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Kalksburg

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»Was hast du für ein Glück, Kurti, mit dieser schönen Umgebung und der großartigen neuen Schule, die dich erwartet!«

Fräulein Alices Stimme riß mich aus meinen Gedanken, während wir durch die südlichen Vororte Wiens fuhren.

»Das stimmt«, fügte Großvater hinzu, »aber wir werden auch einsam sein ohne ihn, nicht wahr, Purzel?«

In Kalksburg gab es so viele Buben, daß ich Einsamkeit nicht zu fürchten brauchte. Ich würde ganz einfach einer mehr sein, wie alle anderen auch. Peter Mayer und Rudi Fugger, meine engsten Freunde, gingen zwar nicht hier in die Schule, dafür aber traf ich ein paar andere Klassenkollegen wieder. Fräulein Alice hatte recht. Ich hatte Glück. Vor mir lag ein neuer Lebensabschnitt, zum erstenmal außerhalb der vertrauten häuslichen Regeln. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, was Fräulein Alice ohne mich tun sollte. Ihr und natürlich Purzel galt meine natürliche Zuneigung, sie waren bisher meine Stützen gewesen.

Das Auto war kaum zum Stillstand gekommen, als ich hinaussprang und auf den Eingang der Schule zurannte. Kurz nur drehte ich mich nach Großvater um – und prallte voll in einen schwarzen Talar.

»Nicht so schnell, mein Sohn! In dem Tempo kann deine Familie nie mit dir mithalten.«

Ich stand vor dem Generalpräfekten der Schule, Pater Hugo Montjoye. Man tauschte Höflichkeiten aus und Fahrer Stephan brachte meinen Koffer in einen der Schlafsäle. Dort trennten hohe Holzwände die Schlafabteile voneinander, auf jeder Seite der Betten blieb gerade genug Platz für einen Kleiderkasten und eine kleine Kommode. Zum Gang hin konnte ein Vorhang vorgezogen werden. Das Anstaltsgrau der Wände samt erbarmungslos kaltem Licht trug nicht wirklich zu einer freundlichen Atmosphäre bei. Fräulein Alices Fröhlichkeit verriet, daß sie über eine derartige Nüchternheit überrascht war. Vater hatte mir das Jesuitenkolleg seiner Kindheit, die »Stella Matutina« in Feldkirch, wiederholt beschrieben und mich gefragt, ob ich einmal in einem solchen Rahmen auf mich allein gestellt sein möchte. Ich hielt das für ein Abenteuer und stimmte zu.

Aber gleich die erste Mahlzeit in Kalksburg wurde zu einem ernüchternden Schock. Ich nahm den mir zugewiesenen Platz auf einer hölzernen Bank ein. Wir dankten Gott für die Mahlzeit. Mein Nachbar hielt mir eine Schüssel hin. Ich betrachtete den Inhalt. Grießbrei! Ich stöhnte innerlich, diesen mit Brocken durchsetzten Papp haßte ich noch mehr als Schokolade. Das fing ja gut an! Automatisch drehte ich mich um, wollte die Schüssel weitergeben. Doch ehe ich sie noch loslassen konnte, kam eine laute Stimme vom Kopf des Tisches.

»Halt!«

Alle Buben hielten den Atem an, Gabeln und Gläser hingen in der Luft. Unser Präfekt, Pater Zerlauth – von ihm kam die Stimme – sagte eindringlich: »Du wirst den Grießbrei essen, Kurt.«

Noch ein schlechtes Zeichen. Er kannte bereits meinen Namen. Alle Blicke waren auf mich gerichtet. Mir gelang es, ruhig herauszubringen: »Aber Pater, davon wird mir schlecht.«

»Es gibt hungernde Kinder in China, die sich nach einem Grießbrei sehnen.«

Diesen Gewissensappell kannte ich. Aber den Mut zu erwidern, »sie können meinen haben«, hatte ich doch nicht. Ich aß, wie alle anderen, den Grießbrei und was uns sonst noch als »eßbar« vorgesetzt wurde.

Das war Lektion Nummer eins …

Bald darauf wurde mir noch einmal die zweifelhafte Ehre zuteil, während des Essens angesprochen zu werden. Pater Montjoye stand unerwartet auf, klopfte an sein Glas und bat um Ruhe. Hunderte Köpfe drehten sich zu ihm.

