in den Salon. Papa saß. Ich stand, auf wackeligen Beinen.

»Kurti, ist dir klar, daß du deine Pflichten vernachlässigt hast?«

»Jawohl, Papa.«

»Ist dir klar, welche ernsten Konsequenzen das gehabt hat?«

»Ja, Papa. Es tut mir sehr leid. Es tut mir so leid, daß sich Gsaller weh getan hat, und es tut mir so leid, daß das Kleid der Dame beschädigt ist, und es tut mir leid, daß das Glasdach kaputt ist. Es tut mir sehr, sehr leid, daß das in die Zeitung gekommen ist.«

Papa runzelte die Stirn, als ich die Zeitung erwähnte. Er schien weich zu werden.

»Komm her, mein Sohn.«

Er streckte die Arme aus und hob mich auf den Schoß. Eine willkommene Wendung. Er erklärte mir, daß es nicht fair gewesen sei, Pinpin im selben Haushalt mit einem Hund zu halten, besonders mit einem so großen und starken wie Purzel einer geworden sei, und daß Klettern für ein Kätzchen ganz natürlich sei. Wir müßten nun das tun, was für Pinpin das Beste sei. Sie komme in den Zoo, um mit all den anderen wilden Katzen zu leben, und dort könne ich sie, sooft ich wolle, besuchen. Meine Erleichterung war groß. Pinpin würde also glücklich und in Sicherheit sein. Ganz egal, was Mutter dachte, Minister Stockinger hätte Pinpin ja doch aus dem Fenster geworfen.

Purzel war wieder in meinem Zimmer. Gsaller hatte sich nichts gebrochen, nur das Handgelenk verstaucht, und er mußte ein bißchen genäht werden. Alles in allem hätte es viel schlimmer ausgehen können.

Einer der spektakuläreren Räume des Kriegsministeriums war der große Neo-Rokoko-Ballsaal. Marmorwände, ein schöner, hoher Plafond mit schweren Lustern, vergoldete, mit rotem Samt tapezierte Möbel, dazwischen dekorative Spiegel. In der Mitte stand ein immer perfekt gestimmter Konzertflügel. Mutter sorgte dafür, daß dieser Saal nicht ungenützt blieb. Jeder Maestro und jede Diva der Zeit wurde eingeladen, dort aufzutreten. Es waren die schönsten Abende für meine Eltern. Meine Erfahrungen mit dem Ballsaal waren vergleichsweise banal. Die Kinderfeste, die für mich und meine Freunde ausgerichtet wurden, fanden ebendort statt. Wenn Mutter ihre nie nachlassende Energie und ihren Erfindungsreichtum für diese Arrangements verwendete, blieben die Ergebnisse immer im Gedächtnis haften. Die Feste zu Nikolo, im Fasching oder zu Geburtstagen waren voll klug ausgedachter und phantasievoller Spiele. Es gab so viel »Kracherl«, Zitronen- oder Orangenlimonade, und Torten, daß uns manchmal davon übel wurde.

Am liebsten aber waren meinen Freunden und mir die Nachmittage mit den Märchentanten. Das waren Schauspielerinnen, die ihre beste Zeit bereits hinter sich hatten. Stundenlang hingen wir an ihren Lippen. Ihre Stoffe schienen unerschöpflich zu sein: Die Schandtaten von Max und Moritz mit der Witwe Bolte von Wilhelm Busch, die phantastischen Märchen der Gebrüder Grimm und vieles mehr. Diese Darbietungen waren so lebendig und fesselnd, daß wir den vergifteten Apfel förmlich zu riechen meinten, in den Schneewittchen biß, und vor Kälte zitterten, wenn Hänsel und Gretel durch den Wald schlichen. Wir lebten jede Minute bei jedem Abenteuer mit.

Die unangenehme Erinnerung an die eine Nikolofeier – die Episode mit der blauen Bank – trat endlich in den Hintergrund. Mutter durchkämmte das Reservoir an Soldaten außer Dienst mit schauspielerischem Talent, um den perfekten Nikolo und Krampus zu finden. Wurden die beiden angekündigt, trat Stille im Ballsaal ein und Dutzende Augenpaare richteten sich, manche fiebernd, auf die Tür. Herein kam der heilige Nikolaus, prächtig unter seiner Mitra, im goldenen Ornat, mit langem, rauschendem Bart. Im Rhythmus seines würdigen Ganges klopfte er mit seinem schweren, juwelenbesetzten Stab auf den Boden. In der Mitte des Raumes hielt die majestätische Erscheinung an und schaute jedem von uns nachdenklich ins Gesicht, wie um zu entscheiden, welche der zuckenden, aufgeregten kleinen Seelen aus den Fängen des Teufels gerissen werden könne. Dann drehte er sich wortlos zum Eingang um und hob, ähnlich Moses in der Wüste, beide Arme, senkte sie plötzlich wieder und warf seinen Stab auf den Boden des Saales. Es folgte ein markerschütternder Schrei vom Gang her und Krampus, der Teufel, sprang herein. Jeder im Zimmer zuckte unwillkürlich zusammen. Ein feuerspeiender, kinderfressender Drache hätte uns nicht mehr erschrecken können. In einer Hand hielt der Bösewicht eine Handvoll Ruten, in der anderen die »Ketten der Hölle«. Er drehte sich um sich selbst und sprang herum, seine dunklen Hörner glänzten im Licht des Lusters, sein langer Schweif peitschte den Boden. Von Kopf bis Fuß war er schwarz gekleidet, in einem halblangen Umhang mit hohem, steifem Kragen. Aus dem leichenblassen Antlitz blitzten uns kohlebemalte Augen entgegen. Die einzige Farbe in seinem Gesicht war der breite, rote Mund, aus dem ein fürchterliches Lachen nach dem anderen gellte. Die grauenvolle Erscheinung ließ uns in unseren Sitzen erstarren. Das Gerassel der Ketten begleitete jede seiner Bewegungen. Nur ab und zu hörte er auf, um einem von uns aufs Kinn zu klopfen. Natürlich wußten wir, daß er nicht echt war. Das wußten wir schon, bevor er hereinkam. Doch wenn das Böse ein Gesicht hatte, dann sahen wir es jetzt. Mit verächtlichen und drohenden Bemerkungen stieg er im Saal herum. »Ich hab gehört, daß du in der Schule kein braver Bub warst? – Du gehorchst also deiner Mutter nicht immer, kleines Mädchen?«

Endlich verbannte ihn der heilige Nikolaus in die Ecke, wo er hockend knurrte und uns anblitzte. Der Nikolo verteilte Obst, Geschenke und Nüsse. Es folgten noch die Torten, das Eis und was immer sonst Liesl zwei Tage lang für uns hergerichtet hatte. Schließlich gab es noch jede Menge Spiele.

Doch zuerst kam der Abgang des Star-Duos. Der heilige Nikolaus schritt den ganzen Ballsaal majestätisch ab und hielt vor der Tür. Mit würdigen Worten kamen die üblichen Ermahnungen: »Bleibt immer brav und denkt daran, daß ich alles erfahre, was ihr macht.« Währenddessen stampfte der Krampus in seiner Ecke herum. Als er an die Reihe kam, stieß er einen schrillen Schrei aus, sprang in die Luft und ließ noch einmal seine Ketten rasseln. Dann rutschte er hinüber zum Nikolo und zischte mit seinen blutroten Lippen: »Ich weiß auch, was ihr macht, und ich werde euch genau beobachten.« Woraufhin beide unter begeistertem Applaus den Saal verließen.

In der Hoffnung, sie in die Wolken oder in einem Feuerball verschwinden zu sehen, rannten wir zum Fenster. Nur daß ihr Verkehrsmittel ein Polizeitransporter war, hat unsere Phantasie ein wenig gestört. Trotzdem reckten wir die Hälse, um sie wegfahren zu sehen. Wir schrien: »Nikolo! Krampus! Hier oben sind wir!« Sie schauten herauf. Der heilige Nikolaus hob beide Arme und verschwand im Wagen, der Krampus schüttelte die Fäuste voller Ketten und folgte ihm mit einem letzten Lacher. Sein Schweif war verschwunden und wir hatten uns langsam wieder dem Saal zugewendet, als ein ungewöhnlich bestialisches Geräusch uns an die Fenster zurücktrieb. Unten tauchten zwar weder Nikolo noch Krampus noch einmal auf, dafür aber drehte der Polizeitransporter viel schneller als üblich um und fuhr mit heulender Sirene in rasender Fahrt davon. Es war für uns fast eine Zugabe. Tags darauf, wir fuhren wieder in ein Altersheim, begrüßte uns unser Fahrer Tichy mit der Nachricht, daß es Feldwebel Schmidt viel besser gehe und er Mutter für ihre Anteilnahme danken lasse.

»Wovon redet Tichy, Mutter?« fragte ich, weniger aus Neugier als wegen des Vergnügens, mit meiner Mutter ein Gespräch zu führen.

»Er bedankt sich für meine Sorge. Ich hatte mich nach Feldwebel Schmidts Zustand erkundigt, Kurti.«

»Wieso, gestern ging es ihm doch gut.« Ich wußte, daß Feldwebel Schmidt den Krampus gespielt hatte. Er half auch dem Tichy manchmal.

»Naja, nach der Vorstellung hatte Feldwebel Schmidt eine Art Unfall. Anscheinend war sein Krampus-Schweif mit einem langen Nagel hinten an seiner Strumpfhose befestigt. Er hätte sich in dem Kostüm nicht hinsetzen dürfen. Leider hat er das vergessen.«

Ich saß einen Augenblick still da und sah sie an. Dann schüttelte ich mich vor Lachen. »Ich wette, diesen Fehler macht er nie, nie wieder.« Mutter bemühte sich kurz, ernst zu bleiben, doch dann platzte auch sie heraus. Vor Lachen fast am Ersticken, meinte sie, daß Schmidt sich nächstes Jahr kaum noch einmal freiwillig für den Krampus melden werde. Sie trocknete ihre Augen mit einem Taschentuch. »Der arme Mann«, seufzte sie und kämpfte um ihre Fassung. Dann fuhren wir los, um die alten Leute zu unterhalten.

Der lange Weg nach Hause

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