»Heute ist eine große Kiste Orangen aus Bozen angekommen.« Während die Kiste von zwei stämmigen Arbeitern auf seinen Tisch gestellt wurde, fuhr er fort: »Ich lese jetzt die Karte vor, die dabei liegt: ›Für meinen Enkel Kurt von Großvater.‹ Also danken wir alle Kurt von Schuschnigg, daß er diese köstlichen Orangen mit uns teilt.« – »Danke, Kurt«, hallte es im Chor durch den Speisesaal. Ich war glücklich, daß mein Großvater (mütterlicherseits) an mich gedacht hatte, und wartete auf die Verteilung des Obstes. Als die Kiste aber unseren Tisch erreichte, war sie schon leer.

Das war Lektion Nummer zwei …

Die Messe um sechs Uhr morgens war ein weiterer Bestandteil des Lebens in Kalksburg. Ich war überzeugt, daß der liebe Gott nicht darauf bestand, uns so früh zu sehen. Nur die wenigen Nichtkatholiken waren von der Messe und den Pflichten des Ministrierens befreit. Nach dem Frühstück – Brot, Butter, Tee – richtete sich alle Aktivität des Tages, vom Lernen bis zu körperlicher Ertüchtigung, auf ein Ziel aus, die Stärkung oder Abhärtung auch der verweichlichsten Schüler. Die Jesuiten wußten wohl, daß manche Söhne mehr verwöhnt wurden als andere. Verwandtenbesuch wurde nur einmal im Monat genehmigt. Man sah solche Strenge als unabdingbar, um eine gesunde Unabhängigkeit der Zöglinge zu entwickeln. In meinem Fall teilten sich Großvater und Fräulein Alice diese Besuchstermine. Früher oder später haben wir uns alle angepaßt. Mir gelang das sogar recht bald. Noch ehe ich an Weihnachten gedacht hatte, war es soweit. Aus dem von Fräulein Alice schon im November angekündigten Skifahren mit Vater in Obladis, einem ruhigen Skigebiet in der Nähe von Landeck, wurde aber leider nichts. Wieder einmal war die politische Lage nicht danach. Die Enttäuschung war um so größer, als ich Vater seit September nicht mehr gesehen hatte. In Wien waren wir zwar auch zusammen, aber Zeit würde Vater da nicht für mich haben, wie überhaupt Freizeit für ihn längst zum Fremdwort geworden war. Alles hing irgendwie mit seiner Arbeit zusammen. Und saß er einmal, selten genug, ohne Minister- oder Beamtenanhang zuhause, so redigierte er seine Reden oder pflegte seine ausgedehnte Korrespondenz.

Im Oktober 1936 hatten Deutschland und Italien die »Achse« Rom-Berlin in einem Abkommen formalisiert, und einen Monat später kam der »Anti-Komintern-Pakt« zwischen Deutschland und Japan zustande. Ende des Jahres stand Österreich endgültig ohne Garantie-Macht da.

Nach einem weiteren halben Jahr in Kalksburg, das erstaunlicherweise wie im Flug verging, waren wieder Sommerferien. Fräulein Alice und ich brachen nach St. Gilgen auf – ohne Vater, den wir im Laufe dieses Sommers 1937 noch weniger als sonst zu Gesicht bekamen. Um so weniger störte es mich, als ich im Herbst das geregelte Kalksburger Gymnasiastenleben wieder aufnahm. Es war so, wie wenn man ein bequemes, altes Paar Schuhe neuerlich anzieht.

Als die Weihnachtsferien kamen, tauchte wie immer Fräulein Alice auf, betrachtete meinen bereitstehenden Koffer und fragte fröhlich: »Schauen wir einmal, was du mitnehmen willst.« Im zweiten Jahr meiner »Selbständigkeit« wehrte ich mich gegen solche Bevormundung und ließ sie das auch spüren.

»Natürlich kannst du auch selbst packen, aber du weißt nicht, daß wir nach St. Anton fahren.«

»Skifahren?«

»Richtig, Skifahren«, sagte sie lachend, während ich beschämt den Inhalt des Koffers auf den Boden kippte. Wir fingen von vorne an.

Zum Abendessen in Wien hatte Liesl keine Mühen gescheut, meine Lieblingsspeisen zu kochen. Ich stürzte mich auf den Tafelspitz und die köstlichen Salzburger Nockerln zum Dessert.

»Fräulein Alice, fährt Vater dieses Mal mit?«, fragte ich, aus Erfahrung recht besorgt.

»Ja natürlich, das ist die Idee des Ausflugs, dummer Bub. Wir werden im selben Zug fahren. Der Regierungswaggon wird an den Nachtzug angehängt. Da kann dein Vater mit seinen mitreisenden Ministern im Zug arbeiten, und es bleibt ihnen hoffentlich etwas mehr Freizeit in St. Anton. Das ist für sie alle wichtig, besonders für deinen Vater. Ich glaube nicht, daß er zuletzt mehr als vier Stunden pro Nacht geschlafen hat.« Sie seufzte. Die bessere Neuigkeit war, daß mein Freund Rudi Fugger auch in St. Anton sein würde.

Die Bahnfahrt von Wien aus dauerte ungefähr zehn Stunden. Das Dritte-Klasse-Abteil, in dem Fräulein Alice und ich fuhren, machte mir nichts aus. Ich wäre auch im Gepäckwagen gereist, wenn nur Vater im Zug war. Ein kalter Windstoß traf uns, als wir in St. Anton ausstiegen und in eine Winterlandschaft wie im Märchen traten, soweit das Auge reichte von Schnee bedeckte Berge und Bäume. Der Bahnhof und die wartenden Schlitten waren mit Stechpalmenzweigen festlich geschmückt. Schnüre mit Glöckchen an den Geschirren der Pferde klingelten, sooft eines mit dem Huf aufstampfte oder die Mähne schüttelte. Über den Eingangstoren des legendären Hotels Post hingen Girlanden aus Tannenzweigen mit breiten roten Schleifen. Nach nur wenigen Minuten, die ich zum Auspacken in der Dependance des Hotels brauchte, machte ich mich auf die Suche nach Rudi. Schnell um eine Ecke biegend, rannte ich fast in ihn hinein.

»Jemand hat sich bei den Reservierungen sehr bemüht. Ich bin im Zimmer neben dir.« – Nichts, was auch im entferntesten wie eine Begrüßung klang. Typisch Rudi!

»Ich weiß. Und Fräulein Alice ist auf der anderen Seite.«

»Was? Brauche ich ein Kinderfräulein?«

»Du weißt, Rudi, daß man uns nicht allein in der Dependance wohnen läßt. Was hast du erwartet?«

Fräulein Alices Dazutreten unterbrach unser Gespräch. Sie hatte wohl alles gehört, ließ es sich aber nicht anmerken.

»Da bist du ja, Rudi. Gut. Jetzt werden wir dich gleich in deinem Zimmer einrichten.« Rudi sah mich von der Seite an. Ich erwiderte seinen Blick und hob die Augenbrauen. Wir würden ja sehen.

Fräulein Alice hatte für uns einen Skikurs mit zwei jungen Skilehrern vereinbart, die gerade anfingen, sich als Rennläufer einen Namen zu machen, Hannes Schneider und Rudi Matt. Der graziöse aber schwierige »Telemark«-Stil der Generation von Oberstleutnant Bartl galt inzwischen als altmodisch. Auch er mußte sich dem Trend zum schnellen Skifahren anpassen. Und noch eine neue Entwicklung gab es: Skijöring. Fräulein Alice hatte das Thema von sich aus angeschnitten und uns klar gemacht, daß das a) gefährlich sei und b) unsere Teilnahme daran nicht in Frage komme. Rudi widersprach sofort: »Sogar Hirnlose können ein Seil halten. Das Auto macht die Arbeit und zieht die Ski.«

»Nein!«

Ohne mit der Wimper zu zucken, änderte Rudi seine Taktik: Dürfte er wenigstens allein nach Hause gehen? Unser Kurs ende praktisch neben dem Hotel. Deswegen hatte wohl auch Fräulein Alice der unschuldig scheinenden Bitte nichts entgegenzusetzen.

Am folgenden Nachmittag, wir schulterten gerade unsere Ski, hielt ein brandneues amerikanisches Auto neben uns, ein glänzender Buick Kombi mit Holztäfelung. Wir bewunderten ihn noch, als Graf Ludwig Salm und seine Frau, die amerikanische Erbin Millicent Rogers, ausstiegen.

»Onkel Ludi!«, brüllte Rudi und winkte mit seiner freien Hand.

Onkel Ludi winkte zurück. »Grüß dich, Rudi, grüß dich, Kurti! Warum rennt ihr da herum, anstatt Ski zu fahren?«

Ohne zu zögern, bastelte Rudi eine Geschichte zusammen.

»Lustig, daß du fragst, Onkel Ludi. Wir warten auf jemanden, der mit uns Skikjöring machen soll, aber der kommt nicht daher.«

Mir blieb vor Schreck der Mund offen.

»Ist das so?« – Es war mehr ein Kommentar als eine Frage. Onkel Ludi schaute mich an. Ich konnte nur nicken.

»Wir sind auf dem Weg nach St. Christoph zum Tee. Wollt ihr euch nicht ans Auto anseilen und mitfahren?«

»Nichts lieber als das!«

Hier schaltete sich Onkel Ludis Frau ein. »Ludi Darling«, warf sie ein, »hältst du das für eine gute Idee? Es ist doch ein ziemlich gefährlicher Sport.«

Er sah seine Frau an, dann uns, dann wieder sie.

»Aber mein Engel, Rudi sagt, sie haben das schon einmal gemacht. Nicht wahr, Burschen?«

»Oft, Onkel Ludi!«

Rudi reagierte prompt. Für meinen Teil war ich nicht so geschickt im Schwindeln und konnte bloß weiter nicken.

»Gut«, sagte Onkel Ludi und klopfte jedem von uns auf den Rücken. »Siehst du, Schatz? Sie sind praktisch Profis und möchten sich nur ein bißchen amüsieren. Wie können wir da nein sagen?«

Den gesunden Menschenverstand seiner Frau ignorierend, drehte er sich zu uns: »Schnallt eure Ski an.« Er verknotete die Seile an der hinteren Stoßstange. Warum er Seile im Kofferraum mitführte? Ich konnte mir Tante Millicent nicht recht beim Skijöring vorstellen und vor allem nicht, daß sie Onkel Ludi das erlaubt hätte. Rudi und mich mußte man nicht zweimal auffordern. Schnell schnallten wir die Ski an. Ich hatte ein eher mulmiges Gefühl bei der Sache. Was, wenn Fräulein Alice davon erführe? Zu Rudi meinte ich nur: »Fräulein Alice würde dich einen geschickten Manipulanten nennen.« Vollkommen unbeeindruckt sah er mich an: »Und wer profitiert davon?«

»Seid ihr bereit, Burschen?«, rief Onkel Ludi aus seinem Fenster.

»Bereit, Onkel Ludi!«, hallte es im Duett zurück.

Schneller als man »Dummheit« sagen kann, ging es los. Tante Millicent hatte sich in ihrem Sitz umgedreht und schaute besorgt nach hinten. Ich ignorierte das, schon deshalb, weil ich alle Konzentration aufbringen mußte, das Gleichgewicht zu halten. So sehr Onkel Ludi im Schneckentempo fuhr, kam es uns doch vor, als ginge es mit mindestens 100 km/h durch die Kurven. Ich begann gerade, mich ein bißchen wohler zu fühlen, als Rudi absichtlich und ohne Vorwarnung seitlich in mich hineinfuhr, um mit lautem Lacher wieder auf seine Seite zurückzurutschen. Hätte ich riskieren können, eine Hand vom Seil zu nehmen, hätte er eine Ohrfeige bekommen. Nur unter größter Anspannung blieb ich aufrecht. Während ich auf Rache sann, hörten wir Tante Millicent. »Stop that!«, rief sie nach hinten und drohte uns mit dem Finger. Ausnahmsweise folgten wir. Als das Auto vor dem Hotel in St. Christoph hielt, waren die Seile in meinen Händen steif gefroren. Lag es nur an der Kälte oder doch am Schrecken, der uns noch im nachhinein packte? Immerhin stellte ich mit Genugtuung fest, daß es Rudi nicht anders erging. Und dennoch, es war die Fahrt unseres Lebens gewesen.

»Siehst du, Millicent, Skijöring-Profis!«

Onkel Ludi sprang aus dem Auto.

»Gut gemacht, Burschen! Hat es euch gefallen?«

Aus unseren gefrorenen Lippen kam soviel Zustimmung wie möglich, aber unser Enthusiasmus war nicht zu übersehen.

»Kommt«, sagte er lachend, während er die Seile aufknotete und uns aus den Skiern half. »Legt alles ins Auto, dann kommt herein zum Tee.« Er nahm Tante Millicents Arm und führte sie ins Hotel. In einem war ich sicher: zurück im Auto!

Als wir dann in St. Anton beim Hotel Post vorfuhren, hoffte ich nur, unentdeckt in mein Zimmer schleichen zu können und hatte deshalb Onkel Ludi gebeten, uns beim Haupteingang aussteigen zu lassen, nicht bei der Dependance. – Umsonst. Schon von weitem sahen wir Fräulein Alice. Unser Skikurs, in dem sie uns vermutet hatte, war seit zwei Stunden zu Ende. Ich wollte nicht raten, wie lange sie schon in der Kälte gewartet hatte. Rudi und ich sahen uns an und Fräulein Alice stellte sich den Salms vor.

»Das war ein sehr schöner Nachmittag, nicht wahr, Burschen?«

»Oh ja«, antworteten wir und bemühten uns, unsere Ski aus dem Kofferraum herauszuholen. Jetzt tat ein Wunder not, eines, in dem Fräulein Alice nichts von unserem Skijöring erfahren würde.

Tante Millicent entschuldigte sich: »Wie gedankenlos von uns, daß wir die Buben nicht angehalten haben, Sie anzurufen. Es tut mir so leid.«

In der Hoffnung, auch das kürzeste Gespräch zwischen den Salms und Fräulein Alice zu verhindern, sprudelte es aus mir heraus: »Fräulein Alice, Onkel Ludi und Tante Millicent haben uns nach St. Christoph zum Tee mitgenommen. Rudi und ich haben drei verschiedene Sorten Kuchen gegessen, aber das macht nichts, wir könnten noch immer eine ganze Kuh essen, so hungrig sind wir.« Klapper, klapper – in meinem verzweifelten Ablenkungsmanöver ließ ich Ski und Stöcke fallen. Fräulein Alice bückte sich, um mir zu helfen, als Onkel Ludi sich unglücklicherweise entschloß, mit unseren Heldentaten anzugeben. »Ich wette, Sie wußten nicht, was für Skijöringexperten die Buben sind.«

Schneller als ich blinzeln konnte, sagte Rudi, der Feigling, danke, warf Ski und Stöcke an eine Wand und verabschiedete sich in Richtung Dependance. Ich wagte nicht, Fräulein Alice in die Augen zu schauen. Sie dankte den Salms und verlor, was ich ihr hoch anrechnete, kein Wort darüber, daß mir Skijöring verboten worden war.

»Gib mir die Ski, Kurt.«

Sie sagte Kurt – das war nicht gut. Ich folgte und wich weiter ihrem Blick aus. Entkommen konnte man ihr ohnehin nicht.

»Bleib stehen! Schau mich an.«

Das war noch schlechter, sehr schlecht sogar.

»Du weißt, daß das, was du heute getan hast, äußerst falsch war. Gelt?«

»Fräulein Alice, alles, was wir gemacht haben, war …«

Ich wurde sofort unterbrochen: »Das ist keine Diskussion über den Rudi. Mir ist wichtig, daß du tust, was du tun sollst, und nicht tust, was du nicht tun sollst. Komm mit.«

Ich folgte ihr eingeschüchtert bis zu Rudis Tür. Er muß sein Ohr dagegen gedrückt haben, denn er öffnete sofort, als Fräulein Alice anklopfte. Nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen war klar, daß er mich allein erwartet hatte.

»Rudi, ich habe es Kurt gesagt, und jetzt sage ich es auch dir. Es ist Kurt streng verboten, wieder Skijöring zu fahren. Ist das klar?«

»Ja, Fräulein Alice.«

Er war schlau genug, demütig zu schauen.

»Und bevor du oder Kurt«, wieder schaute sie mich direkt an, »auch nur überlegt, ohne mein Wissen irgendwohin zu gehen, denkt ihr besser daran, was für Folgen das hat. Ist auch das klar?«

»Ja, Fräulein Alice«, sagten wir unisono. Die unmißverständliche Drohung, sich an seine Mutter zu wenden, war das einzige durchschlagskräftige Mittel gegen Rudi.

»Sehr gut. Und jetzt zieht euch beide zum Abendessen um.«

Sie verschwand in ihrem Zimmer. Rudi und ich schauten uns gequält an. Er seufzte leise und tat so, als wischte er sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Ich stieß ihn an und sagte kaum hörbar: »Feigling!« Er runzelte die Stirn und zuckte mit den Schultern. Das war noch einmal gut gegangen. Wir gingen in unsere Zimmer und tauchten bald wieder auf: umgezogen und blitzblank, wohlerzogene Buben. Fräulein Alice war wirklich sehr gut in ihrem Job.

Der lange Weg nach Hause

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